Schriftzug Marcsu Jähn

Das Familienpsychologische Gutachten

Ein familienpsychologisches Gutachten ist eigentlich keine komplizierte Sache. Aber wie so oft im Leben, ist es auch hier von Vorteil, wenn man zumindest theoretisch den groben Rahmen der Arbeit eines Sachverständigen für familienpsychologische Gutachten einigermaßen nachvollziehen kann. Darum möchte ich hier einen kleinen Einblick geben, der sich aus meinen persönlichen und mehrjährigen Recherchen ergeben hat.

Was ist das Problem? Warum stehen Anwälte oft vergleichsweise ohnmächtig vor den psychologischen Gutachten?

Viele Anwälte stehen vor einer recht simplen, aber dennoch gewaltigen Herausforderung: – Sie können psychologische Gutachten einfach nicht fachlich überprüfen und darum wollen sie es auch nicht.

(1) Jura-Studium ist kein Psychologie-Studium

1.1. Das Jura-Studium ist kein Psychologie-Studium! Anwälte lernen praktisch nichts in ihrer Ausbildung über das familienpsychologische Sachverständigengutachten. Und wenn ich von etwas wenig bis gar keine Ahnung habe, dann versuche ich diese Themen auch möglichst zu umgehen – dass ist nur allzu menschlich.

1.2. Aber auch das Finanzielle darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Der gesetzliche Gegenstandswert (§ 45 FamGKG) bei Kindschaftsverfahren liegt bei lediglich 4.000,- Euro. Da bekommt ein Anwalt für seine Arbeit nur etwas mehr als 300, -Euro.
Es liegt auf der Hand, dass dies für ihn nicht lukrativ genug ist. Anwälte nehmen solche Sorgerechtsverfahren oft nur deshalb an, weil sie das deutlich lukrativere Scheidungsverfahren nicht verlieren wollen. An Scheidungen wird einfach mehr verdient als an Sorgerechtsverfahren, denn bei einer Scheidung wird das monatliche Nettoeinkommen beider Ehegatten mit dem Faktor 3 multipliziert. Nach einer Aufstellung der Roland Rechtschutzversicherung bekommt jeder Anwalt durchschnittlich 1.500,- bis 2.500,- Euro.

Wegen dieser beiden Gründe – die ungenügende Ausbildung um das Gutachten selber beurteilen können und die recht niedrige Vergütung für eine Überprüfung desselbigen – lesen sich die meisten Anwälte oft nur noch die gutachterliche Zusammenfassung durch und gehen nicht mehr ins Detail.

(2.) Die Zeit vor dem Gutachten

Nur Wenige wissen, dass man bereits vor einem Gutachten den Rechtsstreit entscheidend beeinflussen kann.
Ein Sachverständiger darf sich in seinem Gutachten nämlich einzig und allein nur mit den Tatsachen befassen, die vor Beauftragung nicht streitig sind. Dies wird durch die Paragraphen §§ 113 I 2 FamFG, 404 III ZPO und damit durch das Gericht sehr klar festgelegt. Das bedeutet, dass alles für den Streit Wichtige bereits vor (!) dem Gutachten auf den Tisch gelegt werden muss.

Damit kommen wir zu einem Alltagsproblem: Viele Familiengerichte betreiben nämlich genau diese wichtige Beweisprüfung nur recht selten. Ein Anwalt muss dann konsequent immer wieder auf den §26 des FamFG (Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit) verweisen. Denn, es ist ja nur logisch, dass – wenn wichtige Beweise vor (!) dem Gutachten nicht eingeholt werden – das Ergebnis dementsprechend im Nachhinein fehlerhaft ausfällt.

(3.) Der Beweisbeschluss – Wenn das Gericht den Gutachter bestellt

Elon Musk sagte es bereits: „Ein Unternehmen ist nur so gut wie seine Mitarbeiter.“ Oder in einem Sprichwort wird gesagt: „Ein Werkzeug ist nur so gut wie der Handwerker…“ Genauso kann ein Gutachten auch nur so gut sein, wie der Gutachter der es erarbeitet. Für ein Gericht muss seine Qualifikation darum immer an vorderster Stelle stehen.

Wie sieht das in der Praxis aus? Wir haben in der ZPO / der Zivilprozessordnung die beiden Paragraphen §§404, 405.  Das Gericht wählt demnach den Sachverständigen nach eigenem pflichtgemäßem Ermessen aus. Den Begriff des Ermessens könnte man auch mit einschätzen, erkennen, überschauen ausdrücken.

Leider wird dieses Ermessen / diese Einschätzung in der Praxis allzu oft fehlerhaft durchgeführt. Dies zeigt eine sehr interessante Studie aus dem Jahre 2014, die an der Fernuniversität in Hagen von den beiden Professoren Christel Salewski und Stefan Stürmer mit Unterstützung des NRW Justizministeriums durchgeführt wurde. Dabei wurden insgesamt 116 Gutachten ausgewertet, die an 4 verschiedenen Amtsgerichten im Oberlandesbezirk Hamm 2010 und 2011 in Auftrag gegeben wurden. Das traurige Ergebnis dieser Untersuchung war:
Nur eine Minderheit der Gutachten erfüllte wichtige fachliche Qualitätsstandards. Wie sah es im Detail aus?

    • Bei 56 % der Arbeiten wurden aus der gerichtlichen Fragestellung keine fachpsychologischen Arbeitshypothesen herausgearbeitet. Dabei gehört genau dies zum Standard eines Gutachtens wie es von dem Diagnostik- und Testkuratorium der Föderation Deutscher Psychologenvereinigung im Jahre 2017 ausdrücklich gefordert wurde.

    • Bei 85,5 % wurde nicht begründet, wieso weshalb oder warum man sich gerade für die in diesem Gutachten verwendeten diagnostischen Verfahren entschieden hat.

    • Und nicht zuletzt muss erwähnt werden, dass bei 35 % recht fragwürdige und problematische Verfahren eingesetzt wurden (ich spreche hier von projektiven Tests wie dem Rorschach-Test, und nicht systematisierte Gespräche).
    • Auf mögliche methodische Einschränkungen der Ergebnisse wurde so gut wie nie hingewiesen (nur in 2 Fällen).

Zusammengefasst waren zwischen einem Drittel bis über 50 % der Gutachten mangelhaft – und vor solch einer Tatsache darf man einfach nicht die Augen verschließen. Alles andere wäre wie der Bärendienst aus der Fabel von La Fontaine – ein Schuss, der dann nach hinten losginge…

Was ist also zu tun? Zuallererst sollte der Anwalt die Qualifikation des Sachverständigen prüfenNach dem §407a ZPO muss ein Sachverständiger nämlich selber prüfen, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt und von ihm ohne weitere Hilfen in der Frist erledigt werden kann. Im §163 Absatz 1 FamFG wird außerdem klar gesagt, dass der Gutachter mindestens über eine psychologische, psychotherapeutische, kinder- und jugendpsychiatrische, psychiatrische, ärztliche, pädagogische oder sozialpädagogische Berufsqualifikation verfügen sollte. Bei der pädagogischen oder sozialpädagogischen Ausbildung müssen weitere Zusatzqualifikationen nachgewiesen werden. Die überwiegende Meinung geht über dieses Mindestmaß hinaus und fordert als Grundkompetenz den Universitätsabschluss in Psychologie bzw. Medizin. Die Ausbildung zum Diplom-Pädagogen, Sozialpädagogen, Lehrer und ähnliche Berufe werden im Allgemeinen ein wenig kritisch betrachtet und nicht für diese Gutachten geeignet gehalten. Leider gibt es aber immer noch an keiner deutschen Universität einen Ausbildungsgang zum Familienpsychologen und damit auch nicht zum konkret qualifizierten „Familienpsychologischen Sachverständigen“.

(4.) Kann ein Gutachten verweigert werden?

Ist ein Sachverständiger durch das Gericht bestellt und kann seinen Sachverstand nicht ausreichend unter Beweis stellen, oder der Beweisbeschluss ist vielleicht aus anderen Gründen heraus fehlerhaft, dann muss der Anwalt klar und unmissverständlich reagieren.

Hier kommt aber ein Problem auf: Typischerweise kann ein Anwalt durch eine Beschwerde diesen Vorgang erst einmal stoppen. Die Beschwerde selber ist aber wegen der Paragraphen §§ 567 I ZPO, 113 I FamFG unwirksam und lässt viele Anwälte erst einmal ratlos im Regen stehen. Es gibt aber ein anderes Mittel, dass zwar nicht ganz so bekannt, dafür jedoch umso wirksamer ist: Jede Untersuchung ist erst einmal ein Eingriff in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 I GG in Verbindung mit Art. 1 I GG. Geschützt werden hierbei auch alle Daten über den Gesundheitszustand, die seelische Verfassung und den Charakter. Je näher nun in den privaten, intimen Bereich einer Person eingedrungen wird, umso intensiver wird der Schutz durch Artikel 2 GG.

Es gibt also einen unantastbaren Bereich der private Lebensgestaltung dem sich jegliche staatliche Gewalt beugen muss. Dies bedeutet, dass sich – genau wie jeder Arzt – so auch ein Sachverständiger zuerst einmal das OK eines Gegenübers einholen muss, um mit der Untersuchung / Begutachtung seiner Person beginnen zu dürfen.

Der Bundesgerichtshof hat 2009 deshalb klar und deutlich entschieden, dass die psychologische (körperliche / psychiatrische) Untersuchung der Eltern oder auch nur deren Erscheinen beim Sachverständigen aufgrund des §1666 BGB nicht erzwungen werden kann. Jedoch kann ein Erscheinen vor Gericht im Beisein eines Sachverständigen nach §33 FGG (Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit) angeordnet werden.

Die Sorge vieler Anwälte die hier befürchten, dass eine Weigerung an einem Gutachten mitzuarbeiten negative Auswirkungen auf den Prozess mit sich bringen könnte ist zum Glück nicht berechtigt. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich auch in diesem Punkt klar festgelegt, dass eine solche Verweigerung keine Beweisvereitelung und damit auch kein Negativ-Kriterium ist. Wie bereits beschrieben, kann ein Gericht zwar die Anhörung des ablehnenden Elternteils in Anwesenheit des Sachverständigen anordnen und auch eventuell mit Zwang durchsetzen, vernünftigerweise wird es sich diesen Schritt aber sehr genau überlegen, da einen anderen Sachverständigen zu beauftragen deutlich weniger Staub aufwirbelt und es in dem Streit eher um das Kindeswohl und nicht um ein Machtspiel zwischen Gericht, Gutachter und Verfahrensbeteiligten gehen darf.

(5.) Während des Gutachtens

Während der eigentlichen Gutachtenphase, gibt es gleich zwei Punkte, auf die ein Anwalt achten kann.

      1. Ein familienpsychologisches Gutachten wird nach ganz bestimmten Regeln in Auftrag gegeben. In der Fachsprache nennt man dies eine „Beauftragung nach den Regeln des Strengbeweises“. Damit ist ein formelles Verfahren mit klar eingegrenzten Beweismitteln gemeint. (§§ 30 FamFG, 402 ff. ZPO).

Von dem Sachverständigen dürfen zum Beispiel keine Informationen erhoben werden, die über die Beantwortung der Fragen vom Gericht hinausgehen. Das Gegenteil von dem Strengbeweis ist der „Freibeweis“. Hier könnte ein Gericht die eingesetzten Mittel frei erweitern und auch die formellen Vorgaben deutlich lockern.

      1. Nach demselben Muster, wie ein Richter abgelehnt werden kann, so ist dieser Weg auch bei dem einbestellten Sachverständigen möglich (§§ 406 I, 41 ff. ZPO).

Hier reichen die Bedenken,

      • dass er nicht multimodal also nicht unparteiisch und unabhängig allen Beteiligten gegenüber vorgeht, z. B. weil er seine Befugnisse in Bezug auf die Schweigepflicht überschreitet und mit Dritten ohne eine klare Erlaubnis über Inhalte seiner Begutachtung spricht (damit ist nicht seine „Offenbarungspflicht“ dem Gericht gegenüber gemeint),
      • dass er über seinen Auftrag hinaus weitere und damit unzulässige Fragen stellt,
      • dass er ohne das Einverständnis der Beteiligten Aufzeichnungen anfertigt
      • dass er einen Elternteil so berät, dass sich dessen Position im Verfahren verbessert.
      • oder dass er eine Rechtsberatung durchführt.

Ein Anwalt sollte deshalb durch einen regelmäßigen Kontakt mit seinem Mandanten die Überwachung des Sachverständigen immer im Fokus behalten. Da so eine Überwachung aber auch Misstrauen bewirkt möchte ich hier anmerken, dass Aufklärung besser als Überwachung ist. Aufklärung über die Arbeit eines Sachverständigen bewirkt mehr Verständnis und ist darum auch die Grundlage für eine bessere Zusammenarbeit aller Parteien. Vielleicht entsteht dadurch auch die Bereitschaft zu einem Kompromiss.

Denn es gibt eine Besonderheit in der Beauftragung eines familienpsychologischen Gutachtens und ihm dadurch zu einem Sonderstatus verhilft: §163 Absatz 2 FamFG. Ein Gericht kann (!) in diesem Verfahren nämlich auch anordnen, dass der Sachverständige in Konfliktsituationen zusätzlich auch beraten und vermitteln soll. Wenn dies ausdrücklich vom Gericht beauftragt wurde, dann darf er z.B. zu einer Therapie, einer Beratung oder zur Teilnahme an einer Mediation ermuntern und darf auch allgemeine Ausführungen zum Familienrecht geben.

Dieser Paragraph ist tatsächlich etwas Besonderes, da er auch den Sachverständigen mit in dass „Gebot des Hinwirkens auf ein Einvernehmen der Beteiligten“ einbezieht. Diesem Gebot, sich auf ein „Einvernehmen der Beteiligten“ in allen Bereichen des Verfahrens zu konzentrieren müssen sich alle Parteien – auch das Gericht – unterstellen.

      • 156 Absatz 1 FamFG Das Gericht muss in jeder Lage des Verfahrens auf ein Einvernehmen aller Beteiligten hinwirken

(6.) Was tun nach dem Gutachten?

Das Gutachten sollte nun vollständig und genau gelesen werden – also nicht nur seine Zusammenfassung. Dabei muss geprüft werden, ob die „Qualitätsstandards für psychodiagnostische Gutachten“ erfüllt werden, die am 18.10.2017 von der DTK (der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen vom Diagnostik- und Testkuratorium) formuliert wurden. Wir können diese Kriterien folgendermaßen grob zusammenfassen:

      1. Die Bildung von Arbeitshypothesen.
        Dabei werden psychologische Fragestellungen formuliert mit deren Hilfe die gerichtlich-juristischen Fragen vollständig beantwortet werden können

      2. Das Verfahren, mit dessen Hilfe die Daten erfragt und die psychologischen Fragen gestellt wurden, wird erklärt und begründet.

      3. Es muss belegt werden (durch Nennen des Autors, das Erscheinungsjahr des Verfahrens und evtl. auch der jeweiligen Version) dass die gewählten Verfahren dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand entsprechen

      4. Die Einschränkungen, die sich aus der Praxis ergeben, müssen benannt und bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden.

      5. Die Ergebnisse der Untersuchung müssen allgemein verständlich und nachvollziehbar erläutert werden.

Wie kann man vorgehen, wenn Zweifel an dem Gutachten bestehen? Zuallererst ist es das gute Recht, bei begründeten Bedenken, ein neues Gutachten zu beantragen (§ 412 ZPO). Damit solch ein Antrag dann aber auch Erfolg hat, sollte man eine privatgutachterliche Stellungnahme zu dem gerichtlichen Gutachten erstellen lassen. Mit solch einer Gegendarstellung können die Zweifel dann auch konkret begründet werden. Zwar kann das Gericht dann immer noch an „seinem“ Gutachten festhalten, muss dann aber eine Begründung dafür liefern, warum es dieses trotzdem für geeignet hält. 

(7.) Eine persönliche Zusammenfassung

Das Wissen darüber, welche Voraussetzungen für ein familienpsychologisches Gutachten gelten, wie es erstellt und auch überprüft wird, ist bei vielen Anwälten häufig noch sehr ausbaufähig. Ganz besonders wichtig finde ich, dass Fachanwälte für Familienrecht immer im Hinterkopf behalten sollten, dass die Teilnahme an einem familienpsychologischen Gutachten freiwillig ist und nicht erzwungen werden kann. Das meines Erachtens wirksamste Mittel gegen ein fehlerhaftes Gutachten ist die privatgutachterliche Stellungnahme. Diese zwingt das Gericht zu einer Neubewertung und Stellungnahme, die wiederum überprüft werden kann.

Warum ich mich mit diesem Thema befasse, möchte ich mit folgenden Beobachtungen kurz untermauern:

7.1. Das schnöde Geld

Leider sieht man bei vielen Arbeiten von Sachverständigen immer wieder denselben „Wirtschaftlichkeits-Grundsatz“ … „mit kleinstem Einsatz einen größtmöglichen Gewinn zu erzielen und dann ist das Kindeswohl (§1666 BGB) nicht mehr das primäre Ziel, sondern eher die Verbesserung des eigenen Profits vom Gutachter. Ähnlich einer Arbeit nach „Schema F“ (dieser Begriff stammt aus der preußischen Armee. Er wurde 1861 eingeführt, um den Frontrapport zu vereinfachen und zu beschleunigen) findet oft eine genaue Einzelfallprüfung nicht statt. Von einer höheren Berufsethik kann man hier nicht sprechen.

7.2. Die Verantwortung schnell abgeben

In der Praxis nimmt man häufig den einfacheren Weg, indem Richter ihre Verantwortung schnell an einen Sachverständigen abgeben – ähnlich einer Pilatus-Wäsche („Ich (!) wasche meine Hände in Unschuld“). Und obwohl der Sachverständige per Gesetz nun persönlich mit dem Fall beauftragt wird – und damit zumindest auf dem Papier auch als Person haftet – in der Praxis bleibt er davon weitestgehend verschont, da die Rechtsprechung zur Sachverständigenhaftung (trotz BGB §839a) auch sehr gewagte „subjektive Werturteile“ durchgehen lässt. Dies zeigt deutlich, dass dieses System zwischen Gericht und Sachverständigen recht fehleranfällig ist.

7.3. Ein weiteres oft zu beobachtendes Problem: Nicht aussagefähige Testbatterien als Verfahrensgrundlagen

In den letzten Jahren hat sich unter den bestellten Sachverständigen der Gebrauch von sog. frei erhältlichen Testbatterien (All-in-one-Lösungen) eingebürgert. Darunter versteht man unterschiedliche Einzeltests, die durch eine Kombination verschiedener Sichtweisen versuchen, die Ergebnisse zu verbessern. So weit, so gut…. Wie sieht dies aber in der Praxis aus?

      • Zuerst wird ein Gespräch über die persönliche Lebensgeschichte mit den direkten Verfahrensbeteiligten (im Regelfall die Eltern) geführt.
      • Danach wird auch mit dem Kind gesprochen wobei hier die angeführten Testbatterien zum Einsatz kommen
      • und das Verhalten zwischen den Eltern und dem Kind im Alltag wird beobachtet.

Und obwohl es bereits seit langem bekannt ist, dass diese Testbatterien den erforderlichen Anforderungen nicht genügen, kommen sie – logischerweise um Kosten und Zeit zu sparen – bei den Sachverständigen immer häufiger zum Einsatz.

Bereits im Jahre 2000 hat sich Prof. Dr. Werner Leitner (Professor für Psychologie und forensischer Sachverständiger mit eigener Praxis in Oberfranken) zu diesem Thema folgendermaßen geäußert:

  • „Standardisierte Testverfahren können die komplexen Einzelfall-Anforderungen einfach nicht erfüllen.“

Und trotz seiner und vieler weiterer Warnungen, hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten hierzu leider nur wenig verändert. Gemäß einer Studie der IB-Hochschule (Hochschule des Internationalen Bundes in Berlin) im Jahr 2015 sind ca. 75 % aller Gutachten in familienrechtlichen Streitigkeiten in Deutschland mangelhaft. (Sendung Frontal21 vom 08.09.2015 im ZDF). Das Hauptproblem gemäß dieser Studie ist, dass in den Gutachten regelmäßig projektive oder halb-projektive Testverfahren wie z.B. der Rorschachtest, das Skizzieren von „Familie in Tieren“ oder „Haus-Baum-Mensch-Zeichnungen“ verwendet werden, um dadurch halblogische Schlussfolgerungen über die Persönlichkeit zu ziehen. Da diese Tests aber immer zu den wildesten Assoziationen verleiten, es hier also keine abgegrenzten und fundierten Ergebnis-Kriterien gibt, entsprechen sie nicht den wissenschaftlichen Kriterien – sie sind eher pseudowissenschaftliches Kaffeesatzlesen. Da ist Kartenlegen deutlich zutreffender 😊

Für diese harte Kritik hat Professor Leitner in seiner Studie die bemerkenswerte Anzahl von 272 Familienrechtsgutachten aus den Jahren 2013 und 2014 herangezogen. Seine Bilanz: „Für eine vernünftige Sorgerechtsentscheidung sind diese Gutachten überhaupt nicht geeignet.“ Trotzdem wurden und werden durch sie ganze Familien inklusive der eigentlich zu schützenden Kinder auseinandergerissen. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.  Durch ein Gutachten wird einerseits Geld verdient, aber gerade das Wohl von Familien und Kindern bleibt hier auf der Strecke“.

Werner Leitner ist jedoch nicht der einzige Experte, der hier auf den Plan tritt. Ich möchte dazu auch Jürgen Rudolph aus Koblenz erwähnen. Viele Jahre war er als Familienrichter tätig und hat 1992 Cochemer Praxismodell mit ins Leben gerufen.

Er zeigt dabei

      • dass es für das Erstellen eines Gutachtens nach wie vor keine rechtsverbindlichen Standards gibt
      • und dass die Richter die einzelnen Gutachter vollkommen frei und damit auch willkürlich aussuchen können. Es können sich also Verbindungen / Zweck-Vereinigungen bilden, die über die eigentlichen Absicht – das Kindeswohl – hinaus, das Verfahren beeinflussen.
      • Und da die meisten Richter in Familienangelegenheiten nicht ausgebildet sind – Richter sind Juristen und keine Psychologen – verlassen sie sich in den Rechtsfragen ganz oft auf die Gutachter.

Und wenn das Ergebnis am Ende dann kritisiert wird, weil die richterliche Entscheidung nicht zum Wohl des Kindes war, dann übernimmt keiner von beiden – weder Richter noch Gutachter – die Verantwortung hierfür.

Viele der vom Gericht bestellten Sachverständigen sind dieser sehr anspruchsvollen zwischenmenschlichen Aufgabe einfach nicht gewachsen. Man braucht mehr als nur analytische und diagnostische Fähigkeiten.
Ich muss mich mein Leben lang im Mentalisieren üben um dieser Aufgabe gewachsen zu sein..

      • Mentalisieren ist die Fähigkeit, dass ich Gedanken, Gefühle und auch die Absichten anderer 1. Wahrzunehmen und im 2. Schritt auch zu verstehen. Und diese Fähigkeit ist nicht zwangsläufig bei jemanden mit hohem akademischem Grad oder einer hohen beruflichen Position automatisch vorauszusetzen.

Auch der Bekannte Fachpsychologe für Rechtspsychologie Joseph Salzgeber aus München warnt in seinem Buch „Familienpsychologische Gutachten“ vor einem vorweggeworfenen Heiligenschein der Gutachter. Gegen all dies bringen die vielen Schreiben von Anwälten – auch wenn sie im Inhalt zutreffend sein mögen – in der 1. Instanz leider meist wenig.

      • Das einzige wirksame Gegenmittel, um schon in der 1. Instanz Zeit, Geld und Nerven einzusparen, ist m.E. ein Privatgutachten mit psychologischer Fachexpertise.

      • Und auch wenn es bereits in die 2. Instanz geht, ist ein Privatgutachten von großem Nutzen, um dann dem Oberlandesgericht eine qualifizierte Gegenmeinung zum Sachverständigen aufzuzeigen. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Aufhebung des Beschlusses aus der Vorinstanz deutlich.
      • Nicht zuletzt möchte ich noch erwähnen, dass vor dem Gericht alles wie ein Buch geschrieben wird.
        Auch der Prolog / die Einleitung ist wichtig. Meines Erachtens ist es bereits im Eilverfahren von Nutzen, ein Privatgutachten erstellen zu lassen, noch lange bevor überhaupt ein Sachverständiger vom Gericht bestellt wurde.
Marcus Jähn Meine Buchempfehlung zu diesem Thema

Ein Leitfaden nicht nur für Gutachter in einem familienpsychologischen Gerichtsprozess!

Es ist ein praxisorientiertes Buch für Gutachter, Juristen (aber auch Betroffene) das Gutsachter ausrüstet mit Explorationsleitfäden und Anschreibenmuster um die Mindestanforderungen an Erstellung und Ausarbeitung von Gutachten zu erfüllen. Mit Hilfe dieses Leitfadens wird etwas versucht, was in den Gerichtstexten noch nicht gegeben ist: einen nachprüfbaren Standard für Gutachten zu erstellen. 

Was wir hier finden sind Leitlinien für den Sachverständigen, Vorgaben des Gesetzes, Fragestellungen an die Eltern und die Kinder, aber auch Einschätzungen zum Thema Kindeswohlgefährdung.

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