Borderline âŠ. Was ist das eigentlich? Mit dem Begriff des Borderline haben sich schon viele groĂe Denker, Therapeuten, Forscher seit Jahren auseinandergesetzt â und immer noch gehen die Definitionen darĂŒber auseinander⊠Aber alles mal der Reihe nach:
Zum ersten Mal kam die Bezeichnung durch Charles Hughes (1839 â 1916) auf, um damit eine neue / eine hauchdĂŒnne / oft flieĂende Grenze zwischen einem geistig gesunden und einem psychisch kranken Menschen zu beschreiben.  Zu seinen Lebzeiten vor ĂŒber 100 Jahren war man von der psychoanalytischen Lehre noch deutlich stĂ€rker beeinflusst als heute. Diese besagt ja, dass man alles, was man analysieren kann auch therapieren können mĂŒsste. Damit zog man zu seiner Zeit eine Grenze zwischen neurotischen und psychotischen Menschen. Die neurotischen Krankheitsbilder galten als therapierbar, die psychotischen jedoch nicht.
Das ist auch der Grund, warum auch heute immer noch einige Lexika Borderline als eine Grenze zwischen Neurose und Psychose beschreiben – was aber zwischenzeitlich als ĂŒberholt gilt. Auch ĂŒberholt ist die erste Annahme, dass Borderline zur Schizophrenie gehört. Zwischen Borderline und Schizophrenie besteht jedoch ein himmelweiter Unterschied!
Borderline â und das ist interessant â ist immer noch nicht so genau definiert âŠ
đ Auf der einen Seite versucht man es mit einer klaren / einer spezifischen Abgrenzung im DSM und ICD (zwei Diagnose-Nachschlagewerke). Der DSM ist das Diagnostische Manual der amerikanischen Psychiatrievereinigung (APA) und der ICD ist die Internationale Klassifizierung der Krankheiten nach der WHO. Diese beiden Nachschlagewerke, welche fĂŒr Mediziner sowohl fĂŒr eine Diagnose als auch fĂŒr eine Therapie bindend sind, sagen deutlich aus, dass man Borderline von einer anderen âKrankheit / Störungâ abgrenzen kann.
 đAuf der anderen Seite steht jedoch seit Jahrzehnten (seit 1988) ein ganz anderer Denkansatz: Das Konzept der gestörten Persönlichkeitsorganisation von Otto Kernberg (*1939), einem Wiener Psychoanalytiker, der in der psychiatrischen Fachwelt wohl als der fĂŒhrende Experte fĂŒr Persönlichkeitsstörungen gilt. Kernberg war und ist davon ĂŒberzeugt, dass eine Persönlichkeitsstörung â wie z.B. Narzissmus oder Borderline â keine Fixierung auf Frustrationen aus der natĂŒrlichen, narzisstischen Kindheitsentwicklungen sind wie es z.B. Heinz Kohut (us Psychoanalytiker 1913 â 1981), der BegrĂŒnder der Selbstpsychologie immer lehrte). FĂŒr ihn ist es vielmehr eine Störung in der Objektbindungsphase â in frĂŒhester Kindheit.Â
Und wegen dieser zwei völlig unterschiedlichen Denk- und Herangehensweisen, gibt es auch zwei ganz kontrÀre DiagnoseansÀtze:
Wer mich und meine Arbeit kennt, weiĂ, dass ich mich seit langem tendenziell eher auf der Seite von Otto Kernberg aufhalte. Borderline ist jedoch viel mehr als seine deskriptiven, also die in den auĂen sichtbaren PhĂ€nomene / seine von Dritten diagnostizierbaren Symptome! đ Borderline ist eine Störung in der Persönlichkeitsentwicklung, in einer hoch-vulnerablen, sensiblen Phase des Lebens: In der Zeit der frĂŒhen Bindungsentwicklung in den ersten Lebensjahren.
Ein kleiner Mensch kommt auf die Welt und lernt erst einmal nur eine einzige Sache: Bindung, Bindung und nochmals Bindung. Siehe hierzu das Thema âObjektbeziehungstheorie von Melanie Klein, Sandor Ferenczi, Wilfred Bion und nicht zu vergessen der herausragende Kinderarzt und Psychologe Donald Winnicottâ. Der SĂ€ugling lernt zuerst einmal keine Sprache, keine Mathematik, keine Kultur, auch keine sportlichen AktivitĂ€ten! Er lernt nur: wie geht Bindung?! Auf diesen Denkansatz ist Otto Kernberg dann spĂ€ter eingegangen.
Ich möchte dies folgendermaĂen vergleichen: đ Wer keine Bindung kann, gleicht einem Wanderer, der sich plötzlich mitten in einem groĂen Treibsandfeld befindet. Er kommt nicht mehr vor und zurĂŒck. Er spĂŒrt keinen festen Boden unter den FĂŒĂen und hat das GefĂŒhl, dass, immer wenn er etwas Neues versucht um Bindung zu bekommen, er nur noch tiefer im Treibsand versinkt.
Fakt ist: Kein Kind kommt als Borderliner auf die Welt!
Jedes Kind hat nĂ€mlich den natĂŒrlichen Wunsch und auch die FĂ€higkeit, zuallererst einmal Bindung zu erlernen. Wenn es diese Bindung in seinem Elternhaus jedoch nicht bekommt â und ja, hier sind die primĂ€ren Bezugspersonen die Eltern und nicht die Schule oder andere Vereinigungen in der Verantwortung â dann kann der kleine Mensch machen was er will, er steht wie im Treibsand des Lebens auf völlig verlorenem Boden. Ein mit Borderline diagnostizierter Mensch ist genauso intelligent wie jeder andere auch. Er ist genauso funktionstĂŒchtig im Bereich Mathematik, Sprache, Sport, Kultur etc. wie seine Umgebung. Der Unterschied ist, dass er keine Bindung gelernt hat.
Da wir aber praktisch alles, was wir tun, was wir lernen, wie wir uns definieren mit und durch Bindung aufbauen, sind diese Menschen in ihrem Leben im wahrsten Sinne des Wortes âgestörtâ. Ein Kind, was in seinem Elternhaus keine sichere Bindung erlernen konnte â z.B. durch ein tyrannisches Elternhaus, oder durch distanzierte Eltern oder durch Helikopter-Eltern â kann nicht wie von Zauberhand eine stabile Bindung eingehen oder aufbauen. Ihm fehlt schlichtweg der SchlĂŒssel oder das Werkzeug hierfĂŒr. Â
Um Borderline zu diagnostizieren ist es wichtig, sich die vier Bereiche der Störung zu vergegenwÀrtigen:
Diese sind eine gute Zusammenfassung der Ă€uĂerlich sichtbaren Symptome / PhĂ€nomene, die wir aus dem ICD10 und ICD11kennen:
Erkennst du aber jetzt schon den groĂen Unterschied? Die ersten vier Störungsbereiche sind etwas, was im Inneren eines Menschen vor sich geht – die neun Kriterien im ICD10 sind von auĂen sichtbaren Handlungen. Welche von beiden Gruppen sind fĂŒr eine Therapie nun wichtiger?
Otto Kernberg war und ist der Auffassung, dass die Symptome nur das Ergebnis einer inneren IdentitĂ€tsdiffusion darstellen â also ein unstrukturiertes Ich. Sein Denkansatz ist: Wenn ich die Ursache bekĂ€mpfe, dann kann ich auch die Symptome beherrschen. Eigentlich logisch, oder?
Wie kann man nun aber etwas von auĂen unsichtbares / eine innere Struktur diagnostizieren? Einer der interessantesten Fragebögen ist das Borderline-Persönlichkeits-Inventar. Es zielt mit seinen Fragen genau auf die Themen ab, die Kernberg als Problemfelder aufzeigt:
Ich werde spĂ€ter noch auf diesen Test nĂ€her zu sprechen kommenâŠ
Wie bereits erwĂ€hnt, gibt es also zwei groĂe DenkansĂ€tze, um eine Borderline-Diagnose zu erstellen:
Dem steht ein komplett gegensĂ€tzlicher Ansatz gegenĂŒber
Was beide jedoch gemeinsam sehen, ist, dass Borderline nicht lediglich eine kurzfristige Störung sei. Kernberg bezeichnet sie als ein dauerhaft verĂ€ndertes Niveau der Persönlichkeitsorganisation, Gunderson als eine dauerhafte Persönlichkeitsstörung. Mit dem Begriff Persönlichkeitsorganisation meint Kernberg â immer vor dem Hintergrund der Ich-Psychologie und Objektbeziehungstheorie – ein dauerhaft verĂ€ndertes psychisches Funktionsniveau, welches er immer auch zwischen einer neurotischen und einer psychotischen Persönlichkeitsorganisation unterscheidet. Diese Organisationsformen kann man mit folgenden drei Bereichen beschreiben:
WĂ€hrend bei einer neurotischen Borderline-Form die Ich-Organisation
werden bei der psychotischen Borderline-Form in der Spaltung ĂŒberwiegend ,,primitive Abwehrmechanismenâ von der Ich-Organisation verwendet â bis hin zur IdentitĂ€ts-Diffusion, in der die RealitĂ€t nicht mehr korrekt wahrgenommen wird.
 đWas ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Neurose und einer Psychose? GrundsĂ€tzlich sind sie beide erst mal eine ĂŒbersteigerte Form einer Angststörung â Angst vor etwas Reellem oder Eingebildeten.
Ein Vergleich: Wenn jemand sagt, er habe Angst, dass aus der Steckdose kleine grĂŒne Ameisen kommen könnten, er sich aber im Klaren darĂŒber ist, dass ihm sein Gehirn einen Streich spielt, dann ist es eine Neurose.Â
Wenn jemand aber sagt: âIch sehe und ich weiĂ ganz sicher, dass da die kleinen grĂŒnen Ameisen in der Steckdose sind und sie wollen meine Gedanken kontrollierenâ, dann ist es eine Psychose â wegen der fehlerhaften RealitĂ€tsprĂŒfung.
Diese Unterscheidung zwischen neurotisch und psychotisch ist der Denkansatz von Otto Kernberg um zwischen einer funktionellen und einer nicht funktionellen Persönlichkeitsorganisation zu unterscheiden. Und wie sieht der andere Denkansatz aus, den wir aus dem ICD10 und 11 und dem DSM-V her kennen?
Er konzentrierte sich in seinen Diagnosen – im Gegensatz zu Otto Kernberg – eher auf den durch das Verhalten (Behaviorale Psychotherapie z.B. DBT lĂ€sst hier grĂŒĂen) sichtbaren Teil. Er konzentrierte sich in seinen Forschungen also eher die von auĂen sichtbaren Symptome / PhĂ€nomene / Merkmale als typische Zeichen fĂŒr eine Borderline-Persönlichkeitsstörung:
Wir kennen sie aus dem DSM und dem ICD:
Das DSM nennt als zusĂ€tzliches Kriterium noch:Â
Paranoide Vorstellungen finden sich bei fast allen nach dem DIB-R (dem diagnostischen Interview fĂŒr Borderline-Störungen) diagnostizierten Borderline-Patienten.
 đEine kleine Zusammenfassung: WĂ€hrend Kernberg (1988) die Borderline-Persönlichkeitsorganisation als Ă€uĂerlich sichtbaren Ausdruck einer allgemeinen Persönlichkeitsstörung betrachtet, geht das Konzept von Gunderson und das des DSM davon aus, dass die Borderline-Störung eine spezifisch abgrenzbare Persönlichkeitsstörung ist wie z.B. die hysterische, die anankastisch zwanghafte oder die schizoide Persönlichkeitsstörung. Das Kernbergsche Borderline-Konzept ist zwar etwas umfassender, aber es ĂŒberschneidet sich mit dem Konzept von Gunderson und dem des DSM zu groĂen Teilen.
In folgenden Bereichen sind sie aber nicht deckungsgleich:
Im ICD-10 ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung als eine Unterform der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung aufgenommen worden. Dabei sind die Kriterien fĂŒr die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung fast deckungsgleich zwischen ICD und DSM. Kleine Abweichungen bestehen nur in den folgenden drei Bereichen
Wenn es so unterschiedliche DenkansĂ€tze zu Borderline gibt, kann man Borderline dann ĂŒberhaupt diagnostizieren? Ich finde, dass diese Frage absolut berechtigt ist. Aber ja, das kann man! Und weil Borderline bis heute unterschiedlich beschrieben wird, gibt es auch recht unterschiedliche Diagnose-Konzepte. Ein paar wichtige möchte ich hier mal erwĂ€hnen.
Du merkst, es gibt sehr viele unterschiedliche Herangehensweisen, um eine Diagnose zu erhalten. FĂŒr welche sich der jeweilige Arzt oder Therapeut entscheidet, muss ihm ĂŒberlassen werden. Meiner Meinung nach ist ein Fragebogen zeitlich schneller zu erheben und auszuwerten ist die deutlich umfangreicheren Interview-Verfahren. Ich persönlich arbeite sehr gerne mit dem âBorderline-Persönlichkeits-Inventar (BPI, Leichsenring)
Kommen wir nun zu dem Teil, der mir zum Thema AufklÀrung sehr am Herzen liegt.
Ich möchte dich hierbei ausdrĂŒcklich beruhigen! Bei keinem der klinischen Test geht es darum, jemanden irgendwie zu benachteiligen. Das Ziel ist und bleibt die Therapie des Patienten, dass er am Ende gesĂŒnder dasteht als am Anfang ⊠zum Zeitpunkt der Diagnose. Man könnte auch sagen: So schlecht wie es dir im Moment geht (bei der Diagnose) soll es dir in Zukunft (auch schon wĂ€hrend der Therapie) nicht mehr gehenâŠ
Um das zu erreichen, brauchen wir eine Bestandsaufnahme. DafĂŒr werden Fragen gestellt â beim BPI etwas mehr als 50, die dann ihre eigene Themengewichtung haben. Vier Themenbereiche werden bei diesem Test â den ich ausdrĂŒcklich nur exemplarisch hier beschreiben möchte â nĂ€her beleuchtet:
Und genauso wie es bei der Diagnose im ICD10/11 gemacht wird, muss es gewisse Anzahl der Fragen mit Ja beantwortet werden, um eine âpositive Diagnoseâ zu erhalten. Im ICD10/11 mĂŒssen 5 von 9 Kriterien mit ja beantwortet werden, in dem BPI gibt es einen anderen Cut-off-WertâŠ
Mit welchen Fragen muss ich in solch einem Test rechnen? Ich habe mal ein paar Fragen exemplarisch rausgesucht:
Du siehst, dass sind ganz normale Fragen aus dem tÀglichen Leben. Und da ist es ganz normal, dass auch völlig unbelastete Personen einige der Fragen mit Ja beantworten.
Borderline ist die Königsdisziplin in den zu behandelnden Störungsbildern. Dieses Buch befasst sich nicht mit einer Therapie zu Hause, in der Praxis, sondern in einem klinischen Umfeld. Die Ăbertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) ist ein psychodynamisches Verfahren, dass die Beziehungs- und IdentitĂ€tsstörung von Borderliner ganz in den Mittelpunkt der Therapie stellt. Ihren Ursprung hat sie in der Objektbeziehungstheorie, die davon ausgeht, dass die Schwierigkeiten bei Persönlichkeitsstörungen auf nicht integrierte Persönlichkeitsanteile zurĂŒckzufĂŒhren sind. Darum mĂŒssen diese durch eine Therapie aktiviert und in das Handeln integriert werden.Â
Dieses Buch befasst sich ausfĂŒhrlich mit Diagnostik, Therapievereinbarungen, Behandlungsphasen, Therapiefokus und Arbeiten im interdisziplinĂ€ren Team. Ein tolles Werk fĂŒr jeden Facharzt.Â
Es sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang mit Borderline oder einer anderen belastenden Störung, aber auch ĂŒber Future Faking, Love Bombing und Gaslighting die immer hĂ€ufiger in unsere Gesellschaft zu beobachten sind.Â
Ich möchte aber nicht nur ĂŒber Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:
Buchen Sie sich einfach auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus