Kennst du noch den Begriff „blitzdingsen“ aus dem Kinofilm „Men in Black“? Mit einem kleinen Handgerät wurde dem Gegenüber sein Gedächtnis gelöscht um ihm dann eine neue Erinnerung einzugeben. Oder den Film „Vergiss mein Nicht“ mit Jim Carrey und Kate Winslet, in dem einem Paar ganze Erinnerungssequenzen gelöscht wurden? Das was vor über 20 Jahren zum ersten Mal in den Kinos als Science Fiction zu sehen war, ist gar nicht so weit hergeholt wie man meinen möchte. Forscher sind unserem Gedächtnis viel weiter auf die Spur gekommen, als es dir vielleicht bewusst ist… und alles begann mit einer Meeresschnecke 😊. Wie kann uns dieses recht sonderbar aussehende Tier in der Zukunft vielleicht helfen, besser mit einem Trauma umzugehen?
Aber vielleicht fangen noch etwas weiter vorne in der Forschung an. Unsere Reise beginnt in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Wenn du dich mit dem Thema „Trauma und seinen Auswirkungen auf unser Gehirn“ beschäftigst, dann hast du vielleicht schon mal den Satz des genialen kanadischen Experimentalpsychologen Donald O. Hebb gehört: „Cells that fire together, wire together.“ (auf Deutsch: (Gehirn-)Zellen, die zusammen feuern, verschalten sich miteinander).
Was bedeutet dieser Satz für unser Thema: „Trauma und Erinnerungen – Kann man ein Trauma löschen?“ Nun, alle unsere „festen Erinnerungen“ sind – einfach beschrieben – molekulare Verbindungsänderung zwischen den Neuronen.
Zuerst sind diese „Festen Erinnerungen“ noch „flüchtige Erinnerungen“. In diesem Zustand werden vorher noch voneinander unabhängige Zellen für eine bestimmte Aktivität untereinander sensibler, um die Kommunikation zwischen den Zellen über die Synapse an die Dendriten (Rezeptoren) des benachbarten Neurons weiterzuleiten.
Im Jahre 2000 wurde dann Eric Kandel mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Im gelang es zu erklären, wie unser Gedächtnis / unsere Erinnerungen grundsätzlich im Gehirn funktionieren. Legendär ist seine Studie an der recht einfach strukturierten aber in ihrer Größe immens „riesigen Nervenzelle“ des Kalifornischen Seehasen (Aplysia californica).
Bei dieser Meeresschnecke fand er heraus, dass sich ihre Reflexe durch Reize von außen verändern und vor allem Konditionieren lassen. Unter anderem konnte auch die Kommunikation der Nervenzellen untereinander verändert werden!
Kandel forschte – und das ist jetzt wichtig für unser Thema: Kann eine Traumaerinnerung gelöscht werden – daran, wie das Kurz- und das Langzeitgedächtnis im Schneckenneuron miteinander arbeiten. Oder anders ausgedrückt: Was muss geschehen, damit aus flüchtigen Eindrücken (»Sensibilisierungen«) langfristige Erinnerungen (»potenzierte Wirkungen«) werden?
Auch er stellte fest, dass am Anfang des Lernens immer eine kurzzeitige Veränderung in der synaptischen Leitfähigkeit zwischen den Zellen gehört, die aber keine Veränderung in der Neuroplastizität bewirkt. Aber: Werden Erinnerungen dann später im sogenannten Langzeitgedächtnis abgelegt, dann kommen sowohl funktionelle als auch strukturelle Veränderungen – also Neuroplastizität – zum Vorschein!
Wenn ich etwas in mein Langzeitgedächtnis übertrage, dann nennen wir anatomischen und funktionellen Veränderungen eine langfristige Potenzierung. Sie ist das eigentliche Erinnern.
Ende der 1990er Jahre arbeitete Karim Nader – heute Professor, damals noch junger Doktorand – im neurobiologischen Labor von Joseph LeDoux (dem berühmten Forscher, der den Begriff »emotionales Gehirn« prägte) an der kanadischen McGill-Universität in Montreal. Sein Denk- und Arbeitsansatz in Bezug auf das Gehirn kam von der komplett anderen Seite her: Er forschte nicht an der Frage, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir uns erinnern, sondern er wollte wissen, was später, – wenn die Erinnerung wieder hochgeholt wird – vor sich geht.
Nader wusste aus früheren Studien, dass bei Angsterinnerungen eine Proteinsynthese in der Amygdala stattfinde. Es werden also ganz bestimmte Proteine für unser „Lernen“ benötigt. 👉 Was aber passiert nun nach dem Lernen, wenn wir Gelerntes später wieder Abrufen? Entstehen dann im Langzeitgedächtnis eventuell auch wieder vergleichbare Proteine?
Um seine Denkhypothese zu überprüfen, blockierte er bei einer Laborratte vorübergehend die Synthese des Proteins, das die Erinnerung neu stabilisiert. Dieser Denkansatz war und ist so völlig verschieden von allen bislang geglaubten Denkansätzen, dass ihm sogar sein Lehrmeister der renommierte LeDoux sehr skeptisch gegenüberstand.
Naders Denkansatz ist – verkürzt dargestellt – folgender: Wir lernen durch Neuroplastizität und dafür werden Proteine benötigt. Zum Erinnern werden dann auch wieder Proteine eingesetzt. Hier erfolgt aber etwas, was Nader den Konsolidierungseffekt nennt:
Hört sich eventuell etwas kompliziert an. Vereinfacht ausgedrückt: Beim Abrufen der Erinnerung werden die alten Verbindungen zuerst aufgelöst um dann wieder neu aufgebaut zu werden. Dieser „Über-Flexibilisierung“ des Gehirns löst noch heute bei den Kritikern viel Skepsis aus, wird aber immer mehr durch Studien belegt. Gehen wir aber mal auf die Anfänge der Forschung zurück:
Um seine Hypothese zu untermauern, brachte Nader einer Anzahl von Ratten bei, auf ein bestimmtes (neutrales) Signal mit Angst zu reagieren. Das erinnert dich bestimmt an den Pawlowschen-Reflex. Bis hierhin also noch alles im „normalen Bereich“
Nun kommt aber der große Unterschied: Nader spritzte den Ratten nun eine chemische Substanz direkt in die Amygdala, welche die Proteinsynthese beim Erinnern verhindert. Das Ergebnis? Auf einmal waren die Angsterinnerungen komplett verschwunden …
All die Arbeitshypothesen der Vergangenheit in Bezug auf das Erinnern – die festen anatomischen Strukturen und der Gedanke einer statischen Biochemie – wurden durch dieses Experiment praktisch über den Haufen geworfen. Das Wichtigste an dem Experiment war und ist der genaue Zeitpunkt zwischen dem Erinnern und dem Spritzen des Proteinhemmers. Interessant ist auch, dass dann bei Ratten nur diese eine Erinnerung gelöscht wurde – an die sie sich zwangsweise erinnerten, während der Proteinhemmer wirkte. Andere Ängste und Erinnerungen wurden davon nicht berührt.
👉 Möchte man das alles etwas einfacher erklären dann vielleicht so: Wenn während des Erinnerns keine neuen Proteine gebildet werden konnten, dann verschwand die ursprüngliche Erinnerung im Nichts!
Karim Nader hat unsere Forschung über das Erinnern völlig auf den Kopf gestellt. Anstatt das Erinnerungen irgendwann entstehen und dann für alle Zeiten fest im Gehirn verankert werden ist unsere heutige Sichtweise die, das eine Erinnerung zwar irgendwann entsteht, dann aber mit jedem Abruf immer wieder aufs Neue aufgebaut / bzw. erinnert wird.
Vielleicht hilft es dir, wenn ich das Wort „Verändern“ mit dem Wort „Anpassen“ austausche. Indem unser Gehirn die Erinnerungen immer wieder anpasst, kann es „Altes“ mit „Neuem“ in eine neue Assoziation / Verbindung bringen. Wir lernen durch Erinnern!
Der Zweck des Erinnerns besteht darin, auf molekularer Ebene (Neuroplastizität) eine alte Erinnerung mit neuen Informationen abzugleichen. Dadurch kann die Vergangenheit auf die Gegenwart und die Gegenwart auf die Vergangenheit großen Einfluss nehmen – ein wichtiger Punkt in Bezug auf unser Verständnis einer Traumatherapie!
Ein Trauma ist ja immer eine Handlungsohnmacht gepaart mit einer fundamentalen Angst. Wenn ich jedoch in der Gegenwart meine Körperempfindungen und Erinnerungs-Bilder verändere, erhalte ich mehr Autonomie und Selbstwirksamkeit in meinem Blick in die Vergangenheit.
Schon Theodule Ribot und der französische Philosoph Henri Bergson (Buch „Materie und Gedächtnis / Das Körper-Geist-Problem“) lagen 1881 und 1908 richtig in ihrer Vorstellung, dass unser Gehirn die Aufgabe hat, aus Vergangenem zu wählen und seine Bedeutung zu vereinfachen. Aber nicht, diese zu erhalten. Bereits für diese frühen Denker war das Gedächtnis vergleichbar mit einem Werkzeug, um Erinnerungen permanent zu aktualisieren.
Fast zwangsläufig kommt nun die Frage hoch, ob man dieses Wissen dazu verwenden sollte, Menschen mit einem Trauma dabei zu helfen, ihre Erinnerungen zu verändern und Frieden mit ihrer Vergangenheit zu schließen. Dass dies geht, wurde ja bewiesen. Man muss lediglich den Protein-Blocker hochpräzise in dem Moment einsetzen, während die traumatische Erinnerung nochmals hochkommt.
Bekannte Traumatherapie-Arten gehen bereits ähnlich vor: Auch sie nutzen dieses kleine Zeitfenster des Erinnerns indem dann in Form von z.B. somatischen oder verhaltensbezogenen Maßnahmen ein neuer Lernprozess eingeleitet wird. Bei dieser nicht medikamentösen Therapie werden die Erinnerungen, statt des Versuchs sie zu löschen, ganz bewusst wieder in den Sinn gerufen, neu aufgearbeitet und mit den gegenwärtigen Möglichkeiten aktualisiert.
Bei dieser eher „natürlichen Form des Erinnerns“ werden aller Wahrscheinlichkeit nach die gleichen biologischen Vorgänge genutzt, wie bei dem Proteinblocker, das Ergebnis ist jedoch ein völlig anderes … Wenn ich eine Lücke in der Erinnerung zurücklasse, dann wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch mein Selbst, mein Ich-Gefühl massiv geschwächt. Kann ich mich aber weiterhin an mein Trauma erinnern – wie bei dem natürlichen Erinnern und Aufarbeiten – dann wird mein Lernprozess dazu beitragen, dass ich mit neuer Kraft erfüllt werde.
„Ich habe dieses Trauma überlebt, ich werde auch weitere Probleme meistern“
Dieses Gefühl – ich schaff das schon weil ich anderes bereits auch geschafft habe – verstärkt meine „Lebens-Selbstwirksamkeit“ und diese neue Kraft oder Ressource kann wie eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart dienen.
Wenn ich meine Erinnerungen in dieser Form aktualisiere, dann ist dies kein Ignorieren der Vergangenheit … Die Tragik des Erlebten, der innere Schmerz, die Trauer wird nicht im Geringsten herunter gewürdigt. Das ist ein wichtiger Teil dafür, um die eigene Würde wiederherzustellen und das eigene Selbst zu ehren. Durch dieses „Mitgefühl sich selbst gegenüber“ können traumatische Erinnerungen allmählich an Schmerz verlieren und umgeformt als neue Erinnerung unsere Identität sogar stärken.
Ein schöner Vergleich hierfür ist z.B. das japanische Kintsugi. Dabei wird zerbrochene Keramik oder Porzellan mit einem Goldpulver als Kittmasse neu zusammengesetzt. Diese neu zusammengesetzten Trümmerteile glänzen goldfarben an den Bruchrändern. Es erscheint alles, als wäre es so gewollt … eine neue Form von Ästhetik. Jeder Bruchstelle wird mit dem Gold eine eigene Wertschätzung geschenkt.
Genauso kann man auch die Narben betrachten, die auch nach einer Traumaheilung zurückbleiben. Ähnlich einem Knochenbruch, dessen Verbindung an der Bruchstelle später stärker ist als der „alte Restknochen“, so sind diese Narben der sichtbare Beweis einer neuen inneren Stärke, des Willens zu Überleben, der Fähigkeit auch in schwierigen Situationen noch „seinen Mann zu stehen“. Es ist aber auch eine Möglichkeit, sich selbst mehr Mitgefühl, Respekt und Würde zu zeigen.
Was könnte darum schöner und wertvoller sein als diese Narben der Vergangenheit nun mit Stolz zu tragen?
Peter Levine – Begründer der “Somatic Experience Therapie” hat uns mit diesem Buch eine neue Sichtweise auf das Trauma gezeigt. Ein Erlebnis wird dadurch zum Trauma, wenn wir davon überwältigt werden und anschließend mit Erstarren und Hilflosigkeit reagieren. Unser gesamter Organismus – also Körper, Geist, Seele – bleibt dann im Trauma stecken und verhält sich im Leben so, als bestünde die Gefahr immer noch.
Wie kommt man aus diesem Teufelskreislauf wieder heraus? Durch die “Bottom-Up” Methode, durch ein vorsichtiges “Hineinpendeln”, indem unsere prozeduralen Erinnerungen mit den emotionalen, episodischen und narrativen Gedächtnisfunktionen verknüpft werden.
Können Traumata vererbt werden? Können wir Erinnerungen auslöschen? Was sind falsche Erinnerungen? (Stichwort Forensik). Wie können hochtraumatisierte Kriegs-Veteranen wieder ins Leben zurück gelangen?
Kann es eine spannendere Lektüre geben?
Es sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang mit Borderline oder einer anderen belastenden Störung, aber auch über Future Faking, Love Bombing und Gaslighting die immer häufiger in unsere Gesellschaft zu beobachten sind.
Ich möchte aber nicht nur über Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:
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