Mir ist kein diagnostizierter Borderliner bekannt, der nicht auch eine lange Trauma-Vergangenheit hat. Und in jedem Trauma stecken Angst und Handlungsohmacht. Depersonalisation – oder auch Abspaltung vom Ich – ist eine typische Notfallreaktion bei schlimmsten traumatischen Erlebnissen!
Jeder Mensch und jede Geschichte eines Menschen ist – für sich betrachtet – einzigartig. Viele kommen in die Therapiepraxen mit hängendem Kinn oder Schultern und obwohl noch kein einziges Wort miteinander gesprochen wurde, kann ein erfahrener Therapeut an der Körperhaltung sofort ablesen, dass er oder sie Angst vor einer Konfrontation mit seiner Umgebung hat. Wenn dann noch Wunden an den Unterarmen oder sonst wo am Körper sichtbar werden, erhält die „stumme Geschichte“ ein weiteres wichtiges Detail.
Was aber bringt solche Menschen dazu, sich mit derartig negativer Energie und Wut gegen den eigenen Körper zu richten?
Spätestens seit 1889 beschäftigt sich die Wissenschaft mit dem Thema Trauma und seinen Auswirkungen. Damals war es der französische Psychologe Pierre Janet, der eine Art Hamsterrad beschrieb, in dem Traumatisierte vergeblich versuchen, eine Handlung irgendwie zu Ende zu bringen, in der sie durch ein Trauma unterbrochen wurden.
War man vor 100 Jahren mit diesen Symptomen noch überfordert, so wissen wir heute, dass emotionale Misshandlungen und Vernachlässigung in jungen Jahren genauso katastrophal wirken können wie eine körperliche Misshandlung oder ein sexueller Missbrauch.
Dieser Zustand des „ich werde nicht gesehen, nicht anerkannt und kann mich nirgendwo sicher fühlen“ ist für jeden – ob jung oder alt – eine sehr problematische Erfahrung. Wir wissen heute aber auch, dass – je jünger ein Mensch damit konfrontiert wurde – desto tiefer sind seine „Spuren in der Seele“.
Und diese „Spuren in der Seele“, die durch Traumata und extreme Vernachlässigung entstehen, zeigen sich sehr oft in einem Verlieren des Körperkontaktes – eine andere Bezeichnung für Abspaltung.
Das Problem vieler Therapeuten liegt häufig darin, dass in ihrem Studium mehr Wert auf das Verstehen des Geistes aber weniger auf die Sprache des atmenden Körpers – der ja die eigentliche Grundlage unserer Existenz darstellt – gelegt wird.
In all den Jahren habe ich aber noch keinen einzigen Menschen mit einer Borderline Diagnose gesehen, dem nicht bewusst war, dass dieses Aufkratzen seiner Haut schädlich ist. Und trotzdem tun es viele (jedoch nicht alle!). Was steckt nun aber hinter diesem Phänomen, dieser Wut gegen den eigenen Körper?
Es fällt auf, dass viele Personen mit einer Borderline-Störung große Teile ihres Körpers einfach nicht spüren können. Bittet man so jemanden mal mit verschlossenen Augen zu erraten, was man in seine Hand legt, so kann er den Gegenstand oft nicht erkennen. Und was hat dies zur Folge?
Nun, wenn unsere Sinne nicht mehr richtig funktionieren, dann fühlen wir uns auch nicht mehr als lebendige Wesen. Und wenn man sich innerlich tot oder empfindungslos fühlt, wie kann dann solch ein traumatisierter Mensch wieder lernen, ganz einfache Signale wieder so zu integrieren, dass für ihn ein Leben im natürlichen Fluss mit den Gefühlen wieder möglich ist und er sich in seinem eigenen Körper wieder sicher und als ein Ganzes fühlen kann?
Die Frage „Wie kann ich spüren, dass ich lebe“ ist leicht gestellt aber gar nicht so einfach zu erklären. Vor 20 Jahren – im Jahre 2004 – hatte die heutige Professorin Dr. Ruth Lanius (Leiterin der Forschungsabteilung für PTBS an der University of Ohio) hierfür jedoch eine geniale Idee…
👉 Ihr völlig neuer Denkansatz: Warum soll immer nach dem gesucht werden, was während einer traumatischen Erinnerung im Gehirn falsch läuft? Könnten man sich nicht auch mal fragen, was im Gehirn passiert, wenn man gerade nicht (!) an das erlebte Trauma denkt? Oder anders ausgedrückt: Was macht unser Gehirn im sogenannten „Default State / Ruhezustand“? 👉 Die Antwort ist recht simpel: In diesem Zustand richtet sich unsere Aufmerksamkeit normalerweise auf das „Selbst“-Empfinden.
Gibt es nun aber einen Unterschied in den Gehirnströmen zwischen Traumatisierten und „Nicht-Traumatisierten“ Menschen? Ja, und zwar einen recht klaren: Bei „normalen Probanden“ werden Hirnbereiche aktiviert, die wie ein „Irokesenschnitt“ in der Mitte des Gehirns längs verlaufen. Wir sprechen hier über die Gebiete
In diesem Bereich entsteht in unserem Gehirn unser Selbstbewusstsein.
Was aber sieht man in diesem Bereich bei Menschen mit schweren chronischen Traumata? Bei ihnen ist hier die Hirn-Aktivität stark vermindert! Und wir sprechen hier nicht von einem leichten Unterschied! Vielmehr zeigten die Hirnscans von Ruth Lanius, dass in diesen so wichtigen Bereichen praktisch keine Aktivierung festzustellen war: Der mediale Präfrontalkortex, das anteriore Cingulum, der parietale Kortex und die Insel leuchteten überhaupt nicht auf.
Lediglich das posteriore Cingulum – zuständig für unsere räumliche Orientierung – war schwach aktiv…
👉 Was bedeutet dies nun für das Alltagsleben von traumatisierten Menschen? Durch die früher erlebten Traumata hatte die Psyche in ihrer Not zu einem verzweifelten Schritt gegriffen: Sie hat die Bereiche abgeschaltet, welche das körperliche Entsetzen und die eigenen Emotionen übermitteln. Das ist fürs Erste auch eine Entlastung, bringt im Alltag aber viele negative Konsequenzen mit sich: Wer sich nicht selbst spürt, fühlt sich nämlich auch nicht mehr lebendig!
Ist der medialen Präfrontalkortex deaktiviert, dann kann dies eine Erklärung dafür sein, dass viele Traumatisierte ihre Orientierung und das Gefühl für die eigene Existenz verlieren. Sie verlieren sich in selbstzerstörerischen nicht suizidalen Handlungen nur um sich dann doch irgendwie wieder zu spüren…
Vielen die in ihrer Kindheit chronische traumatisiert wurden, fehlt es so sehr an einem Selbstgewahrsein, dass sie sich nicht einmal selbst im Spiegel erkennen. In Blick in den Hirnscanner zeigt, dass dies nicht Unaufmerksamkeit ist, sondern das Resultat eines Abschaltens der dafür zuständigen Strukturen! Diese Erkenntnis könnte ein Durchbruch im Verständnis und in der Therapie traumatisierter Menschen darstellen!
Moshe Feldenkreis (1904 – 1984) arbeitete als Wissenschaftler und Körpertherapeut. Er prägte einmal den Satz: „Du kannst nicht tun, was du willst, bis du weißt, was du tust.“ Mit anderen Worten ausgedrückt: Um sich wirklich in seinem Selbst zu spüren, muss man einfach auch wissen, wo man sich befindet und was um einen herum gerade passiert. Bei Traumatisierten ist dieses Selbst-System jedoch praktisch abgeschaltet. Und darum müssen wir einfach nach Möglichkeiten suchen, es irgendwie wieder zu reaktivieren.
Wo in meinem Gehirn befindet sich eigentlich der Bereich für mein Ich-Bewusstsein? Diese Frage kann man nicht beantworten, ohne irgendwie auf Antonio Damasio, einen portugiesischen Neurowissenschaftler zu sprechen zu kommen.
In seinem Buch „Ich fühle, also bin ich“ zeigt er minutiös und auch nachvollziehbar die Verbindung zwischen Körperzuständen, Emotionen und unserem Überleben auf.
Ähnlich Oliver Sacks, einem britischen Neurologen und Schriftsteller („Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“) ist er seit Jahren in seinen Arbeiten immer auf der Suche danach, wo genau das Bewusstsein im Gehirn lokalisiert werden kann. Seine Frage war immer: „Was hilft uns, uns selbst zu erleben?“
In seinen Büchern zeigt er stets diesen tiefen Graben, eine Trennlinie zwischen den Selbst- und unseren Körperempfindungen auf. Ein Zitat: „Manchmal benutzen wir unser Denken nicht dazu, um Fakten zu entdecken, sondern eher, um sie wie durch einen Schirm vor uns selbst zu verstecken..“ Er beschreibt, dass dieser sogenannte „Schirm“ uns zwar dabei hilft, uns um alles was mit der äußeren Welt zusammenhängt, zu kümmern, aber dadurch können wir nicht mehr das fühlen, was wir „unser Selbst“ nennen. Durch unseren Blick nach Außen, werden wir blind für das innere Selbst…. Ähnlich dem Prinzip von Scheuklappen
Was ist der Lösungsansatz dieses Neurowissenschaftlers? Seiner Meinung nach ist unser Selbst – ganz wie es bereits hundert Jahre zur der große William James aufzeigte, aber mit den damaligen Mitteln noch nicht beweisen konnte – in den körperlichen Empfindungen zu suchen ist, die uns dann über das informieren, was in unserem inneren Zustand vor sich geht. Unser Selbst liegt nicht in der Großhirnrinde, sondern viel tiefer auf der Ebene des Hirnstamms, da alle Emotionen nichts anderes sind als komplexe Varianten oder Abwandlungen unserer ursprünglichen Gefühle, die selber auch nichts anderes sind als Valenzen: hin zum Guten, weg vom schlechten. Wie können wir uns das vorstellen?
Nun, bereits ab der Befruchtung der Eizelle – also lange vor unserer Geburt – fangen unsere Sinnesempfindungen an zu arbeiten. Die Eizelle wandert hin zum Schutz und weg von der Gefahr. Das ist die erste Valenz im Leben eines neuen Menschen.
Später in seiner weiteren Entwicklung spürt der Embryo dann das Fruchtwasser auf seiner Haut, hört den Herzschlag, die Verdauung der Mutter und bemerkt das Schaukeln, wenn sie sich bewegt.
Nach unserer Geburt verfeinern sich dann unsere körperlichen Empfindungen zusätzlich, indem sie in eine Beziehung zwischen uns und unserer Umwelt gehen. Auch diese immer eine Valenz / eine Unterteilung in gut und schlecht: Wir spüren „zu sein“ indem wir unsere nasse Windel, unseren Hunger, die Müdigkeit, die Sättigung oder die Berührung anderer Menschen spüren. Diese körperlichen Sinneswahrnehmungen sind ein wichtiges Feedback über unseren Zustand in jedem Augenblick – über unser Selbst.
Unser Gehirn hat 24/7 die Aufgabe zu überwachen und zu beurteilen, was sowohl in uns aber auch in unserer Umgebung vor sich geht um mit diesen Informationen dann unsere Homöostase – das innere Gleichgewicht – aufrecht zu erhalten. Wenn aber von draußen andauernd bedrohliche Signale ankommen – auch wenn diese wie bei einem Neurotiker nur eingebildet sind – dann kann dieses komplizierte System wegen Überlastung umkippen.
Und was haben wir dann? Das ist oft dann der Anfang vieler körperlicher Probleme, wie wir sie bei Traumatisierten häufig sehen können. Antonio Damasio hat diese Hirn-Bereiche recht eindrücklich als das „Proto-Selbst“ bezeichnet, weil sie ein „Wissen ohne Sprache“ erschaffen, was dann am Ende unser Ich, unser Bewusstsein bildet.
Kann man all dies auch irgendwie im Gehirn nachweisen? Ja und obendrein recht spektakulär!
Antonio Damasio veröffentlichte im Jahr 2000 zu diesem Thema in der Fachzeitschrift Science – die neben „Natur“ als die weltweit wichtigste ihrer Art zählt – eine Studie in der aufgezeigt wurde, dass ein Flashback nachweisbar ein Wiedererleben der Ur-Empfindungen und sogar Veränderungen in den Gehirnbereichen verursacht, die für Signale der Muskeln, der inneren Organen und der Haut verantwortlich sind. Man kann sogar einzelnen Emotionen ein eigenes Muster zuordnen, dass sich von anderen deutlich unterscheidet! Traurigkeit und Wut aktiviert nämlich einen ganz anderen Bereich im Hirnstamm als z.B. Glück oder Furcht.
Was hat dies alles mit unserem Thema der Spaltung und Depersonalisation zu tun?
Hirnstamm und limbisches System werden bei einem Flashback bis zum Äußersten aktiviert. Dabei entsteht ein alles überforderndes Gefühl von Angst, Furcht und Erschrecken: Unser Körper und unser Geist ist wieder in der gleichen lähmenden Situation von Furcht oder blinder Wut gefangen, in der es damals wie um Leben und Tod ging. Darum sind Traumatisierte auch permanent stark angespannt (On alert), als würde die Gefahr von damals jetzt gerade immer noch bestehen. Selbst leise Geräusche erschrecken, verursachen Schlafstörungen oder die Nahrungsaufnahme wird zur Qual (Anorexia oder Bulimie ist oft eine Begleiterscheinung von Traumatas). Und wenn alles zu viel wird, man sich einfach nicht mehr wehren kann, dann versucht der Geist dies durch Erstarren oder Dissoziation irgendwie zu unterbinden. E voila … unser Thema!
👉Wie können Traumatisierte es schaffen, ihr Leben wieder in die eigenen Hände zu nehmen, wenn subkortikale (unterbewusste und unterhalb des Kortex / der Hinrinde liegende) Gehirnstrukturen im Kampf ums Überleben gefangen bleiben?
Der Ausdruck „Agency“ (lat. agere = Tun; Handlungsfähigkeit) beschreibt die Fähigkeit sich zwischen Autonomie (Unabhängigkeit) und gesellschaftlichen Zwängen (also Abhängigkeit) entscheiden zu können. Und wenn jemand traumatisiert ist, dann hat er genau dieses Gefühl nicht! Die Folge? Oft eine heftige Wut …
👉 Wie gelange ich zu dieser Agency oder Handlungsfähigkeit? Das Lösungswort lautet meiner Meinung nach Interozeption. Interozeption kommt auch wieder aus dem lateinischen Wortschatz: Inter = „inmitten“ und recipere = „empfangen / aufnehmen“. Mit Interozeption meint man also ein Empfangen und Beachten der subtilen (lat. subtilis = fein / zart) sensorischen, Körpergefühle. Und je mehr wir von diesen feinen / zarten Körpersignalen mitbekommen, desto mehr fühlen wir unser Selbst und haben auch Einfluss auf unser Leben.
Unterbrochen wird dies, wenn unser medialer Präfrontalkortex – unser Wächter – nicht lernen konnte zu sehen, was in unserem Inneren vorgeht. Deshalb sind auch Achtsamkeitsübungen als Training für den MPFK immer ein fester Bestandteil jeder Traumatherapie. Die moderne Neurowissenschaft bestätigt, dass körperorientierte somatische Therapien der richtige Ansatz sind, im Kampf gegen die Traumafolgestörungen. Diese haben mindestens drei Bereiche gemeinsam:
Das, was eine wirksame Traumatherapie im Kampf gegen die Depersonalisation also ausmacht, ist der therapeutische Blick auf die sogenannten Bauchgefühle… Diese Bauchgefühle zeigen uns, was gefährlich und was sicher ist, auch wenn wir es uns bewusst nicht erklären können, warum wir jetzt gerade dieses bestimmte Gefühl haben. Haben wir eine gute Verbindung zu unseren inneren Empfindungen – wenn wir ihnen vertrauen – dann haben wir auch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, das eben erwähnte Agency.
Traumatisierte haben dieses Gefühl jedoch nicht! Sie fühlen sich in ihrem Körper nicht wohl – viel eher dauerhaft unsicher. In ihrem Körper läuten permanent die Alarmglocken. Und weil sie in der Regel versuchen, diese unter Kontrolle zu behalten, lernen sie diese immer mehr zu ignorieren und verstecken sich damit vor sich selbst. Der vorhin erwähnte von Damasio beschriebene „Schirm“ zwischen Geist und Körper ist bei ihnen besonders stark vorhanden. Und je konsequenter jemand versucht, seine inneren Warnsignale zu ignorieren, umso eher beginnen diese die Kontrolle über seinen Geist zu übernehmen. Die Folge davon ist, dass Traumatisierte oft auf jede noch so kleine innere Veränderung, entweder mit Panik oder Erstarren reagieren. Es entwickelt sich eine Angst vor der Angst … Und da kann auch die Logik nichts mehr ausrichten. Die Betroffenen wissen genau, dass ihre Angst irrational ist, und trotzdem dissoziieren sie. Mit dem Begriff „starr vor Angst“ kann man dies meines Erachtens am besten beschreiben.
Viele die von alledem was wir hier besprochen haben nichts wissen, versuchen ihr Leiden irgendwie von außen durch z.B. Psychopharmaka, Drogen, Alkohol, oder auch ein permanentes Erzwingen von Aufmerksamkeit (Narzissmus) anderer zu mildern. Häufig reagiert sich ihr traumatisierter Geist körperlich, über Kopfschmerzen, Asthmaanfälle oder ähnliches ab.
Zwar kann man die inneren Signale im außen perfekt unterdrücken, trotzdem schüttet unser Körper weiterhin Stresshormone aus! Mit dem Ergebnis, dass immer mehr somatische Symptome ohne klare Ursache bei traumatisierten Kindern und Erwachsenen vorkommen. Das sind dann diese Epidemien von chronischen Nacken-Schmerzen, der Reizdarm, die allbekannte Migräne, die chronische Erschöpfung oder auch das Asthma. Nehmen wir mal das Letztgenannte.
Die Zahl an Asthmatikern ist bei traumatisierten Kindern fünfzigmal höher als bei nichttraumatisierten Kindern! (Forschung der Charite, publiziert im „The Lancet Public Health“). Dies sind Zahlen, die man einfach nicht leugnen kann.
Ich erinnere mich sehr gerne an meine Großeltern. Leider haben Sie in ihrem Leben wie so viele ihrer Generation unsagbares Leid erfahren. Meine Großmutter väterlicherseits war z.B. solch eine tapfere aber auch sichtbar angeschlagene Frau. Im Krieg hatte sie ihren Mann verloren und stand nun verwitwet mit ihrer kleinen Tochter in Berlin auf der Straße. Später lernte sie dann meinen Großvater kennen und lieben. Sie blieb jedoch, ihr ganzes Leben lang verbittert. Was mich an ihr als kleiner Junge immer verwunderte war, dass sie einfach keine Worte für ihre eigenen Gefühle hatte. Sie lebte wie in einem Eispanzer. Es gab – wenn überhaupt – nur Worte der Bitterkeit, jedoch kein sanftes Beschreiben irgendeiner liebevollen inneren Regung. Glückliche Momente, oder schöne Gefühle? Fehlanzeige… Und wenn sie mal eine Träne in den Augen hatte, dann sagte sie nur, dass dafür der Wind schuld sei.
👉 In der Fachsprache der Psychiatrie wird dieses Phänomen Alexithymie genannt… – ein griechisches Wort für Gefühlsblindheit (a = nicht; lexis = Wort / Rede; thymos = Gemüt) Hiervon Betroffene können ihre Gefühle einfach nicht mit Worte beschreiben. Eine Ausnahme? Auf keinem Fall. Man vermutet, dass ca. 10 % unserer heutigen Gesellschaft hiervon betroffen sind.
Das Problem hier ist, dass wenn man seine Gefühle nicht beschreiben kann, dann weiß man auch nicht, was diese eigentlich bedeuten. Und dann wirkt es so, als wäre man wütend, kann dies nicht einordnen und man meint, alles wäre doch in Ordnung.
Was ist die Folge hiervon? Man ist mit den eigenen Bedürfnissen wie Essen, Schlaf, Ruhe, Nähe, Distanz nicht mehr in Kontakt. Dann gibt es hierfür auch keine Worte mehr. Und ohne Worte beginnt „ein Ausagieren durch Handeln“. Das erinnert dann irgendwie an ein kleines Baby, was ja auch nicht sprechen, sondern nur durch Agieren „redet“. Erinnert dich das nicht auch an die vielen Regressionen, in die ein Borderliner oder ein Traumatisierter immer wieder kippt, wenn er auf „die schwarze Seite“ rutscht?
Für sie sind „Emotionen ohne Worte“ eher körperliche Probleme als Warnsignale, die man beachten sollte. Wut oder Trauer sind für eher Muskel- oder Verdauungsprobleme, also alles Symptome ohne eine klare Ursache.
Nehmen wir hier mal Studien über Essstörungen wie z.B. Anorexia Nervosa (F50.0). Ca. 75% der hiervon Betroffenen und über 50% aller Bulimiker werden durch ihre eigenen Gefühle und Emotionen so verunsichert, dass sie die Emotionen anderer Menschen – wie Wut oder Verzweiflung – nicht als solche erkennen können. Ich verweise hier immer wieder gerne auf die Studien von Ruth Lanius. Schau dir hier mal folgenden Beitrag an: https://werdewiederstark.de/emdr-einleitung-teil-1/
Der Psychiater Dr. Paul Frewen (aktuell Vorsitzender des Praxisausschusses der Abteilung für psychische Traumata der APA) und Dr. Ruth Lanius beobachteten in ihren Studien, dass die Gehirnbereiche, die nach Antonio Damasio für das Selbstempfinden zuständig sind deutlich schwächer reagierten, je weniger Kontakt die Betroffenen zu ihren eigenen Emotionen hatten.
👉 Und weil Menschen nach einem Trauma oft gar nicht spüren, was in ihrem Inneren vor sich geht, können sie auch nicht angemessen reagieren, wenn ihre Gefühle einmal durchbrechen. Auf Stress reagieren sie dann entweder mit übertriebener Wut oder auch mit Erstarren oder Depersonalisation.
Was könnte die Lösung sein? So wie Farbenblinde lernen müssen, die Farben nach Grauschattierungen zu unterscheiden, so können Menschen mit einer Alexithymie auch lernen, die Verbindung zwischen Emotionen und körperlichen Signalen zu erkennen. Aber leider ist die Therapieeinsicht auch bei dieser Betroffenen-Gruppe oft sehr gering.
Wenn die Dissoziation noch stärker, noch intensiver wird, sprechen wir von einer Depersonalisation – der Verlust des eigenen Selbst. Ein Mensch erstarrt, wenn er sich in einer lebensbedrohlichen Situation voller Angst und einer Handlungsohnmacht ohne Ausweg befindet. Dies ist eine typische Ausgangslage für ein Trauma.
Vor vielen Jahren, an einem späten Abend – ich befand mich auf einem Winzerfest – wurde ich einmal von einer Gruppe betrunkener Jugendlicher angegriffen und verprügelt. Ich blieb eine Zeitlang blutend in den Gassen des Moselörtchens hocken und realisierte, dass ich an dieser Gruppe irgendwie vorbeimusste, um zu meinem Hotel zu kommen. Ich dissoziierte den Schmerz der blutenden Nase und der blauen Flecken und empfand nicht die geringste Angst, als ich in aller Ruhe auf die Jugendlichen zuging und mich bei ihnen für mein Verhalten „entschuldigte“. Die völlig betrunkenen Typen waren so schockiert darüber, dass sie anfingen, sich für ihren Anführer zu entschuldigen. Der Abend war gerettet. 😊
Warum trug ich damals PTBS davon? Meiner Meinung nach, weil ich mich selber – trotz großer Angst – aus meiner Handlungsohnmacht befreite.
Es ist wirklich faszinierend zu beobachten, wozu unser Gehirn alles in der Lage ist. Eine Gruppe von Neurowissenschaftlern rund um Ernst Fehr an der Universität Zürich fand heraus, dass man – wenn man es an einem bestimmten Bereich im Gehirn – dem temporoparietalen Übergang (am hinteren Ende der sylvischen Fissur / Sulcus lateralis) mit einem kleinen elektronischen Impuls stimuliert – eine Form des Abschaltens und Heraustretens aus dem eigenen Körper erzeugen kann.
Eine untersuchte Person gab dabei an, sie hätte dabei gespürt, dass sie unter der Decke schwebe und auf ihren eigenen Körper heruntersehen könnte. Ein anderer sagte, er bekomme das irritierende Gefühl, jemand stehe hinter ihm.
Dies bestätigt u.a. die Aussagen vieler Personen, wenn sie z.B. in einem Schock oder einer Nah-Tod-Erscheinung davon erzählen, dass sie oder ihr Bewusstsein sich vom Körper lösen und eine Phantomexistenz entwickeln kann.
Das gleiche kann auch bei einem schweren Trauma passieren, dass bei Betroffenen bei einem Flashback die Furchtzentren im Gehirn einfach gesagt abschalten.
Ein Trauma hat immer auch eine körperliche Komponente. Darum können Traumatisierte erst dann völlig heilen, wenn sie sich interozeptiv wieder mit ihrem Körper und seinen Signalen vertraut machen, diese zulassen und mit ihnen gewissermaßen Freundschaft schließen.
Wut – das Kriterium Nummer 8 bei Borderline ICD10 – ist ein typisches Kennzeichen im Bereich der Persönlichkeitsstörungen. Solche wütenden Menschen leben bildlich gesprochen in einem wütenden Körper. (siehe hierzu auch Robert Stoller – Sein Buch: Perversion – die erotische Form von Hass oder gehe auch hier auf meinen Beitrag)
Wie am Anfang dieses Beitrages erwähnt, können wir bereits anhand der Körperhaltung eines Menschen viel von seiner Vergangenheit ablesen. Oft sieht man, dass der Körper von Menschen, die in ihrer Kindheit / Jugend missbraucht oder misshandelt wurden, komplett angespannt und oft defensiv apathisch wirkt. Dies dauert solange an, bis sie endlich eine Möglichkeit finden, sich in einem sicheren Rahmen wieder zu entspannen und ein Gefühl von Sicherheit zu fühlen. Fakt aber ist, dass Menschen sich erst dann verändern können, wenn sie sich ihrer inneren Signale und der Interaktion ihres Körpers mit der Umwelt bewusst werden.
👉 Und diese körperliche Achtsamkeit ist auch der erste Schritt auf dem langen Weg zur Befreiung von den „Dämonen“ der zurückliegenden Erfahrungen.
Das ist nicht kompliziert. Ein Trauma selber ist ja auch nichts kompliziertes. Man muss es aber tun! Ganz am Anfang steht der Prozess des reinen Registrierens und mit Worten zu beschreiben, was man registriert. Heilung kommt immer erst nachdem (!) man den körperlichen Empfindungen eine Beschreibung geschenkt hat wie z.B. Druck, Wärme, Muskelanspannung, Kribbeln, das Gefühl, einzusinken, hohl zu sein usw.
Aber nicht nur die negativen körperlichen Reaktionen werden registriert. Sehr wichtig ist immer, den Fokus auch auf das Gute zu lenken. „Wo und wie fühle ich in meinem Körper z.B. Entspannung und Freude?“
Mir hilft dabei die Beobachtung der Körperbewegungen, welche ich immer wieder meinem Gesprächspartner gegenüber äußere. Was erkenne ich z.B. in der Mimik, der Gestik oder auch in der Modulation? Oft sind sie dann völlig erstaunt darüber, was sie machen, wenn ich ihre Aufmerksamkeit auf ihren Körper und ihre Handlungen lenke. Das alles kann am Anfang noch recht belastend wirken und hin und auch vereinzelt Flashbacks erzeugen. Deshalb muss vor einer Sitzung immer auch ein „sicherer Ort“ sowohl im Außen aber auch in der inneren Haltung vereinbart werden.
Was aber immer hilft zu beruhigen ist eine ehrliche Umarmung. Warum ist dem so? Nun, unser Herz produziert wie unser Gehirn ein eigenes elektromagnetisches Feld. Und trotz seiner deutlich geringeren Neuronenzahl – es verfügt nur über insgesamt 50.000 dieser besonderen Zellen – ist dieses unglaubliche 50 x stärker als das unseres Gehirns. Es kann sogar noch in einer Entfernung von 2 bis 3 Metern vom Körper gemessen werden.
Was hat all das mit einer Umarmung zu tun?
Ein Energiefeld wie das des Herzens ist gleichzeitig auch immer ein Informationsfeld. Unser Herz fördert jeden Tag ca. 8.000 Liter Blut. Da das Blut zu über 90% aus Wasser besteht und Wasser ein guter elektrischer Leiter ist, kann es diese elektromagnetische Ladung im gesamten Körper verteilen. Man könnte sagen, dass unser Herz mit jedem Schlag allen Zellen im Körper seine Botschaft sendet.
Wenn ich nun von einem anderen Menschen umarmt werde, dann kommt sein elektromagnetisches Feld mit meinem in Kontakt. Nach dem ersten Hauptsatz der Thermodynamik – dem Energieerhaltungssatz – strebt alle Energie einen Ausgleich an. Du wirst durch das ruhigere Energiefeld deines Gegenübers zwangsläufig auch ruhiger.
Das ist aber noch nicht alles! Gemäß den Forschungen von Michael Meaney von der McGill Universität in Montreal bewirken Umarmungen auch die Aktivierung eines Anti-Stress-Gens. Mehr unter diesem Beitrag!
Berührungen sind elementar!
Was aber wenn sich ein traumatisierter Mensch, der körperlich oder seelisch misshandelt oder sexuell missbraucht wurde nach einer Berührung sehnt, gleichzeitig aber vor jedem Körperkontakt zurückschreckt? Die Lösung liegt auf der Hand: Sein Geist muss wieder lernen, körperliche Empfindungen zu spüren und die angenehme Wirkung von Berührungen zuzulassen und anschließend auch zu genießen. Und ja, es gibt diese Übungen wirklich. Mein Tipp: Nutze die Erfahrungen des Traumatherapeuten Peter Levine! Ich habe hierüber mehrere Videos erstellt. Zu dem Einleitungsvideo geht es hier:
Am Ende dieses Beitrages möchte ich noch eine Studie vorstellen, die zeigt, in welcher Misere Menschen leben, wenn sie den Kontakt zu ihrem Körper verlieren.
Schon oft habe ich auf die Forschungen der Professorin Ruth Lanius verwiesen. Eine ihrer Studien hatte sich mit der Frage auseinandergesetzt: „was passiert bei chronisch Traumatisierten mit einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung, wenn sie mit anderen in Blickkontakt treten?“
Die Frage ist durchaus berechtigt da viele Traumatisierte nicht mehr in der Lage sind, dies zu tun. Anhand dieser einfachen Beobachtung kann man sofort sehen, wie schlecht es dem Gegenüber eigentlich geht. Oft betrachten diese sich als ekelhaft und können es nicht ertragen wenn man sie ansieht, oder auch wenn man ihnen etwas nettes – vielleicht ein Kompliment – sagt. Gehirn und Geist lassen sich nicht voneinander trennen … Was in einem von beiden geschieht, beeinflusst den anderen Bereich zwangsläufig.
In einem Gehirnscanner wurde ein spezieller Bildschirm angebracht, um ein Video abzuspielen in der sich – in der einen Sequenz – eine Person dem Probanden entweder direkt anschauend näherte oder im zweiten Filmausschnitt mit einem abgewandtem Blick. Gab es einen Unterschied in der Gehirnaktivität zwischen diesen beiden Filmsequenzen? Ja! Am auffälligsten war die Aktivierung bzw. Nicht-Aktivierung des Präfrontalkortex in der Reaktion auf den direkten Blickkontakt.
Mit Hilfe des PFK und unserer Spiegelneuronen können wir normalerweise, eine auf uns zukommende Person einschätzen. Bei den Versuchsteilnehmern mit einer PTBS-Vergangenheit wurde aber KEIN Teil des Frontallappens aktiviert … Dadurch waren sie erst einmal blind dafür, an dem Gegenüber irgendwelche Auffälligkeiten zu erkennen. Weil ihnen dieses wichtige Messinstrument nun aber fehlte, wurde ein anderes Areal im Gehirn aktiviert: das zentrale Höhlengrau (Substantia grisea centralis) oder auch peraquäduktale Grau genannt. Dies ist für Erschrecken, Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit), Zusammenkauern und andere Verteidigungsreaktionen verantwortlich. Wenn dass die typische Reaktion auf fremde Menschen ist – wie wirkt sich dies auf den Aufbau neuer Freundschaften oder die Kommunikation mit der Umgebung aus?
Kann man diesen Menschen in einer Therapie eine Umgebung schaffen, in der sie sich so geborgen fühlen, dass sie dem Therapeuten ihre tiefsten Ängste anvertrauen können?
Traumatherapie ist wirklich eine Klasse für sich!
Wenn ich jemanden nur ein Buch zum Thema Trauma, Einfluss auf unser Gehirn und Therapievarianten empfehlen dürfte, dann wäre es mit Sicherheit dieses herausragende Werk des Trauma-Forschers Bessel van der Kolk. In diesem überragenden Werk werden die Entstehung von Traumatas und die verschiedensten Therapien wie EMDR, Yoga, Self-Leadership, Neurofeedback, Tiefenpsychologie und viele mehr angesprochen.
Verändert ein Trauma unser Gehirn und kann man diese Spuren sichtbar machen? Was ist mit dem Irokesenschnitt im fMRT gemeint? Gibt es Unterschiede zwischen einer PTBS und einer kPTBS also einer Trauma-Entwicklungsstörung? Was können Psychopharmaka und was nicht?
Ein geballtes Wissen aus >40 Jahren komprimiert auf 400 Seiten. Dieses Buch macht Mut in die Zukunft der Trauma-Forschung. Mehr als Wert zu studieren!
Es sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang Borderline oder einer anderen belastenden Störung, aber auch über Future Faking, Love Bombing und Gaslighting die immer häufiger in unsere Gesellschaft zu beobachten sind.
Ich möchte aber nicht nur über Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:
Buchen Sie sich einfach auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus