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Familienrechtspsychologie – Teil 1 – Eine Welt im Wandel

Familienrechtspsychologie - Eine Welt im WandelUnsere Welt, unsere Kultur und Gesellschaft, und damit auch unsere Familien … alles verändert sich um uns herum. Und es verändert sich alles sehr schnell – oft auch schneller, als Gesetze dies im Nachhinein abbilden können. Schneller manchmal, als wir selbst es begreifen.

Was gestern noch als Normalfall durchging, ist heute eine Variante unter vielen. Was früher selbstverständlich schien, wird heute hinterfragt, neu verhandelt und auch neu gedacht.

Wenn du diesen Beitrag hörst oder siehst, dann wahrscheinlich deshalb, weil du dich gerade mit diesem Thema – familienpsychologische Gutachten – auseinandersetzen musst. Ich möchte dir gerne dabei helfen, die komplexen psychologischen Zusammenhänge hinter familienrechtlichen Konflikten zu verstehen – nicht aus der Distanz eines Lehrbuchs, sondern aus der Nähe dessen, der selbst mittendrin steht.

Die Familienrechtspsychologie ist ein Fach, das sich ständig weiter bewegt und auch bewegen muss. Sie muss mithalten mit

  • all den gesellschaftlichen Entwicklungen,
  • mit neuen Familienformen,
  • mit sich ständig veränderten Rollenbildern.
  • Sie muss reagieren auf höchstrichterliche Entscheidungen und neue Gesetzgebung.
  • Und sie muss dabei immer eines besonders im Blick behalten: das Wohl der Kinder, die in diesen Konflikten oft zwischen allen StĂĽhlen sitzen.

Deshalb ist es auch kein Zufall, dass der Gesetzgeber inzwischen ausdrücklich fordert, dass Familienrichter über belegbare Grundkenntnisse der Psychologie verfügt, insbesondere über die Entwicklungspsychologie des Kindes. Und das ist alles andere als eine reine Formalität. Es ist eine Anerkennung der Tatsache, dass juristische Kompetenz allein nicht ausreicht, wenn es um das Schicksal von Kindern und Familien geht.

Ich lade dich deshalb ein, mit mir durch die Grundlagen dieses Faches zu gehen – Schritt für Schritt, ohne falsche Vereinfachungen, aber auch ohne unnötige Komplikationen. Was du hier findest, soll dir in der Praxis helfen und dir auch eine Orientierung geben, wenn du vor schwierigen Entscheidungen stehst. Und es soll dir das Rüstzeug liefern, um die psychologischen Dimensionen familienrechtlicher Konflikte wirklich zu verstehen.

Beginnen wir mit dem ersten Kapitel:

1. Familienrechtspsychologie als Spezialfach

Worum es eigentlich in der Familienrechtspsychologie geht

Stell dir eine Familie vor. Vielleicht besteht sie aus zwei Eltern, einem Kind oder eventuell mehrere. Was eine typische Familie ausmacht, ist: sie haben eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Erinnerungen, ein gemeinsames Zuhause. Aber in unserem Falle passiert etwas. Eine Trennung. Ein Streit, der eskaliert. Ein Konflikt um das Kind, der sich immer mehr verhärtet.

Und genau hier setzt die Familienrechtspsychologie an. Sie beschäftigt sich mit dem Erleben und Verhalten von Menschen, wenn familiäre Beziehungen zuerst aufgebaut, später aber zusammenbrechen oder neu organisiert werden – und zwar dann, wenn deren Konflikte so gravierend sind, dass das Recht / der Staat per Gesetz eingreifen muss.

Das klingt trocken, ich weiĂź. Aber denk einmal darĂĽber nach, was das fĂĽr uns nun konkret bedeutet:

  • Immer geht es um ein Kind, das zwischen zwei streitenden Eltern steht und auf einmal gefragt wird, bei wem es denn nun leben möchte.
  • Es geht um Eltern, die so verletzt sind, dass sie nicht mehr miteinander sprechen können, aber trotzdem gemeinsam Entscheidungen fĂĽr ihr Kind treffen mĂĽssen.
  • Aber auch um GroĂźeltern, die um den Kontakt zu ihrem Enkel kämpfen.
  • Oder ein Jugendamt, das entscheiden muss, ob ein Kind in seiner Familie sicher ist.

Die Familienrechtspsychologie schaut auf alle diese Beteiligten. Sowohl auf die Kinder mit ihren Ängsten und Hoffnungen und auch auf die Eltern mit ihren Verletzungen und Bewältigungsstrategien. Aber auch auf die Professionellen: die Richter, die Jugendamtsmitarbeiter, die Gutachter. Denn auch deren Handeln ist psychologisch verstehbar und – seien wir ehrlich – auch menschlich fehleranfällig.

Warum steht der Abbau von Beziehungen im Mittelpunkt? Weil hier die Konflikte am intensivsten werden. Wenn Menschen sich trennen, wenn Familien auseinanderbrechen, dann werden praktisch alle Ressourcen knapp – Zeit, Geld, emotionale Kraft.

Dann prallen völlig unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander. Dann müssen Entscheidungen getroffen werden, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Und das überfordert oft alle Beteiligten.

2. Die Wurzeln der Familienrechtspsychologie

Die Familienrechtspsychologie ist kein isoliertes Fach. Sie steht auf mehreren Schultern: der Rechtspsychologie, der Familienpsychologie und dem Familienrecht selbst.

Wenn du diese Grundlagen verstehst, dann verstehst du auch, warum das Fach so ist, wie es ist – mit all seinen Stärken und Spannungen.

Die Rechtspsychologie: Wo Psyche und Recht sich treffen

Die Rechtspsychologie ist älter, als du jetzt vielleicht denken magst. Schon Ende des 18. Jahrhunderts begannen Wissenschaftler damit, sich systematisch mit der Frage zu beschäftigen, wie Menschen das Recht erleben, warum sie es befolgen oder brechen, wie sich Zeugen erinnern und wie letztendlich die Richter urteilen.

Im Kern geht es um eine recht einfache Einsicht: Das Recht regelt menschliches Verhalten. Aber um Verhalten zu regeln, muss man auch verstehen, was die Menschen so antreibt. Wie sie denken, fühlen und sich entscheiden. Gesetze können noch so präzise formuliert sein … wenn sie an der psychologischen Realität der Menschen vorbeigehen, dann bleiben sie wirkungslos oder schaffen gar neue Probleme.

Denk nur mal an das Familienrecht: Hier stecken in jedem Gesetz Annahmen ĂĽber menschliches Verhalten.

  • Die Idee, dass Eltern nach einer Trennung kooperieren können.
  • Die Vorstellung, dass ein Kind einen eigenen Willen hat, der gehört werden muss.
  • Die Ăśberzeugung, dass bestimmte Verhaltensweisen dem Kindeswohl schaden.

All das sind psychologische Annahmen. Aber diese können sowohl richtig oder auch komplett falsch sein. 

Rechtspsychologie hat viele Aufgaben: Sie hilft dabei, geltendes Recht umzusetzen. Zum Beispiel durch eine sachgerechte Begutachtung in einem Sorgerechtsverfahren. Sie analysiert, wie Menschen im Rechtssystem agieren – vom Richter bis zum Zeugen. Und sie untersucht, welche psychologischen Annahmen dem Recht zugrunde liegen und ob diese haltbar sind.

3. Zwei Welten, die aufeinandertreffen

Wenn Psychologen und Juristen zusammenarbeiten, dann prallen auch schon mal zwei völlig verschiedene Denkweisen aufeinander. Das kann fruchtbar sein, oft auch frustrierend. Die Lösung hierbei aber ist, dass man sich bemüht, die Unterschiede zu verstehen und zu respektieren.

Der Jurist denkt in Kategorien: schuldig oder nicht schuldig, zulässig oder unzulässig, dem Kindeswohl entsprechend oder nicht. Er braucht immer die klaren Antworten, weil er Entscheidungen treffen muss. Der Richter kann nicht sagen: Es könnte sein, dass die Aussage des Kindes glaubhaft ist, aber es könnte auch sein, dass sie es nicht ist. Er muss entscheiden.

Der Psychologe auf der anderen Seite denkt jedoch in Wahrscheinlichkeiten. Er weiß, dass menschliches Verhalten selten eindeutig ist. Dass es immer auch Graustufen gibt. Dass selbst gut abgesicherte Erkenntnisse nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zutreffen. Er sagt: Die Forschung zeigt, dass Kinder in solchen Situationen häufig so reagieren – nicht: Dieses Kind wird so reagieren.

Und diese Unterschiede führen zu einem tiefliegenden, strukturellen Dilemma. Der Psychologe als Gutachter in einem familiengerichtlichen Verfahren steht zwischen zwei Welten: Einerseits ist er Vertreter seines Faches mit all seinen Differenzierungen und Einschränkungen. Andererseits, aber er ist auch Teil des Rechtssystems und muss dessen Regeln folgen. Er muss sich dabei immer wieder neu entscheiden, ob er die Komplexität seiner Erkenntnisse ausschöpft oder sie auf die reine Ja-Nein-Logik des Rechts reduziert.

Und dann gibt es noch einen weiteren Unterschied, der oft unterschätzt wird: Das Recht ist dogmatisch, die Psychologie empirisch. Für einen Juristen zählt immer zuerst, was im Gesetz steht und wie es in Kommentaren und höchstrichterlichen Entscheidungen interpretiert wird. Der Psychologe dagegen kann die verschiedensten Theorien heranziehen, unterschiedliche Methoden anwenden und damit auch immer zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Und all das kann auch wissenschaftlich legitim sein.

Für viele Richter ist das aber auch recht beunruhigend. Denn, wie soll er denn entscheiden, wenn zwei Gutachter unterschiedlicher Meinung sind? Wie soll er beurteilen, welche psychologische Theorie wirklich die beste und zutreffendste ist? Hier braucht es Verständnis auf beiden Seiten: Der Richter muss lernen, mehr mit Wahrscheinlichkeiten zu denken, und der Psychologe seinerseits, seine Erkenntnisse so zu kommunizieren, dass sie für die Rechtspraxis irgendwie brauchbar sind.

4. Die Familie verstehen: Mehr als die Summe ihrer Mitglieder

Die Familienpsychologie liefert der Familienrechtspsychologie ihr inhaltliches Fundament. Sie fragt sich so grundsätzliche Fragen wie z.B.: Wie funktionieren Familien? Wie kommunizieren sie? Wie entwickeln sie sich? Und was passiert, wenn diese Entwicklung dann aus dem Ruder läuft?

Dabei ist schon die Frage, was eine Familie überhaupt ist, alles andere als trivial. Das klassische Bild – Mutter, Vater, Kind – ist längst nur noch eine Variante unter ganz vielen. Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, Alleinerziehende, Pflegefamilien, Familien mit Kindern aus Samenspende oder Adoption – die Realität ist vielfältig, und sie wird immer vielfältiger.

  • Soll Verwandtschaft das neue entscheidende Kriterium sein? Dann wären Adoptivfamilien keine richtigen Familien.
  • Soll es das subjektive GefĂĽhl der Zugehörigkeit sein? Dann könnte theoretisch jede Wohngemeinschaft eine Familie sein.

Das Recht tut sich hier sehr schwer mit dieser neuen Vielfalt, denn es braucht klare Definitionen. Aber die Psychologie muss halt mit dem arbeiten, was ihr die Realität anbietet. Hilfreich für die Praxis ist folgender Ansatz, der Familien als ein intimes Beziehungssystem versteht. Dabei zeichnen sich Familien durch vier Merkmale aus:

  • Sie grenzen sich von anderen ab und gestalten ihr Leben nach eigenen Regeln.
  • Sie teilen einen privaten Lebensraum.
  • Ihre Gemeinschaft ist auf Dauer angelegt.
  • Und sie praktizieren körperliche, geistige und emotionale Nähe.

Diese Definition ist weit genug, um die vielen Formen moderner Familien zu erfassen. Aber wiederum auch präzise genug, um für die gerichtliche Praxis brauchbar zu sein. Sie macht auch deutlich, warum eine Trennung immer auch so schmerzhaft ist: Hier wird ein intimes Beziehungssystem zerrissen, ein Raum der zwischenmenschlichen Nähe und Zugehörigkeit zerstört. Und so etwas geht niemals schmerzlos vonstatten.

5. Das Recht: Zwischen Schutz und Einmischung

Das Familienrecht ist das Gebiet, das sich im juristischen Bereich am stärksten verändert hat in den letzten Jahrzehnten. Und das ist beileibe kein Zufall: Weil es den gesellschaftlichen Wandel abbilden, auf neue Lebensformen reagieren, und alte Gewissheiten über Bord werfen muss.

Denk doch nur mal an die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte:

  • Das Scheidungsrecht wurde vom Schuldprinzip auf das ZerrĂĽttungsprinzip umgestellt.

  • Die Stellung nichtehelicher Kinder wurde grundlegend verbessert.

  • Das Adoptionsrecht fĂĽr gleichgeschlechtliche Paare wurde geöffnet.

  • Das gemeinsame Sorgerecht auch fĂĽr unverheiratete Eltern wurde gestärkt.

  • Die Rechte des biologischen Vaters wurden ausgeweitet.

Hinter all diesen Veränderungen steckt ein fundamentaler Perspektivwechsel: weg vom Fokus auf die Rechte der Eltern und konsequent hin zum Kindeswohl als zentraler Maßstab alle familiengerichtlichen Fragen. Das Kind ist nicht mehr ein Objekt reiner elterlicher Verfügungsgewalt, sondern wird damit ein Subjekt mit eigenen Rechten und Bedürfnissen. Dabei bewegt sich das Familienrecht nach wie vor in einem dauerhaften / permanenten Spannungsfeld:

  • Auf der einen Seite steht die Autonomie der Familie, geschĂĽtzt durch das Grundgesetz. Artikel 6 Absatz 2. Der Staat soll sich nicht einmischen, soll den Menschen nicht vorschreiben, wie sie ihr Familienleben zu gestalten haben.

  • Auf der anderen Seite hat der Staat aber auch ein Wächteramt – er muss eingreifen, wenn das Wohl eines Kindes gefährdet ist. BGB § 1666.

Und wo liegt hier nun die Grenze? Wann ist staatliches Eingreifen gerechtfertigt, wann ist es Übergriff? Das sind beileibe keine rein juristischen Fragen. Es sind Fragen, die psychologisch tiefes Fachwissen und auch Lebenserfahrung erfordern: Was brauchen Kinder für eine gesunde Entwicklung? Was schadet ihnen? Welche Risiken sind hinnehmbar, welche nicht?

6. Die WidersprĂĽche, mit denen wir einfach leben mĂĽssen

Wer in der Familienrechtspsychologie arbeitet, muss immer wieder mit Widersprüchen umgehen können, die sich scheinbar nicht auflösen lassen. Sie sind in das System eingebaut und es gibt keinen einfachen Weg, diese aufzulösen. Hier sind einige der wichtigsten:

  • Das Recht will die Familie regulieren. Aber …. es definiert gar nicht, was eine Familie wirklich ist. Es gibt im Familienrecht keinen einheitlichen Familienbegriff. Das fĂĽhrt zu Unsicherheiten und Grauzonen – und zu der Notwendigkeit, in jedem Einzelfall neu zu bestimmen, wer ĂĽberhaupt als Familie gilt.
  • Das Recht möchte, dass Familien ihre Konflikte selbst lösen. Aber es greift ein, wenn sie das nicht schaffen.

So ein Paradox kennt jeder Therapeut: Du kannst Menschen nicht zur Autonomie zwingen. Und doch versucht das Rechtssystem genau das – es reguliert die Selbstregulation.
Die Tendenz, den Beteiligten mehr Autonomie zu geben, führt dazu, dass weniger gesetzliche Vorgaben existieren. Das klingt auf den ersten Blick doch recht gut, oder? Mehr Freiheit, weniger Bevormundung ist doch erstrebenswert.  Aber für Menschen, die in einer Krise stecken, kann fehlende Struktur auch überfordernd sein. Die Freiheit, alles selbst zu entscheiden, wird zur Last, wenn man nicht weiß, wie man entscheiden soll.

  • Drittens arbeitet das Recht mit recht unbestimmten Begriffen wie Kindeswohl, die erst durch Interpretation beschrieben werden mĂĽssen. Das macht es zwar flexibel und anpassungsfähig – aber auch abhängig von der Kompetenz und den Ăśberzeugungen derjenigen, die es anwenden. Zwei Richter können denselben Fall völlig unterschiedlich beurteilen, ohne dass einer von ihnen gegen das Gesetz verstößt.

6.1. Das Ganze zusammendenken

Wenn wir all diese Fäden mit miteinander zusammenführen, dann ergibt sich so langsam ein immer klareres Bild davon, worum es in der Familienrechtspsychologie im Kern eigentlich geht. Wir könnten es recht gut mit einer Kette beschreiben, die vom Konflikt zur Intervention führt:

Am Anfang stehen erst mal die Konflikte in der Familie. Konflikte über Geld, über Zeit, über Erziehung, über alles Mögliche. Ich denke, dass die Themenliste hier unendlich ist.

Diese eskalieren und gefährden irgendwann die Beziehungen. Alle Beteiligten stehen dabei unter immer größerem Stress, Trennungsangst, Verlustangst, Wut, Verzweiflung. Alles starke Gefühle, die nur schwer zu kontrollieren sind.

Irgendwann übersteigt die Belastung die Bewältigungsfähigkeiten / die Copingstrategien der Beteiligten. Sie schaffen es nicht mehr, den Konflikt selbst zu lösen. Besonders problematisch wird es, wenn Kinder dabei mit involviert sind. Ihr Wohl ist dabei gefährdet und ihre Interessen werden oft im Eifer des Gefechts vergessen oder sogar von den erwachsenen Beteiligten instrumentalisiert.

Ung genau an diesem Punkt wird eine Intervention notwendig. Das Recht greift dann ein. Das geschieht durch das Familiengericht, durch das Jugendamt, durch Gutachter und auch Berater.

Und hier beginnt die eigentliche Arbeit der Familienrechtspsychologie: zu verstehen, was in dieser Familie passiert, was die Beteiligten brauchen, und wie eine Lösung aussehen könnte, die das Wohl aller – und besonders die der Kinder – im Blick behält.

6.2. Das Spannungsfeld zwischen einem Verstehen und einem richtigen Handeln

Eine Frage, die sich durch die gesamte familienrechtspsychologische Praxis zieht, ist folgende: Wie verhält sich Diagnostik im Vergleich zu einer Intervention? Soll der Gutachter nur untersuchen und feststellen, oder soll er auch eingreifen und verändern?

Die klassische Vorstellung war lange Zeit: Erst wird einmal in aller Ruhe diagnostiziert und danach interveniert. Der Gutachter stellt fest, wie es ist, und auf dieser Grundlage entscheidet dann das Gericht, was geschehen soll. Diagnostik als Momentaufnahme, als einer Art der Statuserhebung.

Aber diese Vorstellung ist zu einfach und wird der Realität einfach nicht gerecht! In Wahrheit lassen sich Diagnostik und Intervention nicht sauber trennen.

Allein schon die Tatsache, dass ein Gutachter in eine Familie kommt, Gespräche führt, Fragen stellt … bereits das verändert etwas in dem Familiengefüge. Die Beteiligten reflektieren ihre Situation. Sie sehen sich und ihr Verhalten durch neue Augen in einer anderen Perspektive. Und sie reagieren auf die Fragen des Gutachters. Diagnostik ist deshalb auch immer eine Form der Intervention. Das ist wie wenn ein Polizist nur Streife geht. Obwohl er nur kurz anwesend ist, ist seine Anwesenheit auch eine Intervention.

Das alles hat sich darum auch rechtlich niedergeschlagen: Der Sachverständige kann vom Gericht ausdrücklich beauftragt werden, bei der Begutachtung auf eine einvernehmliche Lösung hinzuwirken. Er wird damit zu einer Art Hybrid – halb Diagnostiker und halb Mediator. FamFG § 163 Absatz 2.

Das heißt nicht, dass die Diagnostik damit überflüssig wird. Ganz im Gegenteil: Ohne eine solide Diagnostik ist jede Intervention praktisch blind. Du musst verstehen, was los ist, bevor du eingreifst. Alles andere wäre komplett fahrlässig. Und der Einsatz – das Wohl unserer Kinder – ist für einen solchen Blindflug einfach zu hoch.

Die Kunst liegt darin, beides miteinander zu verbinden:

Zuerst mit einer gründlichen Bestandsaufnahme zu beginnen und danach in eine modifikationsorientierte Diagnostik überzugehen, die auf Veränderung zielt um schließlich lösungsorientiert zu arbeiten. Der einzig richtige Weg führt vom Verstehen zum Verändern. Aber immer in der richtigen Reihenfolge: Zuerst steht immer das Verstehen. Wie im richtigen Leben: „Erst die Socken, dann die Schuhe …“

In manchen Situationen bleibt allerdings keine Zeit für diesen schrittweisen Prozess. Wenn ein Kind akut gefährdet ist, dann steht Handeln im Vordergrund. Dann muss schnell entschieden werden, auch auf der Basis unvollständiger Informationen. Und leider gehört auch zur Realität der familienrechtspsychologischen Arbeit.

7. Wohin fĂĽhrt uns nun die Reise in der Familienrechtspsychologie?

Die Familienrechtspsychologie ist ein Fach, das ständig in Bewegung ist. Einige Tendenzen zeichnen sich jedoch ab, die du dabei im Hinterkopf behalten und kennen solltest:

  • Die Autonomie der Beteiligten wird immer weiter gestärkt. Das Recht zieht sich zurĂĽck und ĂĽberlässt es den Betroffenen mehr und mehr, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.

Das klingt zwar gut, schafft jedoch auch neue Probleme: Nicht alle haben die Ressourcen, diese Autonomie sinnvoll zu nutzen. Und wenn der Konflikt eskaliert, ist der Ruf nach dem Staat schnell wieder da.

  • Die auĂźergerichtliche Konfliktbeilegung gewinnt immer weiter an Bedeutung. Mediation, Beratung, einvernehmliche Lösungen – all das wird vom Gesetzgeber ausdrĂĽcklich gefördert. Das Gericht soll nicht mehr der erste Anlaufpunkt sein, sondern der letzte. Das erfordert aber auch entsprechende Angebote und Kompetenzen auĂźerhalb der Justiz.
  • Die Anforderungen an die Qualifikation steigen. Richter sollen psychologische Grundkenntnisse haben. Gutachten sollen Mindeststandards erfĂĽllen.

Auch das ist eine gute Entwicklung – aber sie muss auch mit entsprechenden Ausbildungs- und Fortbildungsangeboten unterfüttert werden.

  • Die öffentliche Aufmerksamkeit wächst weiterhin. Familienrechtspsychologische Themen werden in den Medien diskutiert, Gutachten werden kritisiert, Gerichtsverfahren hinterfragt.

Das kann einerseits nerven, aber es ist auch eine Chance: Es entsteht ein öffentliches Bewusstsein dafür, wie wichtig diese Arbeit ist – und wie folgenreich sie sein kann.

Ein Gedanke zum Schluss dieses Kapitels: Die Familienrechtspsychologie bewegt sich immer in einem Spannungsfeld

  • zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit und praktischer Notwendigkeit,
  • zwischen dem Respekt vor der Autonomie der Beteiligten und der Verantwortung fĂĽr das Wohl der Kinder,
  • zwischen dem Wunsch zu helfen und der Einsicht in die Grenzen des Helfens.

Wer in diesem Feld arbeiten will, der muss auch mit Unsicherheit umgehen können. Er muss Entscheidungen treffen, auch wenn nicht alle Informationen vorliegen. Er muss Verantwortung übernehmen, auch wenn die Konsequenzen ungewiss sind.

Das ist keine leichte Aufgabe. Aber es ist der einzig richtige Weg. 

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Meine Unterstützung als Beistand nach §13 SGB X und §12 FamFG :

  • Es ist durch das Gesetz klar  geregelt, dass sich jede Person im Familien-Verfahren sowohl vor den Ă„mtern als auch vor Gerichten (Ausnahme: alle finanziellen Angelegenheiten) durch einen Beistand begleiten lassen kann.

  • Diese Möglichkeit wird leider noch viel zu wenig genutzt, da sie auch in den Jugendämtern kaum bekannt und nicht gerade populär ist. Eigentlich nachvollziehbar, da sich die gesamte familiale Intervention einschlieĂźlich der Familiengerichte gerne im familiären Verfahren unter Ausschluss jeder Ă–ffentlichkeit bequem einrichtet.

    Buchen Sie sich gerne auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus