Schriftzug Marcsu Jähn

Ist es nun Borderline oder eine Depression?

Die Differenzierung zwischen einer Depression und einer chronischen Dysthymie (bei Borderline–Persönlichkeitsstörungen ist nicht so ganz einfach – ist aber grundsätzlich möglich!

Es ist möglich, wenn dem Arzt ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um ganz wichtige Symptome voneinander abzuklären

Ich möchte 3 Bereiche einmal aufzeigen durch welche wir eine Borderline – Persönlichkeitsstörung von einer Major Depression unterscheiden können.

      1. die psychischen Symptome
      2. Das jeweilige Strukturniveau der Persönlichkeits-Organisation eines Patienten
      3. Neurovegetative Symptome
Diagnose-Kriterien Borderline im Vergleich zu Diagnose-Kriterien Depression

Teil (1) die psychischen Symptome

Ganz am Anfang sollte man sich erst mal in aller Ruhe die psychischen Symptome eines depressiven Krankheitsverlaufs vornehmen. Wenn wir es mit einer Major Depression zu tun haben dann sind das Denken und die Psychomotorik eindeutig langsamer und die Stimmung ist vergleichbar mit einer schweren Niedergeschlagenheit.

Psychomotorik = das ist die Gesamtheit aller bewusst gesteuerten, bewusst erlebten Bewegungsabläufe (zum Beispiel unser Gehen, Sprechen oder auch die Mimik/der Gesichtsausdruck).

In dieser schweren Niedergeschlagenheit, welche zwischen ganz tiefer Traurigkeit und kompletter Empfindungslosigkeit hin und her springen kann, kann der Mensch komplett emotional eingefroren sein. Das Denken einer Person in dieser Depressionsphase kreist in der Regel um Selbstvorwürfe und Selbstanklagen.

Es ist bezeichnend, dass die Vorwürfe eher nach innen gerichtet sind als nach außen. Depression ist der Finger nach INNENDer Depressive hat meistens sehr schwere Schuldgefühle bei einer dauerhaften Übertreibung von Defiziten und Fehlern.

Diese Fehler bewertet der Patient in seiner Selbstanklage typischerweise komplett übertrieben.

Dieser Zustand aus

      • dauerhafter Antriebsminderung,
      • Traurigkeit und
      • Selbstanklagen

kann Wochen bis Monate anhalten und unterliegt logischerweise auch täglichen Schwankungen:

  • Zum Beispiel beobachten wir morgens die typischen Morgentiefs die sich im Laufe des Tages etwas verbessern und dann über Wochen anhalten. Das sind so typische Merkmale einer Major Depression

Jetzt kommt ein Punkt, welcher es bei der Diagnose ein wenig kritischer macht eine genaue Diagnose zu treffen.

Viele Patienten sind mit den typischen psychiatrischen Interviews bereits so gut vertraut, da sie fast schon in einem routinierten Schnelldurchgang immer wieder die gleichen Fragen aus den Checklisten an den Kopf geworfen bekommen und diese oft nur wegen des Zeitdrucks der Ärzte einfach abgehakt werden.

Viele Patienten haben deswegen gelernt beim untersuchenden Arzt schon gleich von vorneweg den Eindruck zu erwecken, sie litten unter einer Major Depression.

Und wenn wir uns einmal in die Situation eines Arztes unter Zeitdruck versetzen, dann muss man ihn jetzt auch ein wenig in Schutz nehmen. Denn in der Tat würde die häufig vorgebrachte Klage – dass man sich komplett hoffnungslos und hilflos fühlt – auch für eine schwere Depression sprechen.

Nur wenn der diagnostizierende Arzt sich jetzt ein wenig mehr Zeit nimmt und nachfragt worauf sich denn dieses Gefühl der Hilflosigkeit und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit bezieht“ dann erst tun sich viele Patienten mit einer Antwort, welche die völlige Selbstentwertung bestätigen würde, sehr schwer.

Interessanterweise reagieren stattdessen Patienten mit einer schweren Persönlichkeitsstörung

      • sehr schnell ärgerlich und
      • nach außen hin vorwurfsvoll also mit einem Affekt der weniger depressiv sondern eher wütend erscheint.

Und genau hier haben wir den Unterschied zwischen einer Major Depression und einer Borderline Persönlichkeitsstörung im Bereich Psyche: Wenn ärgerliche Reaktionen überwiegen und der Patient sich trotzdem gleichzeitig völlig wertlos und depressiv fühlt ist typischerweise eine Persönlichkeitsstörung vorliegend und die Verdachtsdiagnose einer Major Depression sollte zumindest infrage gestellt werden.

Bei einer Major Depression kommt es zu einem sozialen Rückzug. Wenn sich dann auch noch die Umgebung um den Patienten bemüht, zum Beispiel indem sie ihn zu mehr Kontakten zu bewegen versucht, kann genau das

    • zu einer Verschlimmerung des Zustandes führen,
    • den komplett gegenteiligen Effekt nach sich ziehen
    • und vielleicht sogar Tendenzen zu einem Suizid verstärken.

Depressive Reaktionen bei einer Person mit einer Persönlichkeitsstörung sind gewöhnlich weniger stark ausgeprägt und deutlich unregelmäßiger in ihrer Dauer und Stärke.

Diese depressiven Reaktionen können sich von einem Tag auf den anderen abrupt verändern und sind – sowohl positiv als auch negativ – ganz klar von dem direkten sozialen Umfeld des Patienten abhängig.

Wenn jemand eine depressive Stimmung hat – und diese sich zum Beispiel am Wochenende förmlich in Luft auflöst sobald ein Patient Freunde um sich herum hat um in den Tagen danach – so ab montags wieder umzuschlagen – dann sprich das eher für eine Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit einer Depression beziehungsweise einer Dysthymie aber nicht für eine Major Depression!

Auf eine Depression deuten eher folgende Symptome oder Anzeichen hin

      • eine Vernachlässigung der Körperpflege
      • Die Unfähigkeit ganz normale Alltagsdinge durch zu führen.

Andererseits deuten auf eine Persönlichkeitsstörung rasche Verhaltensumschwünge innerhalb sozialer Interaktionen hin. 

Kommen wir zu dem zweiten großen Diagnose-Feld:

Das Strukturniveau der Persönlichkeitsorganisation

Um etwas genauer zwischen einer Depression und einer Persönlichkeitsstörung zu differenzieren gehört auch die Bestimmung des jeweiligen Strukturniveaus der Persönlichkeits-Organisation eines Patienten vor (!) Beginn einer depressiven Episode

Patienten mit einer

      • schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörung,
      • einer Borderline – Persönlichkeitsstörung,
      • einer histrionischen Persönlichkeitsstörung
      • oder einer masochistisch/depressiven Persönlichkeitsstörung

neigen zu sehr starken dysthymen Reaktionen

Wenn wir hier das Wort Dysthymie verwenden dann muss man das auch kurz erklären. Dysthymie wurde früher eine „depressive Neurose“ genannt. Es gehört zu den depressiven Erkrankungen und wir können sagen, dass die Symptome von der Dysthymie weniger stark sichtbar sind als bei den depressiven Störungen dafür haben sie aber einen längeren Verlauf.

Diese Fälle der dysthymen Reaktionen bei Persönlichkeitsstörungen zeichnen sich gewöhnlich

      • durch jahrelange und chronische leichte depressive Episoden aus
      • Durch das Fehlen eindeutig symptomfreier Phasen, sodass die leichte Depression zu einem stabilen Merkmal dieser Patienten geworden ist.

Manche Patienten berichten, dass sie ihr ganzes Leben lang bereits unter Depressionen gelitten haben – was dann normalerweise auf eine schwere Persönlichkeitsstörung schließen lässt.

Um die ganze Sache noch etwas komplizierter zu machen müssen wir noch Folgendes beachten. Wir können nicht einfach so sagen, dass Personen – die unter einer Dauerdepression leichteren Grades leiden – eine Persönlichkeitsstörung haben.

Denn in etwa 30 % der Fälle einer Major Depression kommt es zu einer dauerhaften Erkrankung der Depression und diese nennen wir eine refraktäre Depression. Diese Form der Depression kann sehr gut in der Anamnese als Depression belegt werden, trotzdem keine Psychopharmakologischen oder andere medizinische Behandlungsversuche in irgendeiner Form anschlagen würden.

In ein paar wenigen Ausnahmefällen kommt es zwar nach einer Elektrokrampftherapie (EKT) zu einer deutlichen Verbesserung über mehrere Wochen – die hält allerdings nicht dauerhaft an, sondern führt sehr häufig in eine chronische Depression.

Hier zeigt sich mal wieder wie wichtig eine korrekte Diagnose ist, da es sich bei der sogenannten „refraktären “ Depression um eine charakterologische Depression handelt und die Betroffenen von einer passenden Psychotherapie sehr wohl profitieren würden.

Teil (3) die Neurovegetativen Symptome

Wenn wir zwischen einer Major Depression und einer Persönlichkeitsbedingten Dysthymie – – also einer Persönlichkeitsstörung – unterscheiden möchten, helfen uns die Neurovegetative Symptome.   Sie weisen ganz klar auf eine Major Depression hin.

      • ausgeprägte Schlafstörungen und ganz besonders das früh morgendliche Aufwachen
      • Appetitverlust und starker Gewichtsverlust
      • Anhaltende sexuelle Unlust
      • Impotenz bei Männern und Amenorrhö bei Frauen
      • chronische schwere Verstopfung (Achtung, kann auch eine Nebenwirkung der antidepressiven Medikamente sein)
      • Erhöhte Kälteempfindlichkeit
      • Und bei einer schweren Depression sehen wir häufig diesen typischen Totenmasken ähnliche Gesichtsausdruck.

Alles könnte so einfach sein, wenn es nicht auch einige untypische Symptome einer Major Depression gibt die aber trotzdem zu diesem Krankheitsbild gehören.

      • Eine Neigung zu Hyperphagie (Essen ohne Hunger) und dadurch eine starke Gewichtszunahme
      • Verschlechterung des Zustandes – nicht am Morgen, sondern am Abend

Wenn wir diese beiden Symptome vorfinden sollten wir sie sehr sorgfältig mit denen der  davor beschriebenen psychischen Symptomen vergleichen bevor eine abschließende Diagnose gestellt wird.

Liegt zum Beispiel eine genetische Veranlagung für eine Affektstörung vor, so kann selbst eine sehr leichte depressive Episode mit diesen Symptomen (Neurovegetative Symptomen) einhergehen die stark an eine Major Depression erinnern.

Eine Diagnose ohne die umweltbedingten Ursachen mit einzuschließen ist auch keine Diagnose.

Haben wir es zum Beispiel mit einer chronischen Dysthymie zu tun, können selbst kleinste Umweltauslöser in ihrer Bedeutung komplett überschätzt werden und depressive Reaktionen nach sich ziehen.

Bei einer Major Depression fehlt meistens eine direkte Verknüpfung zwischen Umweltauslösern und der Depression und darum kann dies als Ausschluss-Symptom zur chronischen Dysthymie gesehen werden. 

Ein kleines Fazit zum Schluss

Je ausgeprägter und deutlicher die psychische und die Neurovegetative Symptomatik ist, desto wahrscheinlicher handelt es sich um eine Major Depression.

Je deutlicher und stärker die Persönlichkeits-Disposition und die Umweltauslöser im Vordergrund stehen, desto wahrscheinlicher haben wir es mit einer Störung im Sinne einer Dysthymie (Charakterologische Depression) zu tun.

Aber nichts ist einfach, wenn es nicht auch kompliziert geht: Es gibt nämlich auch Patienten die das Bild einer „doppelten Depression“ bieten:

      • D.h. eine akute Episode im Sinne einer Major Depression
      • Welche in eine chronische charakterologische Depression eingebettet ist.

In diesem Fall muss logischerweise zuerst die Major Depression behandelt werden.

Erst wenn durch medizinische Behandlung die Symptome abklingen ist es erst möglich eine vollständige Diagnose zu stellen, um einen weiteren Behandlungsplan zur Therapie der charakterologischen Dysthymie zu entwerfen. 

Marcus Jähn Meine Buchempfehlung zu diesem Thema

Welche Therapie hilft bei Borderline? 

Borderline ist die Königsdisziplin in den zu behandelnden Störungsbildern. Dieses Buch befasst sich nicht mit einer Therapie zu Hause, in der Praxis, sondern in einem klinischen Umfeld. Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) ist ein psychodynamisches Verfahren, dass die Beziehungs- und Identitätsstörung von Borderliner ganz in den Mittelpunkt der Therapie stellt. Ihren Ursprung hat sie in der Objektbeziehungstheorie, die davon ausgeht, dass die Schwierigkeiten bei Persönlichkeitsstörungen auf nicht integrierte Persönlichkeitsanteile zurückzuführen sind. Darum müssen diese durch eine Therapie aktiviert und in das Handeln integriert werden. 

Dieses Buch befasst sich ausführlich mit Diagnostik, Therapievereinbarungen, Behandlungsphasen, Therapiefokus und Arbeiten im interdisziplinären Team. Ein tolles Werk für jeden Facharzt. 

👉 Hier geht es zum Buchtitel

werdewiederstark.de – Copyright © 2021 – Marcus Jähn – 47608 Geldern -+49 163 8141416