Borderline ist an sich kein neues Phänomen in der Medizin. Bereits seit vielen Jahrzehnten setzt sich die Medizin, die Psychiatrie und damit auch die Therapie mit diesem Störungsbild auseinander. Bereits im Jahre 1967 wurde auf einem „Ärztekongress für selbstverletzendes Verhalten“ beschrieben, dass diese sich selbstverletzenden Patienten beim dem behandelnden Personal in den Kliniken regelmäßig extrem starke Gegenübertragungsreaktionen auslösten.
Eine Patientin war hierbei für das Personal sogar so massiv und dauerhaft provozierend dass bei ihr eine präfrontale Lobotomie durchgeführt wurde – eigentlich eine „Verzweiflungs-OP“ in welcher ein chirurgischer Schnitt durch die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen durchgeführt wird. Das Ergebnis bei ihr war, dass sie sich danach nicht mehr selbst verletzte – das war aber das Einzig Positive…. Sie war ab dann nämlich so stark eingeschränkt, dass sie nur noch Papierflieger basteln und am eigentlichen Leben nicht mehr teilhaben konnte.
Vielleicht erinnerst du dich jetzt an den Film (1975) „Einer flog über das Kuckucksnest“ in dem Jack Nicholson die Rolle des Randle McMurphy spielte und am Ende des Films auch durch diese Lobotomie förmlich „ausgenockt“ wurde. Man wusste sich einfach nicht besser zu behelfen….
Noch im Jahr 1988 begann das erste Kapitel einer wissenschaftlichen Studie über Borderline mit den Worten: „Selbstverletzendes Verhalten gehört zu genau den Handlungen, die an der Grenze menschlicher Erfahrung zu liegen scheinen.“
Genau wie Suizid, Mord und sexueller Missbrauch von Kindern trägt selbstverletzendes Verhalten in sich die gleiche Bedeutung wie:
Heute – drei Jahrzehnte später – würde niemand mehr so über diese Borderline- Symptomatik schreiben. Aber: wenn wir uns jetzt mit diesem Thema auseinandersetzen, dann müssen wir auch stets die Geschichte dieser Störung mit im Hinterkopf behalten: Wie hat man am Anfang diese Störung mit ihren Impulshandlungen betrachtet und wie hat man sie dann behandelt? Denn, nur wenn wir das tun, können wir erkennen, dass sich hierbei in den letzten Jahrzehnten auch etwas Fundementales verändert hat.
Selbstverletzendes Verhalten hat einfach eine gigantische zwischenmenschliche Wirkung… Der Satz: „Ich muss mich wieder schneiden“ oder die Handlung der Selbstverletzung rufen bei praktisch jedem Beobachter sofort intensive und auch abwehrende Reaktionen hervor:
Selbstverletzendes Verhalten ist das 5. Kriterium der Borderline- Persönlichkeitsstörung (F60.31): „wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmord-Androhungen, Selbstmord-Andeutungen oder Selbstverletzendes Verhalten.“ Dieses gleichzeitige Aufführen von suizidalen Handlungen und Selbstverletzungsverhalten in nur einem Kriterium ist eigentlich ein riesiges Problem. Denn die Abgrenzung ist überhaupt nicht klar und deutlich, sondern eher irreführend.
In der Realität müssen wir beides nämlich immer klar voneinander unterscheiden.
Selbstverletzendes Verhalten können wir als eine wiederholte selbst zugefügte, direkte, körperliche Verletzung beschreiben, die nicht (!) gezielt lebensbedrohlich ist. Wir müssen dies nämlich grundsätzlich und auch immer von einem Suizidversuch trennen! Das ist wichtig, denn wir finden selbstverletzendes Verhalten bei 73 – 85 % aller Personen mit einer Borderline – Persönlichkeitsstörung vor. Da dies so häufig vorkommt, dürfen wir uns auch keinen Fehler in diesem Punkt erlauben
In unserer deutschsprachigen Literatur finden wir noch weitere Begriffe wie z.B. Auto-Aggression, Auto-Destruktion, Selbst-Beschädigung oder einfach nur Selbstverletzung. Ich finde den Begriff „selbstverletzendes Verhalten“ für sich betrachtet recht gut,
Wie kann ein Arzt selbstverletzendes Verhalten durch Fragen diagnostizieren? Wir haben hier die zwei Fragebögen zur Hilfe
Die häufigste Form von Selbstverletzung ist
Selbstverletzendes Verhalten konzentriert sich, wie gesagt, sehr häufig auf die Arme und Beine. Die Bereiche von Kopf, Brust, Rumpf oder Genitalien sind deutlich seltener. Eine aktuelle Studie bestätigte diese Verteilung: 81 % Schnittverletzungen, 37 % Prellungen, 25 % Verbrennungen, 24 % Kratzverletzungen und 16 % Manipulationen von Wunden und Narben.
Die Intensität der Hautverletzungen variiert
Über die Verbreitung in der Bevölkerung liegen uns heute Studien aus der ganzen Welt vor. Aus Kanada, Großbritannien, Dänemark, Australien und in den Vereinigten Staaten. Diese bestehen auch aus sehr gut gemischten Gruppen – sodass die Aussagekraft dieser Studien gut fundiert ist. Den verschiedenen amerikanischen Studien liegen z.B. Informationen aus Gruppen von bis zu 100.000 Menschen vor. Wir können hier klar von einer starken Datenlage sprechen.
Was ist z.B. eine (von vielen) Erkenntnis aus diesen Studien?
„Man konnte unter anderem feststellen, dass die Häufung der Lebenszeit-Prävalenz (wie hoch ist die Chance / Gefahr dies zu bekommen) sehr unterschiedlich ist. Die Studien berichten von einer Häufung zwischen 4 % und 20 %.“ Sehr deutlich kommt jedoch die Geschlechter–Verteilung durch diese Studien zu Tage. Die normale Bevölkerung ist fast gleich aufgeteilt in Männer / Frauen.
Laut Wikipedia ist sie bei der Geburt 1,05 Männer 1,0 Frauen
Bei Borderline – Patienten liegt sie bei dem erschreckenden Wert von bis zu 9:1 zu Ungunsten der Frauen.
In Deutschland galt das selbstverletzende Verhalten bis in die 1980er Jahre noch als Beweis für eine schizophrene Psychose galt – die wir im ICD 10 unter F20 – F29 finden.
Zwischen 1980 und 1990 setzte sich dann immer mehr durch, dass selbstverletzendes Verhalten an sich eigentlich ein Beweis für eine Borderline – Persönlichkeitsstörung ist.
Nach 1990 galt dieses Symptom dann zeitweise als typisches Kennzeichen für Patientinnen mit einer Anamnese sexuellen Missbrauchs. Dieser fast schon zwanghafte Fokus (endlich hatte man ja einen Marker-Wert gefunden) war aber auch nicht korrekt.
Glücklicherweise sind die Studien heute sehr viel weiter und die Symptome werden auch durch die Medien – nicht zuletzt auch auf YouTube – immer bekannter.
Aktuell wird das selbstverletzende Verhalten als lediglich eines (!) der vielen Symptome, die im Jugend-Alter praktisch „erprobt“ werden und in dieser Altersstufe sehr weit verbreitet sind, angesehen.
In einer deutschen Studie an Schülern einer 9. Klasse zeigte es sich, dass 4 % fast schon regelmäßig selbstverletzendes Verhalten einsetzten, 11 % davon selten. Studien aus anderen Ländern zeigten eine noch höhere Prävalenz-Rate auf.
Gesellschaftlich hat selbstverletzendes Verhalten damit fast schon eine Bilderbuch-Karriere hinter sich.
„The coming of Age of Self-Mutilation“ (Das Kommen des Zeitalters der Selbstverstümmelung) betitelte Armando Favazza bereits 1988 einen seiner berühmten Artikel.
Selbstverletzendes Verhalten ist aber keineswegs nur auf Personen mit schweren Persönlichkeitsstörungen beschränkt. Nach der von dem österreichischen Psychiater Dr. Christian Scharfetter (1984) vorgeschlagenen Einteilung gehören die hierfür behandelten Menschen
Automutilation ist das Fachwort für eine mutwillige Beschädigung des eigenen Körpers.
Beim Borderliner sehen wir immer wieder, dass er seine Selbstverletzungen verheimlichen möchte. Dieses Kriterium des Verheimlichens gilt als ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen Artefakten (versehentliche Einwirkung) und den Para-Artefekten (ticartige Selbstbeschädigung nach Verlust der Impulskontrolle):
Sehr interessant sind folgende zwei Bücher zu dem Thema Haut / ihre Psychodynamik
Didier Anzieu beschreibt in „Das Haut–Ich“ in Anlehnung an Sigmund Freud die Haut als die körperliche, seelische und soziale Grenze und Fülle mit all seinen verschiedenen Funktionen.
Anne Maguire sieht „Hauterkrankungen als Botschaften der Seele“ an und leitet in einer geistigen Hommage an C. G. Jung die Gesundheit, die Pathologie und die seelische Bedeutung der Haut aus der Mythologie, der Religion und den Märchen ab.
Besonders stark verstümmelnd ist das selbstverletzende Verhalten oft bei psychotisch kranken Patienten zu beobachten. So drastische Selbstverletzungen wie Selbstkastration oder Enukleation (Entfernung) eines Auges – die finden sich praktisch nur bei dieser Gruppierung.
Auch hier sind die Arbeiten von Armando Favazza sehr hilfreich und geben einen tiefen Einblick in diese Handlungssymptomatik.
Selbstverletzendes Verhalten ist ein wichtiges Symptom bei Menschen mit geistiger Entwicklungsverzögerung, Minderbegabung und Autismus.
Völlig anders muss dieses selbstverletzende Verhalten jedoch bei Kindern und Jugendlichen betrachtet und auch diagnostiziert werden!
Die Grenzen zwischen einer sogenannten Normalität und einer kranken Handlung / einer Pathologie sind hier besonders fließend und sehr viel schwerer zu erkennen.
Selbstverletzendes Verhalten hat auch im Justizvollzug und bei der Vortäuschung von Straftaten seine ganz eigene Geschichte. Es kommt immer wieder vor, dass Verletzungen selbst beigebracht werden um zum Beispiel eine Straftat zu überdecken oder vorzutäuschen. Oder sie wird eingesetzt um zu einer Haft-Erleichterung oder zu einem Versicherungsbetrug beizutragen.
Selbst beigebrachte Verletzungen haben jedoch ganz typische eigene Merkmale und sind von einer Verletzung durch Dritte oft recht einfach abgrenzbar.
Gerade solche Verletzungen finden aber in den Medien ein viel zu großes Interesse, das der eigentlichen Bedeutung der Symptomatik selbstverletzenden Verhaltens – über das wir in diesem Beitrag nachdenken – gar nicht gerecht wird.
Ganz wichtige Bücher über die transkulturellen Aspekten von Selbstverletzung und kulturell geforderter Verletzung des meistens noch kindlichen oder jugendlichen Körper eines Angehörigen des eigenen Volkes sind zum Beispiel Bücher
Die Beschädigung des eigenen Körpers ist in verschiedenen Kulturen aber auch
All diese Handlungen mögen uns als recht bizarr erscheinen, sie dürfen aber auf keinem Fall grundsätzlich als krank bezeichnet werden. Ich denke hier mal an das „Vegetarische Festival“ auf Phuket wo die Selbstverstümmelung total offen zelebriert wird.
Aber auch Metall-Song-Bands wie
zeigten sich von einer Seite, die nur schwer als „nicht pathologisch“ einzustufen ist.
Die Skarifikation (das Zufügen von „Zier“-Narben) war früher in afrikanischen Stämmen sehr verbreitet. Sie wird heute zwar nicht mehr so intensiv, dennoch sichtbar praktiziert Wir unterscheiden hier zwischen dem „Cutting“ durch ein Skalpell und dem „Branding“ durch einen erhitzten Gegenstand. Skarifikation erfolgt aus ganz verschiedenen Gründen:
Bei einigen Stämmen soll sie an bestimmten Körperstellen vor spezifischen Krankheiten schützen. Bei anderen z.B. in Äthiopien dient sie als soziales Kennzeichen für die Genealogie / die Herkunft und Abstammung einer Frau, definiert ihre Rechte und macht sie zu etwas Heiligem, weil die Fruchtbarkeit der restlichen Gruppe besonders von ihr abhängt.
Verletzungen der Haut sind häufig sehr eng mit dem Zeitpunkt der Pubertät verbunden. Initiationsriten beinhalten bei vielen Naturvölkern kulturell aufgezwungene Verletzungen um den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter nach außen zu dokumentieren.
Männliche Beschneidung z.B. war und ist unter den Aborigines Australiens, im alten Ägypten, unter semitischen und arabischen Stämmen stark verbreitet. Die WHO schätzt, dass weltweit 30 % der Männer beschnitten sind.
Der Kontrolle der weiblichen Sexualität andererseits dient der Deformierung der weiblichen Geschlechtsorgane.
In vielen Ländern Nord – und Zentral Afrikas, in Teilen des Nahen Ostens, vereinzelt auch in Asien werden die Mädchen auch heute noch beschnitten. Das hört sich weit weg an. Leider ist aber auch in Deutschland immer häufiger dieses Thema akut – auch unter dem Aspekt der Zuwanderung….
Gemäß der Organisation „Terre des Femmes“ wurden in Deutschland im Jahr 2017 ca. 13.000 Mädchen an ihren Genitalien verstümmelt.
Besondere Bedeutung hat für viele Kulturen das Blut der Menstruation. Einige Stämme der Ureinwohner von Papua–Neuguinea (nach Indonesien und Madagaskar der flächenmäßig drittgrößte Inselstaat der Welt / im Pazifik gelegen) sind überzeugt, dass das Gebärmutter-Blut pathologisch / also krank ist. Reste davon bleiben bei der Geburt im Kreislaufsystem des Kindes vorhanden.
Während sich die Frauen durch die Menstruation regelmäßig selbst reinigen, müssen sich die Männer
In der Pubertät werden die Jungen dann von den erwachsenen Männern im Rahmen dieser Initiationsriten in die jeweilige Form der Selbstreinigung eingeführt.
Auch wenn es sich recht heftig anhört:
Sich selbstverletzendes Verhalten gehört zu einem gewissen Grad zu einer normalen Entwicklung in der Kindheit:
Solch ein Verhalten tritt vor allem in den ersten drei Lebensjahren auf. Besonders stark sogar im ersten Lebensjahr – so rund um den siebten und achten Monat. Dieses verschwindet dann bis zum fünften Lebensjahr fast immer vollständig.
Bei den meisten Kindern taucht dieses Verhalten auch nur beiläufig auf und das auch nur so schwach, dass es von den Eltern nur selten bemerkt wird.
Doch keine Regel ohne Ausnahmen: Bei manchen Kindern treten diese Verhaltensweisen dermaßen stark und auch anhaltend auf, dass sie bleibende Folgen nach sich ziehen können. Dies gilt besonders für deprivierte (also vernachlässigte) Kinder.
Aber all das zeigt, das autoaggressive Handlungen eigentlich zur normalen menschlichen Entwicklung gehören, die in den ersten Lebensjahren häufiger auftreten und sich im weiteren zeitlichen Lebensverlauf wieder zurückbildet.
Die Bedeutung von Blut und selbstverletzendes Verhalten bei der weiblichen Pubertät – auch in unserem Kulturkreis – hat bereits Annegret Eckhard in Ihrem Buch: „Im Krieg mit dem Körper“ (1994) dargestellt. Dieses Buch ist ein erschütterndes Werk darüber, was sich junge Menschen selber antun. Aber auch, was ihnen durch ihr allernächstes Umfeld angetan wird um z.B. in den sogenannten „Genuss“ von Sozialleistungen zu gelangen. Leider wird es meines Wissens nach nicht mehr neu aufgelegt.
Wird „selbstverletzendes Verhalten von Jugendlichen“ andererseits mal aus der Sicht der Traditionen und den vielen Initiationsriten aus betrachtet, dann ist die krankhafte Selbstverletzung nach Armando Favazza eine Handlung, die auch mal im Zusammenhang mit den „Entwicklungsaufgaben der Pubertät“ gesehen werden muss. Ja, die Pubertät hat wirklich Entwicklungsaufgaben 😊
Selbstverletzendes Verhalten in Form von Piercing beziehungsweise mehr oder weniger entstellenden „Mode–Ritualen“ sind sowohl in der Jugend, als auch bei Erwachsenen anzutreffen. Hierzu gehört auch das Tätowieren. Denn Tattoos können eine Gruppenzugehörigkeit dauerhaft in die Haut einspeichern und signalisieren dem Träger und seiner Umgebung dann eine gewisse Identität.
Zur der Punk–Kultur (die uns seit den 1970er Jahren begleitet) gehört ebenfalls sich selbst verletzendes Verhalten wie z.B. das Tragen von Rasierklingen.
Wenn man all das so hört und liest dann kommen unweigerlich weitere Fragen auf:
Damit wird sich dann der 2. Teil dieser Reihe beschäftigen:
Im 3. Teil werden wir uns dann mit Themen beschäftigen, die wesentlich tiefer in die Psychodynamik eingehen:
Selbstverletzung als
Aber auch als
Und im 4. und letzten Teil geht es dann um die vielen Therapievarianten wie z.B.
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