2.2. Die emotionale Kernposition
Nun bekommt ein Säugling dieses Pflegen und Streicheln – selbst in einer optimalen Umgebung – nicht ohne Unterbrechung. Mit welcher Auswirkung?
Seine Stimmung schwankt immer wieder hin und her zwischen einer Zufriedenheit und eine Unzufriedenheit.
In den ersten zwei Lebensjahren hat er ja noch keine richtigen Denkwerkzeuge (Worte und andere kognitive Hilfen) um sich mit Ihrer Hilfe eine Erklärung für dieses hin und her in seiner kleinen Welt aufzubauen.
Wir wissen heute, dass der Präfrontale Kortex diese Information erst ab dem circa 18. bis 24. Lebensmonat verarbeiten kann. Bis zu dem Zeitpunkt ist dieser Bereich des Gehirns noch sehr unreif.
Aber – das ist jetzt wichtig – das Gehirn zeichnet trotzdem sämtliche Gefühle auf die in Beziehung zwischen dem Säugling und seiner Umwelt, in erster Linie zwischen ihm und seiner Mutter, entstehen.
Diese Gefühle hängen ganz eng zusammen mit dem Zustand des gestreichelt werden/nicht gestreichelt werden.
Das Kind denkt: „wer streichelt ist okay.“ Die Einschätzung über seine eigene Person des Säuglings selber ist noch unsicher, weil seine okay Gefühle ja nicht permanent sind. Sie sind nur vorübergehend und werden immer wieder durch „nicht okay Gefühle“ ersetzt.
Und was ist die Folge? Wenn seine nicht okay Gefühle immer wieder kommen dann wird irgendwann die Überzeugung übermächtig: „ich bin nicht okay.“
In welchem Alter ist diese Anschauung „ich bin nicht okay – ihr seid okay“ für das Kind nun gültig?
Genau mit dieser Frage hat sich der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896 – 1980) Zeit seines Lebens beschäftigt.
Gemäß seinen Untersuchungen
- beginnt der Säugling dieses Bewusstsein über den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung schon in den ersten Lebensmonaten und ist am Ende des zweiten Lebensjahres (unsere berühmten 24 Lebensmonate) voll entwickelt.
- Am Anfang des Lebens stürmen unzählige Eindrücke wild durcheinander auf das kleine Kind ein.
- Dann erkennt das Kind in diesem Chaos immer mehr einzelne Anhaltspunkte.
- Durch Wiederholungen prägen Sie sich in ihrer zeitlichen Abfolge ein,
- bis aus diesen Informationen bestimmte Erfahrungsmuster erkennbar werden die noch vor (!) dem Spracherwerb des Kindes zu einer Grundhaltung, einer Lebensanschauung zu einer prälogischen Schlussfolgerung führen.
In diesen ersten 24 Lebensmonaten wird das geboren, was wir als die Lebensanschauung des Menschen bezeichnen.
Hat sich der kleine Mensch einmal für eine bestimmte Anschauung entschieden, hat er endlich eine feste Ausgangsposition, die weitere Voraussagen möglich macht.
Nochmals: die aller häufigste erste Lebensanschauung von einem kleinen Menschen ist: „ich bin nicht okay – du (meine Mutter) bist okay.
Jean Piaget sagte hierzu:
Diese ersten geistigen Prozesse sind noch nicht in der Lage, Wahrheiten zu erkennen. Sie sind auf den Wunsch nach Erfolg oder Anpassung beschränkt.
Übersetzt könnten Sie lauten: „Wenn ich nicht okay bin aber du okay bist, was kann ich dann tun, dass du, eine okay Person, gut zu mir bist zu einer nicht okay Person?“
Wir als Erwachsene würden jetzt sagen, dass dies eine sehr schlechte Ausgangsposition ist. Für das kleine Kind ist dies aber immerhin besser als nichts! Es entsteht erst einmal ein Gleichgewichtszustand.
Das sogenannte Erwachsenen-Ich in dem kleinen Menschen hat es zum ersten Mal geschafft, dem Leben einen Sinn zu geben:
- die Einstellungen gegenüber Anderen
- und die Einstellung gegenüber sich selbst.
Der Psychologe Alfred Adler nannte dies „die Einstellung gegenüber anderen“ als das zentrale Lebensproblem welches ein junger Mensch mit dieser Überlegung löst.
Lawrence Kubie (1896 – 1973) war ein amerikanischer Psychiater. Zu seinen Patienten gehörten zum Beispiel auch Leonard Bernstein und Tennessee Williams. Er hat diesen Vorgang des Lernens oder des Beziehens einer Position einmal sehr schön formuliert:
- Während der ersten Lebensmonate wird eine emotionale Kernposition bezogen.
- Ist diese emotionale Kernposition einmal gefestigt dann wird sie später genau die Position, auf welche sich der Mensch in einer Regression automatisch zurückziehen wird während seines gesamten Lebens.
Diese Kernposition kann entweder zu stärksten oder zur schwächsten und verwundbarsten Stelle in seinem Leben werden.
Beinhaltet diese emotionale Kernposition schmerzhafte Konflikte dann muss ich die Person ein Leben lang dagegen zur Wehr setzen.
Dies bindet nicht nur Kraft, sondern behindert einen auch noch, weil sich die Person meistens kleinkindhafte, vorbewusster oder auch unbewusster Taktiken bedient, um diesen Unruheherd im Inneren abzuschirmen.
Kommt Dir hier das Leben des Borderliners wieder in Erinnerung?