Schriftzug Marcsu Jähn

Dialog mit einem Borderliner (2) Die Spaltung

Teil 1 – Was ist diese Spaltung?

Kriterien der Borderline Persönlichkeitsstörung nach ICD10 F60.31Die Spaltung (eines der Kennzeichen von Borderline) ist im Grunde genommen nichts Anderes als ein dissoziativer / abgespaltener Teil der Persönlichkeit – also ein nur sehr rudimentär ausgeprägter Abwehrmechanismus. Dieser Teil entsteht in der frühen Kindheit (0-3 Jahre). In den ersten Monaten nach der Geburt sieht das Baby die Mutter und sich noch als Einheit (was sie ja damals im Bauch auch waren).

Das Baby bildet also mit der Mutter eine Symbiose und ist voll und ganz auf das liebevolle Umsorgen der Eltern angewiesen. Es ist abhängig von deren Liebe und Versorgung. Ist diese nicht gegeben, „stirbt das Baby“.

Im Laufe des weiteren Lebens lernt das Baby eigene Ich-Grenzen zu entwickeln und die primären Bezugspersonen als eine eigenständige Einheit wahrzunehmen. Im Idealfall lernt das Kind im Verlauf, dass Mutter und Vater positive und negative Eigenschaften haben. Dabei lernt das Kind, dass es manchmal Streit gibt, man sich aber danach gegenseitig entschuldigt und alles wieder gut ist. Dieser Streit ist dann für das Kind trotzdem noch vorhersehbar. Das Kind braucht keine Angst haben, dass es misshandelt wird. Es herrscht „eine gesunde Streitkultur“.

In der Familie des späteren Borderliners läuft das in der Regel anders. Häufig ist es so, dass nicht auf die Bedürfnisse das Babys reagiert wird. Ein Baby hat oft nur die Möglichkeit durch sein Weinen zu kommunizieren. Reagiert die primäre Bezugsperson nicht, lernt das Baby: „Ich bin in Lebensgefahr, aber keiner kommt und hilft mir“. Das Baby hört dann irgendwann auf zu schreien und resigniert.

Reagiert die Bezugsperson jedoch mit Gewalt, lernt das Kind nicht nur, dass es nicht versorgt wird, es lernt außerdem, dass das Äußern der Bedürfnisse, bei der engsten Bezugsperson, also der Person, die das Baby eigentlich beschützen soll, ein hohes Sicherheitsrisiko für das eigene Leben ist. Das ist ein Teufelskreis! Denn, zum Einen muss das Baby die lebenswichtigen Bedürfnisse kommunizieren, um sie erfüllt zu bekommen und damit das Überleben sichern, zum Anderen stellt die einzige Person, die die Bedürfnisse erfüllen kann ein hohes Risiko für den Körper und die Seele dar.

Die Folge davon?

Um die seelischen und körperlichen Misshandlungen auszuhalten, lernt der spätere Borderliner ganz früh zu spalten. Er nimmt damit Mama und Papa, wenn sie dem Kind Liebe schenken oder nicht gewalttätig sind, als „nur gut“ war. An den negativen Beziehungspart kann sich das Kind nicht, oder gefühlsmäßig nicht erinnern. Ebenso verhält es sich, wenn sich die primären Bezugspersonen (hiermit sind in der Regel die eigenen Eltern gemeint) gewalttätig verhalten. Dann kann sich das Kind nicht mehr an die schönen Zeiten erinnern, oder fühlt sich von diesen „abgespalten“. Kognitiv kann man sich erinnern … aber das Gefühl bleibt aus.

👉 Ich versuche das nun anhand von mehreren Beispielen aus meiner eigenen Familie zu verdeutlichen und beschreibe dabei erstmal meine Herkunfts-Familienstruktur ganz allgemein.

Mein Vater

Er war 45 Jahre alt, als er mich bekommen hat und war vorher (also vor meiner Mutter) mit einer alkoholabhängigen Frau verheiratet und hatte selbst ein Alkoholproblem. Als er meine Mutter heiratete, war er aber zu diesem Zeitpunkt “trocken“. Also ich kenne ihn nicht betrunken und habe ihn auch bis heute keinen Schluck trinken sehen. Mein Vater kommt aus einer Familie (Kriegsgeneration), die ebenfalls sehr persönlichkeitsauffällige Menschen beinhaltete. Sein eigener Vater ist bereits früh gestorben und er lebte nicht bei seiner Mutter, sondern wurde – kurz gesagt – immer „weiter gereicht“. Er hatte nur wenig Stabilität im Leben. Aus meiner Sicht haben seine Schwester und er sich in eine stark narzisstische Richtung entwickelt.

Ich bin zwar kein Arzt und darf nicht sagen, dass es sich um eine narzisstische Persönlichkeitspathologie handelt, gehe aber auf Grund meines Wissens über Persönlichkeitsstörungen stark von dieser Vermutung aus.

Das heißt, mein Vater konnte in dem einen Moment sehr nett sein, ist jedoch im nächsten Moment komplett ausgerastet; hat beleidigt und manchmal (eher selten) auch geschlagen – vorzugsweise dann mit der flachen Hand ins Gesicht. Es sind dann regelmäßig Sätze mir gegenüber gefallen wie „du dreckige Lügnerin“ oder „du dreckige Sau“ u.ä. Danach wurde dann aber nicht mehr drüber gesprochen, und er hat es regelmäßig – eigentlich immer – so hingestellt, dass ich an der Situation Schuld sei. Die Situation konnte also nicht aufgelöst werden. Die Schuld wurde auf mich projiziert.

Ich gehe davon aus, dass mein Vater die Verantwortung für sein Handeln nicht übernehmen konnte, da er dies mit seinem eigenen Selbstkonzept nicht vereinbaren konnte. Ich konnte die Misshandlungen nicht mit dem Teil meines Vaters verbinden, der sehr nett war. Und damit das Gehirn nicht ständig im Überlebensmodus ist, gibt es dann die Spaltung. Das bedeutet, dass ich mich in den “nur guten Phasen” entspannen konnte und dort die Stresshormone herunterfahren lassen konnte.

Meine Mutter:

Meine Mutter hat mich – ein Einzelkind – mit 40 Jahren bekommen. Sie hingegen ist aus meiner Sicht – wie könnte es anders sein –  der komplett gegenteilige Part in der Beziehung meiner Eltern. Sie hat -meiner Meinung nach- einen stark dependenten und ebenfalls sehr verdrängenden Persönlichkeitsstil. Das heißt, selbst wenn sie die Gewalt mitbekommen hat, hat sie diese dann vergessen oder verdrängt… Sie berichtet zum Beispiel, dass sie sich an kaum etwas aus ihrer eigenen Jugend erinnern kann.

Wenn man sich dann aber mal ihre Brüder anschaut, dann ist der eine eher sehr kühl und rational und kaum zu einer Gefühlsregung fähig und der andere Bruder laut, impulsiv und sehr schnell extrem wütend. Auch ihre Herkunfts-Familie ist also ebenfalls zerstritten, genauso wie die meines Vaters. Und sowohl meine Mutter als auch mein Vater haben um jeden Preis versucht, den Familienfrieden in ihren Herkunftsfamilien wieder herzustellen, auch wenn sie dabei extrem beleidigt und missachtet worden sind. Ihre Grenzen wurden nie respektiert, sodass sie selber ihre Grenzen nicht kennengelernt haben.

 👉Was ist die Folge davon gewesen? Auch innerhalb der eigenen Ehe gehen meine Eltern wenig liebevoll miteinander um. Ich habe sie noch nie kuscheln gesehen, sich küssen oder Händchenhalten. Ich hoffe, dass ihr euch etwas in die Stimmung dieser / meiner Familie einfühlen könnt.

Bei mir ist die Spaltung dadurch entstanden, 

  • dass mein Vater (der in meiner Kindheit meine primäre Bezugsperson war und „auf mich aufgepasst hat“, da meine Mutter immer am arbeiten war) mich misshandelt hat
  • meine Mutter das toleriert hat
  • jedoch bei ihm geblieben ist und ihn praktisch nie in seine Schranken verwiesen hat (Meine Mutter hat aber auch toleriert, wenn er sie beleidigt hat).

Ihrer Meinung nach sollten wir das unter uns klären. Es gab z.B. Situationen, in denen mein Vater wegen Kleinigkeiten extrem laut geworden ist und mir Schläge angedroht hat. Meistens lag der Grund für seine extreme Wut im Außen. Wenn er zum Beispiel mit jemanden Stress hatte, konnte er es dort, bei dieser Person, nicht äußern, sondern hat das dann – ganz im Sinne einer Projektion – an mir ausgelassen. Für mich war das absolut unberechenbar. So gab es auch mal eine Situation, da hab ich im Zimmer mit Bauklötzen gespielt. Er ist reingekommen und hat gefragt ob ich seinen Kleberdeckel habe. Ich habe „nein“ gesagt, was er mir nicht geglaubt und mich daraufhin geschlagen und mich angebrüllt hat. Später kam dann jedoch raus, dass er den Deckel selber verlegt hatte. Aber entschuldigt, oder das Thema nochmal aufgegriffen hat er dann nie, sondern ist dabei geblieben, dass ich Schuld bin. Wenn ich gefragt habe, ob wir nochmal über das Thema reden können, hat er nur wütend gefragt, ob ich es nochmal darauf anlegen möchte ihn sauer zu machen und zu provozieren.

Das alles hört sich so simpel und unscheinbar an. Aber: es gab jeden Tag unzählige dieser Situationen, bis ich dann später ins Kinderheim gekommen bzw. freiwillig gegangen bin, da ich psychisch immer auffälliger wurde und mir den Scheiß nicht mehr gefallen ließ.

Seit der frühen Kindheit gab es diesen Vater, der

  • einerseits sehr nett war, wenn alles nach seiner Nase lief und er nicht im Stress war
  • und der andererseits völlig unberechenbar war, wenn auch nur eine Klitze-kleine-Kleinigkeit nicht nach seiner Nase gelaufen ist. Völlig egal wer das verursacht hat, oder ob überhaupt jemand etwas dafür konnte.

 

Teil 2 – Aspekte der Spaltung

Damit ich so eine Lebenssituation / so eine Scheiße überhaupt überleben konnte, musste ich (vorerst) in der Spaltung bleiben. Das hat mir geholfen, zumindest halbwegs normal und den Umständen entsprechend gut zu funktionieren. Ich habe mich dadurch an meine Umwelt angepasst und dabei gab es verschiedenen Aspekte der Spaltung.

2.1. Zum einen natürlich das Idealisieren und Entwerten.

Wenn mein Vater auf der negativen Seite war, habe ich ihn wirklich gehasst. Ich konnte nicht mehr spüren, dass ja nicht all seine Charakterzüge schlecht waren. Ich konnte mich zwar logisch und kognitiv daran erinnern, aber es waren absolut keine Gefühle zu den positiven Erinnerungen mehr da. Für mich war er ab dann nur noch der Mensch, der mich ständig misshandelt und der die Schuld nur bei anderen sieht und niemand anderes.

Dementsprechend habe ich in meiner Pubertät mit extremer Wut und Beleidigungen im gegenüber reagiert. Ich bin komplett außer (seiner) Kontrolle geraten, bin ausgerastet und habe mich an keine einzige Regel oder Absprache mehr gehalten. Mein Aussehen hat sich innerhalb weniger Wochen vom “lieben Mädchen” hin zum Punk entwickelt.

Meine Mutter war für mich in meinen Augen so gut wie immer der „Nur-Gute-Part“. Das lag daran, dass sie mich nicht geschlagen und nicht so offensichtlich beleidigt hat. Ihre verbalen Misshandlungen und destruktiven Verhaltensweisen liefen (im Nachhinein betrachtet) perfider und weniger fassbar ab. Ich habe alles, was sie getan oder gesagt hat idealisiert. Erst heute weiß ich, dass ihre Rolle auf andere Art und Weise misshandelnd war. Sie hat mich durch ihr Verhalten

  • nicht geschützt,
  • hat total ambivalent kommuniziert
  • und war ebenfalls emotional nicht dazu in der Lage Liebe zu geben.

Das konnte ich als Kind jedoch nicht so sehen und ich dachte ich muss mir nur mehr Mühe geben, um sie vor meinem Vater zu beschützen und ihr mehr helfen, aus dieser Ehe rauszukommen. Sie hat sich ständig bei mir über ihre furchtbare Ehe ausgeweint, hat meinen Vater „einen Arsch“ genannt und war total hilflos und verzweifelt. Ich habe ihr als Kind/ Jugendliche geraten sich zu trennen, aber das hat sie bis heute nicht getan, obwohl sie immer wieder davon gesprochen hat. Ich dachte, mein Vater sei der Böse, meine Mutter die Gute. Ein typisches „Schwarz/ Weiß“ Denkmuster aus der Spaltung. Aber dass dieses System aus Charaktereigenschaften nur zusammen auf diese Weise funktionieren kann, habe ich nicht gesehen.

2.2. Innere Leere / verschiedene Persönlichkeitsanteile

Wie ich bereits weiter oben beschrieben habe, habe ich auch im Allgemeinen meine Gefühle komplett abgespalten. Das bedeutet, dass ich die meiste Zeit gar nichts – außer ein Taubheitsgefühl und eine starke innere Leere – gespürt habe. Zum ersten Mal ist mir das bereits in meiner Zeit im Kindergarten aufgefallen. Ich habe festgestellt, dass ich „anders bin“ als die anderen Kinder,

  • dass ich zu ihnen gar keine Connection / keine Verbindung aufbauen konnte,
  • dass ich nichts fühlen konnte.

Bereits in diesen jungen Jahren im Kindergarten kamen die ersten Suizidgedanken. Es war zwar kein aktives suizidales Handeln, aber ich habe schon da gedacht, dass es besser wäre, wenn ich tot sei. In diesem Alter habe ich das aber noch überspielt und wurde von den Erzieherinnen als sehr ruhig und zurückhaltend beschrieben. Meine Eltern konnten das gar nicht verstehen, da ich zuhause – nach ihren Aussagen – immer „aufbrausend und tyrannisch“ sei. Auch daran ist die Spaltung erkennbar: Im Kindergarten war ich gefühlstaub und leise und zuhause wütend und laut.

In der Zeit der Grundschule war es ähnlich: Mein Lehrer berichtete meinen Eltern sogar, dass ich häufig gar nicht ansprechbar gewesen und in „meiner eigenen Welt“ gewesen wäre. Dort ist es sogar so weit gegangen, dass ich die gesamte Realität abgespalten habe, dass meine Emotionen und Reaktionen gar nicht mehr zur Situation passten.

Der Nutzen solch einer Spaltung dient dabei der Reduzierung von Angst. Unser Gehirn ist nicht überlebensfähig, wenn es sich die ganze Zeit, über Jahre, hormontechnisch in einem Überlebensmodus befindet. In der Kindheit ist Spaltung also etwas sehr Gesundes und auch etwas, was jedes Kind in einem gewissen Ausmaß tut – nur nicht so intensiv wie der zukünftige Borderliner.

Teil 3 – Spaltung in meinem Erwachsenenalter

Was in der Kindheit noch sehr sinnvoll sein kann, ist im Erwachsenenalter oft sehr beziehungsschädigend und auch problematisch. Manche Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeit / oder auch Borderline-Struktur genannt, gehen gar keine Partnerschaften ein. Dies kann verschiedene Gründe haben. In erster Linie aber, weil das Urvertrauen in andere Menschen bis ins tiefste Mark erschüttert wurde. Andere Betroffene verhalten sich genau gegenteilig. Sie befinden sich dauerhaft in Beziehungen oder haben diverse Geschlechtspartner*innen, weil sie entweder das Alleine-Sein nicht aushalten, oder aber auch aus Gründen der Selbstverletzung, wenn sie z.B. mit Personen schlafen, die sie nicht mögen.

Meine persönliche Situation:

Ich bin jetzt über 30 und befinde mich in meiner zweiten Beziehung. Ich habe erst recht spät mit dem Daten etc. angefangen – so ungefähr mit 25/26 Jahren – da ich davor nicht wirklich in der Lage war gesunde Beziehungen zu führen, oder tiefere, stabile, konstante Gefühle für eine Person zu entwickeln. Mir war es wichtig, dass ich erstmal ohne einen Partner halbwegs im Leben klarkomme. In meiner ersten Beziehung habe ich noch sehr stark gespalten.

Ich habe aber auch erst kurze Zeit nach Beziehungsbeginn meine Diagnose erhalten und war erstmal echt überfordert. Damals war ein großer Teil meiner Spaltung, dass ich extreme Angst hatte verlassen zu werden, wenn sich die Person nicht zum vereinbarten Zeitpunkt gemeldet hat. Und weil ich Angst damals weder richtig spüren noch richtig einordnen konnte, hat sich dann dieses unbestimmte Gefühl in einer Wut geäußert.

Irgendwann haben wir uns dann getrennt und ich habe mich erstmal nicht auf die Suche begeben. Ich habe dann 1,5 Jahre erstmal an mir gearbeitet, mein Studium beendet, und verstanden, warum ich so bin, wie ich bin. Ich habe mir die Zeit genommen, um zu schauen, was ich an meinem Verhalten verbessern kann.

Dann kam vor ein paar Jahren – ganz unerwartet – mein jetziger Partner in mein Leben. Wir haben von Anfang an sehr offen über unsere jeweiligen psychischen Probleme gesprochen. Am Anfang war erstmal noch alles easy und die Symptomatik gering. Doch je näher wir mit der Zeit zusammen gerutscht sind, desto immenser wurden meine Gefühle. Viel stärker als damals, als Single.

Als wir noch nicht zusammenwohnten, haben wir abends immer geskyped. Ich bin dann komplett zusammengebrochen und hatte riesige Angst, wenn er mal nicht abgenommen hat. Das war Todesangst… Objektiv wusste ich damals schon, dass er wahrscheinlich einfach nur eingeschlafen ist. Aber etwas in mir war sich sicher,  verlassen zu werden, ihm nicht wichtig zu sein, etc.

Kurz gesagt, ich hab in meiner Hilflosigkeit verrückten Scheiß gemacht und ihn mit Nachrichten zugetextet, dass ich ihm nicht wichtig bin … und so weiter. In meinem Kopf war er weg und ich wieder Single. Dann ist er aufgewacht und hat mich natürlich angerufen. Ich habe mich natürlich zu Tode geschämt für all die Nachrichten, weil er jetzt auf einmal wieder mein liebevoller Lieblingsmensch war und ich ihm weh getan hatte. Ich habe versucht ihm das zu erklären und er war zum Glück nie sauer.

Wir haben dann die Regel festgelegt, dass wir uns nicht mehr über Messenger Dienste schreiben und uns erstmal gegenseitig blockieren, da wir festgestellt haben, dass die Bindung eher wieder hergestellt wird, wenn wir uns (auch wenn es nur via Video ist) in die Augen schauen können. In diesem Moment habe ich dann auch begriffen, dass er da ist, nicht geht und ich konnte seine Emotionen aus seiner Mimik ablesen.

So sind wir im Laufe der Jahre viele Borderline-spezifischen Herausforderungen innerhalb unserer Beziehung angegangen.

  • Ich habe meinen Partner mit in meine Skills und Skillsketten eingebunden,
  • wir haben feste Rituale für bestimmte Symptome
  • und reden beide offen über unsere Gefühle.

So kann ich ihn einfach besser verstehen und ihm eine Unterstützung sein, genauso wie er mir eine ist.

Ich habe zum Beispiel immer wieder das starke – nahezu übermächtige Gefühl – ganz alleine auf der Welt zu sein. Er kann dabei sogar neben mir sitzen und ich fange trotzdem total an zu heulen, weil ich mir nichts sehnlicher als eine heile und liebevolle Familie wünsche. Ich kann dann nicht mehr sehen, dass meine heile und liebevolle Familie neben mir sitzt, sondern ich betrauere intensiv meine Herkunftsfamilie und dass wir nie eine liebevolle Familie waren und auch nicht sein werden. Ich betrauere die Liebe, die ich nie hatte.

Unser Ablauf ist dann z.B. folgender:

  • Ich hole mir erstmal ein Kühlpack, das ich in mein Gesicht halte, bis ich wieder klar denken kann.
  • Dann trinken wir gemeinsam einen Tee.
  • Er nimmt mich in seine Arme und ich darf weinen.

Das machen wir so lange bis meine Emotionen wieder abgeklungen sind. Mittlerweile sind wir so geübt, dass die Emotionen meistens nicht mehr so extrem hochkochen (sich also z.B. in Wut äußern) und sich negativ auf die Beziehung auswirken.

Wenn er seine eigene (!) Symptomatik hat, machen wir es ähnlich.

  • Es gibt einen vorab besprochenen und aufgeschrieben Ablauf, der dann eingehalten wird.
  • Das meiste haben wir in einem Beziehungsbuch oder auf Kärtchen stehen, damit man jederzeit nachsehen kann.

Das funktioniert allerdings nur, weil wir von Anfang an innerhalb der Beziehung eine gute Streitkultur hatten. Das heißt, dass trotz der jeweiligen Symptomatik die andere Person nicht in ihrer Würde verletzt, beleidigt oder ähnlich behandelt wird.

Wir entschuldigen uns gegenseitig regelmäßig und versuchen ernsthaft (!) etwas an dem eigenen destruktiven Verhalten zu verändern.

Dadurch, dass wir immer wieder einen klar definierten und konkreten Ablauf in bestimmten Situationen hatten, konnte ich irgendwann auch in einer emotional aufgeladenen Situation fühlen, dass ich meinen Freund liebe, selbst wenn wir gerade diskutieren. Die Spaltung ist durch das Training also weniger geworden in solchen Momenten.

Mein Gehirn hat sich dann gar nicht mehr so extrem in den Überlebensmodus geschaltet. Ich habe gelernt, dass wir verschiedener Meinung sein können und uns trotzdem lieben können und niemand den Anderen verlässt. Am Ende haben wir dann regelmäßig – mit ruhigem Kopf – über das Erlebte gesprochen. Wir haben dann darauf geachtet, dass wir uns nicht gegenseitig die Schuld zuschieben, sondern über die dahinterliegenden Gefühle sprechen. Die Spaltung hat sich dadurch in großen Teilen innerhalb der Beziehung aufgelöst. Und mit den intensiven Gefühlen haben wir einen guten gemeinsamen Weg gefunden.

Meine Beobachtung:

Was mir in meiner eigenen Geschichte jedoch auffällt ist, dass ich in keiner anderen Beziehung mit so einer immensen Aggressivität reagiert habe, wie in der Beziehung zu meinen Eltern. Nirgendwo habe ich mich so alleingelassen gefühlt, dass ich das in körperlichen Aggressionen, wie z.B. Türen eintreten, ausagiert habe. Ich bin zwar gegen keinen Menschen gewalttätig geworden, aber das Mobiliar hat dennoch stark gelitten. Manchmal bin ich damals sogar mehrmals am Tag ausgetickt. Ich habe mich so hilflos und alleine gefühlt. Leider hat jedoch niemand reagiert, wenn ich diese Gefühle geäußert habe. Am Ende hat sich das dann in eine unermessliche, kaum zu kontrollierende Wut gesteigert.

Innerhalb meiner Herkunftsfamilie sind die Spaltungsmechanismen im gesamten Familiensystem immer noch aktiv, weswegen ich in den letzten 2 Jahren nur sehr wenig Kontakt hatte. Kommt ein Kontakt trotzdem zwischendurch zustande, dann fällt es auch meinem Freund auf, dass ich sofort wieder in meine alten Handlungs-Muster verfalle. Er sieht dann auch, wie ich meine Mutter stark idealisiere, obwohl unsere Beziehung sehr angespannt ist, da sie sich weniger offensiv missbräuchlich verhält. Ich habe dann aber trotzdem sehr intensive Schuldgefühle, weil ich es ja war, die den Kontakt auf ein Minimum reduziert hat. Ich kann in diesem Moment nicht fühlen, dass auch sie Schuld an allem hat, da sie mich damals nie beschützt hat. Ihre Worte: „Ich habe die Gewalt doch nie wirklich mitbekommen“.  Außerdem beleidigt sie manchmal meinen Körper und mein Aussehen, um gleich im nächsten Moment zu sagen, dass ich gut so bin, wie ich bin. Sie sagt das Eine und tut dann das Gegenteilige.

Kognitiv weiß ich zwar immer, dass sie auch kein gesundes Bindungsmuster hat und ich schon sehr unter ihren Verhaltensweisen gelitten habe, aber ich habe dann null Verbindung zu meinen Gefühlen. Trotz meines Verständnisses, meines Alters, meines Wissens und auch des Abstandes fühle ich dann nur, dass sie immer alles für mich getan hat und ich eine schlechte, undankbare und hässliche Tochter bin.

Und was auch noch auffällt ist – wenn ich in diesem Modus bin – dass ich meinen Körper nicht mehr vernünftig spüren kann (hab mich z.B. öfter versehentlich an zu heißem Badewasser verbrannt etc.) . Es ist dann wieder genau der gleiche Modus wie damals, als ich noch ein Kind war.

Das ist zum Beispiel etwas, da arbeiten wir gerade dran, indem ich mich in revidierenden Beziehungen übe und selbst liebevoll und wohlwollend mit mir umgehe. Auch hier sieht man, dass die kindlichen Gefühlsanteile aus der Vergangenheit auch im Erwachsenenalter immer noch aktiv sind. Dementsprechend weiß ich zwar kognitiv, dass ich gerade kein schlechter Mensch bin, aber mein Gefühl sagt mir das genaue Gegenteil. Eine typische Dissonanz, die sich in Dissoziation und Depersonalisation äußert.

Teil 4 – Wie kann man als betroffene Person eine Integration der abgespaltenen Gefühlsanteile herbeiführen?

4.1. Ich denke, da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Zum einen sind dies diverse Therapieformen, wie z.B. die Dialektisch Behaviorale Therapie nach Marsha Linehan, die Schematherapie nach Jeffrey Young oder die Mentalisierungsbasierte Therapie nach Fonagy und Bateman.

4.2. Mir persönlich hilft es, einen Stopp zu setzen und meine App zu nutzen, sobald ich Anzeichen von Borderline-spezifischen Verhalten bemerke.

Solch ein Stopp bezieht z.B.

  • ein achtsames Durchzuatmen mit ein,
  • die Situation abzuchecken
  • und zu schauen, was ich denke.

Ich stelle mir dann die Frage ob das was ich denke Fakt ist, oder nur meine subjektive Meinung. Dabei geht es darum zu fühlen, wie sich der Körper anfühlt, und seine Wahrnehmung ggf. In Frage zu stellen, bevor gehandelt wird. Das ist z.B. bei Wut hilfreich, oder bei mir eher bei dem Gefühl der absoluten Hilflosigkeit. Wut habe ich eigentlich nicht mehr.

4.3. Was mir auch hilft, sind Temperaturwechsel, das fährt die Intensität meiner Gefühle immens runter.

4.4. Oder das gegenteilige Handeln, insbesondere wenn ich z.B. merke, dass es meinem Körper nicht gut geht, weil ich z.B. eine Grippe habe, aber nicht “faul” sein und mich hinlegen kann. Dann versuche ich das Gegenteil vom eigentlichen Impuls zu tun.

Dabei geht es darum, dass die kindlichen Gefühlsanteile, welche durch ein invalidierendes Umfeld stark negativ beeinflusst wurden, heute zwar gesehen und wahrgenommen werden, aber nach Möglichkeit nicht mehr nach ihnen gehandelt wird. Es geht zwar darum beide Seiten; also in dem Fall die Seiten: “Ich bin faul, weil ich mich hinlege und ich tue meinem Körper etwas Gutes, damit er schnell wieder gesund wird” zu erkennen und dann nach dem gesünderen Muster zu handeln.

Ich habe das öfter gemacht und so gelernt, dass beide Gefühle gleichzeitig da sind…und auch erstmal noch ok sind…ich aber nach dem “erwachsenen gesunden Anteil” handeln kann. Seitdem ich das öfter gemacht habe, ist es leichter geworden, da sich auch dort eine gewisse Routine eingeschlichen hat. Mein Freund spricht mich aber auch darauf an, wenn er Anzeichen bemerkt, sodass ich rechtzeitig reagieren kann.

4.5. Partnerschaft: Dadurch, dass ich mit meinem Freund zusammen bin und er aus einer bindungsstarken Familie kommt, konnte ich im Verlauf der Beziehung Einiges von ihm lernen.

Mein Hauptmerkmal ist ja die Angst vor dem Verlassenwerden, was zu heftigen Reaktionen meinerseits geführt hat. Mein Freund hat mir immer signalisiert, dass er nicht gehen wird. Trotzdem hat es lange gedauert, bis das in meiner Gefühlswelt angekommen ist. Das – was wir damals gemacht haben – ist über unsere jeweiligen Gefühle zu sprechen, wenn ich so Angst hatte. Dadurch sind mir seine Gefühle klar geworden, und ich habe festgestellt, dass meine Interpretation manchmal echt komplett daneben lag. Ich habe angefangen ihn als Ganzes wahrzunehmen mit guten und schlechten Seiten. Dadurch, dass er mir auch seine Gefühle erzählt hat, war er für mich berechenbar und verletzlich, was ihn für mich einfach nur mehr liebenswert gemacht hat.

In den Momenten der totalen Angst war es für mich wichtig, dass er meine Gefühle nicht als dumm oder dramatisch abgetan hat, sondern sie validiert hat und mit mir gemeinsam geübt hat die Situation ins Positive zu verändern. In dieser Beziehung ist meine Amygdala nicht mehr im Dauerstress, weil ich ständig verhindern muss, verlassen zu werden. Ich bin sehr viel ruhiger und liebevoller mit meinem Freund und dadurch auch mit mir selbst.

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Kommunikation mit einem Borderliner

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Lassen Sie uns miteinander ins Gespräch kommen. 

Marcus Jähn Werde wieder stark durch CoachingEs sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang Borderline oder einer anderen belastenden Störung, aber auch über Future Faking, Love Bombing und Gaslighting die immer häufiger in unsere Gesellschaft zu beobachten sind. 

  • Was ist das eigentlich, eine Persönlichkeitsstörung, ein Perfektionismus, ein Spaltung oder eine Gegenübertragung?
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  • Ist eine Kommunikation mit einem Borderliner möglich? Wie hilft hier die U.M.W.E.G.-Methode©? 
  • Kann ich meine Bindungsangst oder Verlustangst irgendwann einmal kontrollieren?
  • Was kann ich tun, wenn ich mich gerade in einer Trennung befinde, oder kurz davor bin?


Ich möchte aber nicht nur über Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:

  • Eine humorvoll und spielerisch – ja fast tänzerisch – eingesetzte Gewaltfreie Kommunikation in Kombination mit der von mir entwickelten 
  • U.M.W.E.G.-Methode© und nicht zuletzt die Transaktionsanalyse als Sprachkonzept können helfen, auch in schwierigen Situationen noch kühlen Kopf zu bewahren. 

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