Schriftzug Marcsu Jähn

Familienpsychologisches Gutachten

Das Gespräch mit dem Gutachter

1. Leitfaden

Grundsätzlich gibt einzig und allein das Gericht vor, was durch das Gutachten erfragt werden soll. Darum wird von dem Gutachter auch keine weitere Information abgefragt, die über diese Aufgabe hinaus geht. Ein Alleingang ist ausdrücklich nicht erwünscht!

Die drei wichtigsten Faktoren, nach denen sich ein Gutachter zu richten hat

      • sind die vom Gericht gestellten Fragen,
      • der eigentliche Familienkonflikt
      • und der vorgegebene Zeitrahmen!

Trotzdem die allermeisten Gutachter auch über eine psychologische Ausbildung / ein psychologisches Studium verfügen, ist eine Persönlichkeitsdiagnose nicht (!) per se fester Bestandteil seines Gutachtens. Notwendig wird diese nur, wenn im Laufe der Beurteilung Fragen über eine eingeschränkte Erziehungsfähigkeit eines der Beteiligten hochkommen sollten. Dasselbe gilt auch für das Kind! Auch das Kind wird nicht automatisch einer Diagnose unterzogen, es sei denn, es zeigt erhebliche Entwicklungsverzögerungen. Aber auch hier muss zuerst geprüft werden, ob nicht andere Institutionen bereits in diesem Thema involviert sind.

2. Der Untersuchungsplan

Wie erwähnt, stehen ganz am Anfang des Auftrages erst einmal die juristischen Fragen des Gerichts. Diese müssen dann in sogenannte psychologische Fragen umgewandelt – jedoch nicht zwangsläufig ausgeschrieben – werden. Am Ende müssen sie im Gutachten aber deutlich erkennbar sein. Das ist der erste von vielen weiteren Schritten.

Das Ziel der gesamten Arbeit ist es, aus allen zur Verfügung stehenden Informationen nun einen „atmenden Untersuchungsplạn“ zu erarbeiten der jedoch nicht starr angewendet, sondern flexibel im Laufe der Begutachtung durch neues Wissen immer wieder neu angepasst werden kann und sollte.

2.1. Psychologische Fragen / Arbeitshypothesen

Die psychologischen Fragen und auch die Vermutungen / Arbeitshypothesen in Bezug auf die Bedürfnisse des Kindes sind oft die gleichen. Etwas komplizierter sieht es dann aber bei den Eltern aus. Das ist auch logisch, weil der Grund, warum es zu dem Gerichtsverfahren gekommen ist, von Fall zu Fall unterschiedlich ist. Geht es z.B. um eine Kindeswohlgefährdung, um den Umgang / die Betreuung oder um die Frage, wer das Sorgerecht bekommt? Das alles kann sehr unterschiedlich sein und muss beachtet werden. Der Sachverständige muss bei seiner Arbeit beachten, dass viele Begriffe nur im ersten Moment einen scheinbar psychologischen Hintergrund haben. Ich denke hier an die Begriffe Kindeswohl, Kindeswohlgefährdung, Bindungstoleranz, Kooperationsfähigkeit, Umgangsregelung u.a. Das sind nämlich juristische und keine psychologischen Bezeichnungen.

Die Fragen des Gerichts könnten beispielhaft in folgende psychologische Fragen übersetzt werden:

Fragen das Kind betreffend

      • Wie entwickelt sich das Kind? Bewegt sich alles im „normalen Rahmen“ oder kann man Verzögerungen oder Einschränkungen sehen?
      • Gibt es Dinge, die sich auf das Kind risikoreich und belastend oder schützend und stabilisierend auswirken? Sind deswegen bereits typische Abwehrverhaltensmuster erkennbar?
      • Gibt es Bindungspersonen, die innerhalb oder außerhalb der Familie Stabilität und Schutz geben?
      • Was für Wünsche reklamiert das Kind für sich?
      • Fühlt sich das Kind aktuell sicher und stabil oder ist sein Kontinuitätserleben (seine Lebensstabilität) unterbrochen?

Fragen in Bezug auf die Eltern – drei große Bereiche

Bei Eltern drehen sich die Fragen um verschiedene Ausgangslagen. Die können u.a. sein:

      • Kindeswohlgefärdung
      • Umgangsrecht
      • Oder das Sorgerecht.

In jedem dieser Fälle würden sich die psychologischen Fragen verändern. Exemplarisch lauten Sie dann wie folgt:

Kindeswohlgefährdung, §1666 BGB)

      • Wie ist das Erziehungsverhalten der Eltern bewerten?
      • Gibt es vielleicht psychische Faktoren bei den Eltern, die ihre Erziehungskompetenz einschränken? Und falls ja, wie hoch wären diese zu bewerten?
      • Gibt es bei den Eltern in der neuen Familiensituation grundsätzlich eine Bereitschaft zur Veränderungsbereitschaft und Akzeptanz der Probleme?
      • Wie kooperativ arbeiten sie mit Außenstehenden zusammen?
      • Was sind die Belastungen und was die Ressourcen der Eltern?

Umgangs- Betreuungsfragen, §§ 1684, 1685 BGB)

      • Wie gehen die Eltern mit der neuen Umgangssituation um?
      • Sind beide Elternteile zu einer Zusammenarbeit / einer Kooperation fähig (inkl. Der Themen Beziehungstoleranz, Gate-Keeping, Co-Parenting, Alltagsbewältigung)? Arbeiten sie kooperativ mit fachlichen Dritten wie dem Jugendamt zusammen.
      • Stehen in allem die Wünsche Bedürfnisse des Kindes im Mittelpunkt?

Sorgerechts- und Aufenthaltsfragen, § 1671 BGB

      • Wie gehen die Eltern mit einer neuen Sorgerechtsentscheidung um? Kooperieren Sie trotz der neuen Situation weiterhin miteinander?
      • Welche wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind hier wirksam?
      • Welche Bedeutung haben weitere Bezugspersonen im näheren Umfeld?
      • Prägt die Kultur der Eltern ihr Verhalten im besonderen Maße?

3. Dokumentation

Dieser Punkt ist zwar eine Selbstverständlichkeit, sollte aber trotzdem erwähnt werden: Denn schließlich geht es um nichts Geringeres als das weitere Leben einer ganzen Familie. Und deshalb sollte der gesamte Ablauf in dem Gutachten zeitlich, inhaltlich und immer transparent protokolliert werden.

Denn Grund hierfür ist recht simpel. Anwälte können und sollten sich dieses Protokoll dann sehr genau unter die Lupe nehmen. Und genau hier werden leider immer noch viele unnötige Fehler gemacht, wodurch auch Fehlentscheidungen / fehlerhafte Beschlüsse des Gerichtes entstehen können.

So geschehen und revidiert durch das Bundesverfassungsgericht am 19.11.2014 BvR 1178/14 als das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung eines Oberlandesgerichts aufhob, dass ein Kind wegen angeblicher Kindeswohlgefährdung an das Jugendamt übergab…

4. Psychologische Kriterien

Das Gericht hat grundsätzlich immer zwei Aufgaben an den Gutachter:

      1. Die Beantwortung der gestellten juristischen Fragen und
      2. ein Mitarbeiten an einer einvernehmlichen Übereinkunft aller die am Verfahren beteiligt sind.

Aufgrund seiner Ausbildung konzentriert er sich zuerst auf die vorhandenen psychologischen Rahmenbedingungen. Psychologische Kriterien sind aber etwas anderes als juristische Tatbestandsmerkmale, die miteinander aufgezählt werden können (eine Tat = dieses Strafmaß, zwei Taten = dieses Strafmaß).

Psychologische Kriterien müssen stattdessen immer einzeln für sich in ihrer Gewichtung zum gesamten Vorfall betrachtet werden.

Es kann Kriterien geben, die in der Praxis gar nicht so wichtig sind und andere sind so essentiell mit dem Kindeswohl verknüpft, dass man um sie herum das gesamte Gutachten aufbauen muss.

Wir können die psychologischen Kriterien ganz grob in folgende 9 Bereiche aufteilen:

4.1. Wie ist der aktuelle Entwicklungsstand?

Ein Gutachter erst einmal nicht den Auftrag eine separate Diagnose über den Entwicklungsstand des Kindes durchzuführen. Durch seine Ausbildung – und das geschieht günstigenfalls durch einen Hausbesuch – sollte er Entwicklungsauffälligkeiten jedoch erkennen und prüfen können,

      • ob die Eltern bereits im Rahmen ihrer Möglichkeiten vernünftig dagegen ansteuern,
      • und ob weitere Hilfen sinnvoll sind.

Entwicklungsstufen und Entwicklungsaufgaben

Es existieren unzählige Tabellen über die Entwicklungsstufen und -aufgaben von Kindern. Aber trotzdem sind sie hilfreich in der Einschätzung, ob die Eltern die Entwicklung des Kindes fördern oder bremsen. Eine Behinderung kann man durchaus als Kindeswohlgefährdung bezeichnen. Ein studierter Gutachter kann erkennen, ob sich das Kind seinem Alter entsprechend entwickelt, wird aber immer im Hinterkopf behalten, dass es hier auch sehr großen Bandbreiten geben kann. Alleine das Laufen Lernen erfolgt in den Monaten 8 bis 20 Monaten. Das ist – berücksichtigt man die Lebenszeit des Kindes – mehr als die Hälfte des Lebens! Ich möchte mit der folgenden Tabelle mal einen groben Anhaltspunkt dafür geben, welche motorischen und welche sozial-emotionalen Fähigkeiten in welcher Altersgruppe „normal“ wären.

6 Monaten

      • Körperliche Entwicklung / Fein-/Grobmotorik / Bewegung

Aus der Bauchlage heraus kann das Kind den Kopf anheben und den Oberkörper mit den Unterarmen abstützen.

      • Geistig, sozial-emotionale Entwicklung

Das Kind reagiert auf vertraute und ihm bekannte Menschen, wenn diese es ansprechen oder anschauen. Ihm wird immer stärker bewusst, dass es selber und von anderen getrennt existiert. Es kann stabil den Blickkontakt halten und dabei lächeln. Gelegentliche Schreiattacken werden z.B. durch Herumtragen in einem überschaubaren Rahmen (man spricht hier von ca. 20 Minuten) wieder beruhigt.

Mit ca. 9 Monaten

      • Körperliche Entwicklung / Fein-/Grobmotorik / Bewegung

Das Kind kann eigenständig und frei sitzen. Es bewegt sich auf dem Boden durch Kriechen, Krabbeln, oder dem Bärengang. Es kann sich eigenständig vom Rücken auf den Bauch und auch wieder zurückdrehen.

      • Geistig, sozial-emotionale Entwicklung

Eine Distanz zu unbekannten Personen (das Fremdeln) und eine Angst vor Trennung wird zum ersten Mal beobachtet. Der Wunsch nach einer stabilen Zweierbeziehung / der dyadischen Bindung zu seinen Hauptbezugspersonen wird immer deutlicher eingefordert.

Mit ca. 12 Monaten

      • Körperliche Entwicklung / Fein-/Grobmotorik / Bewegung

Es sollte sich selbst aufsetzen, mit dem Zeigefinger zeigen, Stifte in der Faust halten und erste Schritte machen können – evtl. noch eine Zeitlang an der Hand der Eltern. Hier ist die Zeitspanne wie gesagt, sehr groß.

      • Geistig, sozial-emotionale Entwicklung

Das Kind kann aus eigenem Willen heraus, den Kontakt zu seinen Bezugspersonen aufnehmen; Es kann Gegenstände gemeinsam benutzen wie z.B. einen Ball werfen. Es hält den Becher beim Trinken alleine fest und möchte auch gerne alleine essen. Sein Spiegelbild wird immer interessanter. Das Kind betastet es und schaut sich dabei in die Augen.

mit 18 Monaten

      • Körperliche Entwicklung / Fein-/Grobmotorik / Bewegung

Das Kind kann selbständig und frei Gehen. Treppenstufen werden im sogenannten Nachstellschritt bewältigt.

      • Geistig, sozial-emotionale Entwicklung

Stabile zwischenmenschliche Bindungen bilden sich aus. Die Trennung von der Bindungsperson ist ein paar Stunden bereits möglich – jedoch nur wenn die Versorgung durch eine bekannte Person erfolgt („Tagesbetreuung“). Das Kind kann immer deutlicher seinen eigenen Willen zeigen und versteht auch das „Ja“ oder „Nein“ seiner Umgebung.

mit 24 Monaten

      • Körperliche Entwicklung / Fein-/Grobmotorik / Bewegung

Es kann einen Malstift im Faustgriff halten, Spiralen zeichnen und sein Fläschchen selber öffnen. Es klettert auf Spielgeräte, kann auf Zehenspitzen gehen, und einen Ball schießen, ohne dabei vorneüber zu fallen.

      • Geistig, sozial-emotionale Entwicklung

Das Kind nimmt sich als eine eigenständige Person wahr. Es kann sich für einige Minuten allein beschäftigen, wenn es weiß, dass seine Bezugsperson zwar in der Nähe, aber nicht sichtbar ist. Der eigene Wille steht immer öfter vornean. Gelernt wird durch Agieren (ausprobieren) und die Ablehnung von Hilfe. Das Interesse an anderen gleichaltrigen Kindern steigt. Es ahmt häusliche Arbeiten nach (Bügeln, Tisch decken, Rasen mähen, Auto waschen).

mit 36 Monaten

      • Körperliche Entwicklung / Fein-/Grobmotorik / Bewegung

Baut einen Turm aus mindestens 8 Bauklötzen, kann sich und seine Emotionen immer besser selbst kontrollieren. Die motorischen Funktionen wie z.B. mit einer Kinderschere einen Papierstreifen durchschneiden werden immer besser und beim Malen erfolgt der Übergang vom Zeichnen einer Spirale (offene Formen) zu den geschlossenen Formen. Es kann Kopffüßler zeichnen.

      • Geistig, sozial-emotionale Entwicklung

Es kann 3-4 Formen antizipierend (vorhersehend) in eine Formbox stecken. Spielen mit anderen Kindern wird immer wichtiger. Nach kurzer Eingewöhnung ist die Trennung von der Bindungsperson und eine Betreuung im Kindergarten für die meisten Kinder möglich. Es kann „eins“ und „viele“ unterscheiden. Freut sich über Reime und Lieder und beginnt mit seiner Puppe zu sprechen. Die Fragewörter „Wieso“, „Weshalb“ und „Warum“ werden immer häufiger.

48 Monaten

      • Körperliche Entwicklung / Fein-/Grobmotorik / Bewegung

Es kann einen Ball fangen, immer besser Kopffüßler zeichnen, springt über kleine Hindernisse und steigt Treppen im Wechselschritt ohne Festhalten hoch. Es bewegt sich zur Musik, oft aber noch ohne Takt. Es sollte mit Knete kleine Figuren herstellen und mit Messer und Gabel essen können.

      • Geistig, sozial-emotionale Entwicklung

Es kann bis 4 zählen und erkennt die Menge ein bis drei. Legt ein 10-teiliges Puzzle alleine, kann einzelne Formen klar voneinander unterscheiden und aus einer Menge heraussuchen.
Kann sich in einer Schlange hintenanstellen. Eine längere Trennung wie z.B. eine Übernachtung ist bei gut bekannten Personen möglich. Die Phase der „Auflehnung und Abnabelung von den Eltern“ beginnt. Es kann immer besser seine Affekte regulieren und akzeptiert (mit einem Augenzwinkern „meistens“) ein „Nein“. Perspektivenwechsel und die Integration in eine Gruppe ist immer besser möglich, genauso auch Regel- und Rollenspiele. Baut mit kleinen Legosteinen erkennbare Autos, Häuser oder Flugzeuge.

mit 60 Monaten

      • Körperliche Entwicklung / Fein-/Grobmotorik / Bewegung

Es kann auf einem Bein stehen, hüfen und das Gleichgewicht halten. Kann einen Stift nun bereits mit Daumen und Zeigefinger halten. Fängt einen Ball mit beiden Händen aus mehreren Metern Entfernung, balanciert auf einer Mauer und kann mit Rollschuhen und Stelzen umgehen.

      • Geistig, sozial-emotionale Entwicklung

Durch ein immer stärker werdendes Selbstgefühl kann es erste eigene Freundschaften schließen. Es kann teilen, Regeln bei Gesellschaftsspielen einhalten, über negative Erlebnisse erzählen und seine eigenen Wünsche auch mal zurückstellen (das Marshmallow-Experiment von Walter Michel aus dem Jahr 1972). Es beginnt, seine eigenen Handlungen zu planen: „Was brauche ich, wenn ich etwas basteln möchte“? Es trifft im Rollenspiel ausgehandelte Absprachen und kann auch Rollen mit anderen aushandeln (Das „Vater-Mutter-Kind-Spiel“)

ab dem Schulalter

Das Kind versteht Spielregeln und wendet sie an. Es kann sich gut verständlich in seiner Muttersprache ausdrücken. Freundschaften werden immer wichtiger und die Trennungen von Bindungspersonen länger möglich. Es erzählt seine Erlebnisse für andere nachvollziehbar und kann seinen Namen selber schreiben. Es kann seinen Schulweg alleine bewältigen. Es kann mit Frustrationen immer besser umgehen und auch mal die Perspektive wechseln. Es kann sich lange in ein Spiel vertiefen und bei einer Aufgabe bleiben, bis diese erledigt ist. Es liebt Tausch-Spiele (z.B. Stifte untereinander tauschen).

4.2. Welche Bindung hat das Kind mit den Eltern?

Unter Bindung im Sinne der Bindungstheorie des englischen Kinderpsychiaters und Psychoanalytikers John Bowlby wird das Vertrauen in die Beziehung des Kindes zu seiner Bindungsperson verstanden.

Eine ganz kurze Erklärung hierzu: Sigmund Freud ging von einem Triebprinzip aus, in dem sich der Säugling durch die orale Triebbefriedigung während des Stillens an die Mutter bindet. John Bowlby hat dies widerlegt, indem er bewies, dass jedes Kind mit einem angeborenen Bindungssystem zur Welt kommt. Was bedeutet dies? Im Gegensatz zum freudschen Erklärungsansatz hat ein Kind nach der Bindungstheorie den natürlichen, tiefen inneren Drang zu seinen Eltern und das egal, ob sie sich als „Eltern nun so verhalten oder nicht.“ Dies sollte ein Gutachter immer im Sinn behalten: „Kinder benötigen ihre biologischen Eltern mehr als uns das oft bewusst ist.“

Diese Bindung vermittelt einem Kind unter Idealbedingungen ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit (der sprichwörtliche sichere Hafen). Tiefe Bindungen können vom Kind zu mehreren Personen aufgebaut werden, wobei in der Regel Mutter und Vater vor anderen bevorzugt werden. Der Sachverständige Gutachter sollte sich in diesem Bindungsthema unbedingt auskennen.

Im Rahmen des Gutachtens wird jedoch das Bindungsmuster normalerweise nicht diagnostiziert, da der Rahmen hierfür nicht gegeben, bzw. dies nur bei recht kleinen Kindern möglich ist. Darum hier nur eine kleine Übersicht:

Die 4 Phasen der Bindungsentwicklung nach Bowlby

      1. Vorbindungsphase ca. 0-3 Monate
        Das Kind zeigt hier noch personenunspezifisches Bindungsverhalten und baut zu jeder Person (!) eine Bindung zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf.

      2. Bindungsentstehung 3-8 Monate
        Das Bindungsverhalten wird immer stärker auf vertraute Personen ausgerichtet, ist aber noch nicht so ganz exklusiv auf eine bestimmte Person festgelegt. Es gibt jedoch bereits eine primäre und eine sekundäre Gruppe.

      3. Phase der tatsächlichen Bindung ab 8 Monate bis ca. 2 Jahren
        Ab hier ist die Bindung bestimmter und differenzierter auf bestimmte Personen gerichtet. Die Haupt-Bindungsperson gilt als sichere Basis, es entsteht Angst vor Fremden und einer Trennung (das sogenannte Fremdeln).
        Kommt es in dieser Phase zu längeren Trennungen (über Wochen oder Monate durch Tod oder Trennung) ist die Gefahr von tiefen Einschnitten in der Entwicklung des Kindes sehr groß. Nicht selten äußern sich dann körperliche und psychische Symptome. 

      4. Phase der zielkorrigierten Partnerschaft ab ca. 2 – 3 Jahre
        In dieser Zeit der reziproken / wechselseitigen Beziehungen nimmt die Menge und die Intensität an Bindungsverhalten stetig ab. Die körperliche Nähe wird immer weniger notwendig, wenn das Kind eine sichere Bindung zu seinen Bezugspersonen entwickelt hat – es kann sich auch mal alleine in einem Raum, ohne die Mama wohlfühlen.

Wichtig ist auch folgender Fakt: Welche der nun folgenden Bindungsmuster ein Kind zu seinen Bezugspersonen entwickelt hat, hängt nicht von ihm ab. Es ist das Ergebnis der Beziehungs- und Interaktionsangebote seiner Bezugspersonen. Ein Kind kann, je nachdem wie sich seine Eltern ihm gegenüber verhalten, recht unterschiedliche Bindungsqualitäten entwickeln.

Die Bindungsqualitäten nach Mary Ainsworth und seine Merkmale

      1. Die Sichere Bindung / Bindungstyp B

In einer sicheren Bindung können Kinder ihre negativen Gefühle wie z.B. Trauer, Wut und Frustration zeigen und bekommen dafür von ihrer Bezugsperson Trost – Containing genannt. Durch diesen sicheren Kreislauf von Wiedervereinigung mit der Bezugsperson, Erhalt von Nähe, Zusicherung von Trost und Halt, erhalten die Kinder die Kraft zur Exploration, zum Erkunden ihrer Umwelt.

      1. Die Unsicher- vermeidende Bindung / Bindungstyp A

Die Kinder lassen bei einer Trennung von der Bezugsperson kaum Anzeichen von Emotionen erkennen. Sie spielen selbstständig und scheinbar unbeteiligt weiter und viele zeigen kaum Reaktion bei Wiedervereinigung. Aber trotz dieser nach Außen selbstbewussten und ruhigen Haltung ist oft zu beobachten, dass Kinder aus einer unsicher-vermeidenden Bindung innerlich sehr aufgewühlt und bei der Rückkehr der Mutter Ignoranz und Ablehnung gegenüber Körperkontakt hatten.

3. Unsicher- ambivalente Bindung / Bindungstyp C

Diese Kinder des Bindungstyps C sind eher unsicher, verunsichert und auch passiv. Sie wehren sich in der Regel gegen eine Trennung und brauchen bei der Wiedervereinigung sowohl die Nähe als auch den Kontakt zur Bezugsperson, sind aber gleichzeitig abweisend und lassen sich nur schwer beruhigen. Der Wechsel zwischen dem Wunsch und dem Widerstand zur Nähe macht ein Beruhigen des Kindes recht schwer.

      1. Desorganisierte/desorientierte Bindung / Bindungstyp D
        (kann bereits ein pathologisches Bindungsmuster sein)

Die Kinder zeigen bei der Wiedervereinigung sichtbare Anzeichen von Angst, sind jedoch nicht in der Lage, sich beruhigen zu lassen. Ihr Verhalten ist häufig seltsam und widersprüchlich (z.B. Einfrieren des Gesichts). Normale Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategien sind nicht mehr zu beobachten. Dies alles wird als Risikofaktor für eine pathologische Bindungsstruktur angesehen. Aber Vorsicht: Solch ein Verhalten lässt sind nicht immer eindeutig von „normalen“ psychologischen Belastungen abgrenzen, die z.B. auch bei einer stark konfliktbelasteten Trennung der Eltern auftreten.

      1. Bindungsstörung:

Nach dem ICD-10 der „Internationalen Klassifikation von Krankheiten“ von der WHO unterscheidet wir zwei Typen von Bindungsstörung:

      • reaktive Bindungsstörung F94.1
      • Bindungsstörung mit Enthemmung F94.2

Beide sind eine voll ausgebildete psychische Störung mit schweren dauerhaften Verhaltensstörungen gegenüber Bezugspersonen und fremden Erwachsenen (z.B. aggressive Ablehnung einer Bezugsperson, weglaufen, distanzloses Verhalten gegenüber anderen, auch Fremden) 

4.3. Die Bindung / Beziehungen zu Eltern, Stiefeltern, Geschwistern, entfernteren Verwandten und Dritten

Wenn wir uns mit dem Thema „Beziehung“ auseinandersetzen, dann müssen wir erst mal klarstellen, wer die eigentliche „Hauptbezugsperson“ in diesem Falle ist. Wie gut und wie sicher sich ein Kind in einer Beziehung mit einer Hauptbezugsperson fühlt, wird von verschiedenen Aspekten bestimmt:

      • Zum einen die Verfügbarkeit
      • aber auch die Qualität des Kontaktes sind entscheidend.
      • Nicht zuletzt durch die Verantwortung für den Alltag des Kindes.

Als Hauptbezugsperson kann die Person bezeichnet werden,

      • welche die überwiegende Zeit mit dem Kind verbringt,
      • die sich hauptsächlich um das Kind kümmert
      • und es versorgt.

Diese Punkte beeinflussen das Kontinuitätserleben des Kindes in großem Maße. Wenn wir von Versorgungsleistungen sprechen, dann unterscheiden wir zwischen den

      • beobachtbaren Versorgungsleistungen (z.B. das Kind zur Schule, zum Kinderarzt bringen)
      • und der unsichtbaren Sorgearbeit.

Die unsichtbare Sorgearbeit betrifft das gesamte Management der alltäglichen und weiteren Aufgaben / dem Mental Load das unsichtbare „Familien-Projektmanagement“. Die vielen Bereiche der unsichtbaren Versorgung (in der Regel werden diese immer noch überwiegend von den Müttern trotz Vollzeitberufstätigkeit übernommen), sind u.a.

    • Management von Schule/Kindergarten wie Elternbriefe,
    • Veranstaltungen, Feste, Besorgung von Geschenken,
    • Organisation und Vorbereitung von Arztterminen,
    • Hobbys und das Management diese ausführen zu können (Hol- und Bringdienst)
    • körperliche Versorgung z.B. mit passender Kleidung,
    • regelmäßiges Waschen der Kleidung,
    • Friseurtermine,
    • Was essen wie heute?
    • Freundschaften unterhalten und damit soziales Netzwerken unterstützen,
    • Sich um die religiösen, kulturellen und sozialen Seiten für das Kind kümmern,
    • Die Betreuung der Kinder organisieren.
    • die vielen mentalen To-Do-Listen, die praktisch täglich neu abgearbeitet werden müssen, im Auge behalten.

Hinzu kommt dann noch die Versorgung auf der Verhaltensebene

      • Zubereitung von Mahlzeiten;
      • Einkaufen, Baden, Anziehen und Pflege des Kindes;
      • Hol- und Bringdienste zu sozialen Aktivitäten des Kindes;
      • Zubettbringen und Aufwecken;
      • Die Alltagserziehung
      • Beibringen grundsätzlicher Fertigkeiten (mit Messer und Gabel essen, sich die Schuhe zubinden, sich selber anziehen, die Hände und das Gesicht waschen u.a.).

Durch die hierbei gemeinsam verbrachte Zeit kann durchaus auch eine emotionale Nähe entstehen, man kann dies aber nicht zwingend erwarten. So etwas kann z.B. auch durch eine Kinderkrippe oder ein Au Pair durchgeführt werden. Darum muss ein Gutachter immer im Hinterkopf behalten: allein das Festlegen, wer die Hauptbezugsperson ist, sagt noch nichts über die Bindungsqualitäten zu ihr mit dem Kind aus!

Geschwister

Die Geschwister haben in der Regel die längste und auch gleichberechtigte Beziehung zueinander. Sie sind Teil desselben Familiensystems, wachsen zur selben Zeit im selben Haushalt, unter ähnlichen Umständen, mit gleichen Wertvorstellungen und Erziehungsstilen auf. Geschwister haben mit den größten Einfluss aufeinander, indem sie sich gegenseitig in der Sprachentwicklung und durch das gemeinsame Spiel unterstützen. Als Spielgefährten verbringen sie viel Zeit miteinander – oft mehr als mit den Eltern – und teilen sich die meisten Pflichten und auch Probleme innerhalb der Familie. Ihre Beziehung zueinander wird jedoch stark beeinflusst durch

      • den Altersabstand,
      • durch ihr Temperament,
      • das Geschlecht,
      • die Familiengröße und die Geschwisterfolge
      • durch das Verhältnis zu den anderen Mitgliedern in der Familie
      • und nicht zuletzt durch die Art und Weise, wie die Eltern die Geschwisterbeziehungen geführt haben – Bevorzugungen oder schwarze Schafe.

Bei einem Altersabstand von unter zwei Jahren (bei unter 18 Monaten spricht man von Pseudozwillingen) kann man häufiger eine Rivalität untereinander beobachten. Liegen bis zu drei Jahren zwischen den Geschwistern kann man eher eine intensivere Beziehung vermuten. Bei älteren Kindern kann man häufig ein fürsorgliches „Eltern-Ersatz-Verhalten“ gegenüber den jüngeren Geschwistern sehen, wenn die Eltern nicht ausreichend zur Verfügung stehen.

Stiefelternschaft oder Patchworkfamilien (verheiratet oder nicht)

Etwa 7 bis 13% aller deutschen Familien sind Patchworkfamilien. Sie entstehen immer seltener durch Tod eines Elternteils, jedoch häufiger durch eine Trennung. Oft gründen beide getrennte Eltern dann eine neue Familie – die Stieffamilie. Der Begriff Familie kommt aus dem lateinischen Wort „familia“ das „Hausgenossenschaft“ / „die miteinander Lebenden“ bezeichnet. Da diese Familienkonstellation aber nicht gewachsen ist, die Eltern sich nicht ohne die Kinder kennengelernt und auf die Geburt des Kindes haben vorbereiten können, sind diese selbstgewählten Schicksalsgemeinschaften oft stark belastet. Dies betrifft nicht nur die Eltern. Besonders die Kinder müssen sich in diese neue – von ihnen nicht gewählte Rolle – in der neuen Stieffamilie einfügen. Dennoch können gerade Stiefeltern sowohl durch ihre persönliche Hilfe aber auch oft durch ihre finanziellen Möglichkeiten ein wichtiger Stützfaktor für die Kinder sein. Kinder werden durch das neue Familienkonzept der Patchworkfamilie oft einem hohen Erwartungsdruck ausgesetzt.

Haben sich die Erwachsenen aufgrund einer Liebesbeziehung zusammengefunden, so ist dies bei den Kindern etwas anderes. Sie bekommen eine für sie völlig neue Situation „vorgesetzt“ und die Erwartungshaltung an sie ist nun, dass sie – ohne eigene Motivation – die gleiche Liebe und Harmonie nun auch zu den Stiefgeschwistern und den Stiefeltern aufbringen, wie es die „neuen Eltern“ untereinander haben.

Noch komplizierter würde es dann in den sogenannt komplexen Stieffamilien, wo mehrere Kindern aus unterschiedlichen Herkunftsfamilien leben.

Entferntere Verwandte

Häufig können Großeltern, aber auch Tanten, Onkels etc. eine wichtige Bezugsperson für ein Kind sein. Dabei hängt jedoch auch viel davon ab, wie die Erwachsenen zueinander stehen. Gerade in der Trennungsphase oder anderen hochemotionalen Konflikten zwischen den Eltern wären neutrale Verwandte von großem Vorteil. Leider ist nur selten der Fall. Sind die Kinder bereits älter, können sie – zumindest übergangsweise – auch von anderen erwachsenen Bezugspersonen, wie z.B. Lehrern, Eltern von Freunden, Vereinstrainern oder anderen nahestehenden dritten Personen die nötige emotionale Unterstützung erhalten, die sie in der Familie zeitweise vermissen. 

4.4. Kindeswille

Der Begriff des „Kindeswillens“ beschreibt in dem familiengerichtlichen Verfahren die Absichten, Wünsche, Bedürfnisse, die Wertungen, Befürchtungen (das Erleben des Kindes) und die Anliegen (die Positionierung im Konflikt, Handlungsabsichten) des Kindes. Für den Gutachter ist der Kindeswille neben einem möglichen Drogenmissbrauch und psychischen Belastungen der Eltern mit das wichtigste Kriterium.

Den Willen nun aber zu erfassen, wie er zustande gekommen ist und warum sich das Kind jetzt genau so und nicht anders positioniert, ist leider gar nicht so einfach herauszufinden. Die Gründe hierfür sind ein Kaleidoskop / ein buntes Durcheinander von schwer fassbaren Gründen, die sich außerdem auch noch dynamisch verändern können. Erschwerend kommt noch hinzu, dass es bis dato kein standardisiertes Vorgehen gibt, wie der Kindeswille erfasst und in Bezug auf die Gerichtsfragen bewertet werden kann. Es liegt dann oft einzig an der Erfahrung und dem klaren Blick des Sachverständigen diesen Kindeswillen zu erkennen und vernünftig in das Fragekonstrukt einzufügen.

Folgende Fragen können für den Gutachter eine Hilfe darstellen:

      • Passt dass, was das Kind als eigenen Willen äußert wirklich zu seinen kognitiven Fähigkeiten?
      • Passt der ausgesprochene Wille zu seinen anderen Willensäußerungen, z.B. den im Test erwähnten?
      • Kann ein anderer Beobachter diesen Willen auch so erkennen?
      • Passt der Wille zum bisherigen Verlauf der Familie, oder gibt es hier einen Knick?
      • Passt der Wille zu der beobachtbaren Beziehung / der Kommunikation zwischen dem Kind und seinen Eltern?

Trotz dieser Fragen kann eine Bewertung nicht immer eindeutig erfolgen. Sie kann nur Hinweise aufzeigen. Um trotzdem vernünftige Rückschlüsse ziehen zu können, sollten zumindest folgende 4 Kriterien erfüllt sein:

      1. Zielorientierung
        Die Zielorientierung bedeutet, dass das Kind weiß, was es will. Man kann seine Absicht, etwas zu erreichen, beizubehalten oder zu vermeiden klar erkennen.

      2. Stärke Intensität,
        Hier geht es um die Nachdrücklichkeit und Entschiedenheit, mit der das Kind seine Ziele angeht. Wie subjektiv wichtig und attraktiv sind ihm seine Wünsche?

      3. Beständigkeit
        Damit wird die Stärke und Unerschütterlichkeit, die Konstanz des Kindeswillens über verschiedene Umstände und Zeiten hinweg verstanden.

      4. Selbstbestimmung
        Autonomie oder Selbständigkeit in dem Sinne, dass der Kindeswille von ihm selber und nicht aus der Beeinflussung anderer entstanden ist.

Aber Vorsicht: jede Form von Erziehung, Zuwendung, Streicheln oder Fürsorge stellt im Grunde genommen bereits eine Beeinflussung dar. Dies jetzt bei dem Kind abzugrenzen ist in der Praxis kaum möglich. Bei Kindern kommt noch dazu, dass es den Willen Anderer oft als seinen eigenen empfinden kann – siehe hierzu die Internalisierungsphasen Inkorporation, Introjektion und Identifikation.

4.5. Erziehungsfähigkeit und Erziehungskompetenz

Das Wort Erziehung ist ein Sammelbegriff für alle Versuche (sowohl erfolgreiche als auch weniger erfolgreiche) um das Verhalten anderer in eine gewünschte Richtung zu ändern. Die Erziehung eines Kindes passiert zuerst in der Familie. Sie ist abhängig von dem gefühlten, dem emotionalen Klima innerhalb der Familie und den verschiedenen dort lebenden Personen.

Wenn wir von einer „Erziehungseignung oder -fähigkeit“ sprechen, dann ist damit nicht nur die Fähigkeiten zur Erziehung, sondern auch die Bereitschaft zur Erziehung gemeint und zwar um  die wichtigsten körperlichen und geistigen Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen im Sinne des „good enough“ des englischen Kinderpsychologen Donald Winnicott.

Dazu zählt

      1. genügend Nahrung.
      2. ausreichend Wohn- und Schlafraum aber auch vernünftige angemessene Kleidung,
      3. Ausreichende Sauberkeit, medizinische Versorgung und Schutz vor Gefahren.
      4. Die innere Bereitschaft, für das Kind emotional und auch dauerhaft ansprechbar zu sein.

Der Gutachter kann sich die Frage stellen,

      • ob die Erziehungsperson in der Lage ist, zu dem Kind eine Beziehung aufzubauen, die seinen jeweiligen Bedürfnissen gerecht wird.
      • Kann sie dem Kind Geborgenheit und Sicherheit auch unter Stress geben, oder lässt sie ihre eigenen Sorgen und Nöte an dem Kind z.B. durch Ärger, Demütigungen oder Zurückweisungen aus?
      • Ist sie in der Lage, die Wünsche und die Bedürfnisse des Kindes vernünftig einzuschätzen und in der Erziehung darauf einzugehen? 
      • Kann sie ein Minimum an Regeln und Werten vermitteln, um dem Kind dadurch die Möglichkeit zu geben, eine eigenständige und gesellschaftsfähige Persönlichkeit zu entwickeln?
        Natürlich sollten sich diese Normen immer an dem Alter und seinen Fähigkeiten orientieren.

Aufmerksam sollte der Sachverständige werden, wenn er sehen kann, dass diese Regeln stark von gesellschaftlichen Normen abweichen, oder die Eltern einfach nur überfordert wirken mit der Erziehung des Kindes.

Über die grundlegende Erziehungsfähigkeit hinaus geht die …

4.6. Förderkompetenz, die Fähigkeit, dem Kind Lernen zu ermöglichen

Förderkompetenz beschreibt verschiedene Fähigkeiten der Eltern. Diese sind u.a.

      1. dem Kind mit vernünftigen Methoden helfen, seine Entwicklungsaufgaben zu lösen.
      2. Hilfestellung für die Persönlichkeitsentwicklung zu geben,
      3. Eine dauerhafte Beziehung zu dem Kind aufzubauen. 
      4. In der Erziehung eine Stabilität / eine Kontinuität an den Tag legen.

Dies alles ist natürlich bei allen Eltern und Kindern – besonders wenn wir die Entwicklungsphasen noch dazu nehmen – sehr individuell.

      • Ein Säugling braucht deutlich feinfühligere Aufmerksamkeit, körperliche Fürsorge und Schutz. 
      • Im späteren Krabbelalter steht dann die Sprache eher im Vordergrund und das Lernen, Frustrationen auszuhalten. 
      • Im späteren Vorschulalter ändert sich der Fokus dann mehr auf die Selbst-Hygiene und Reinlichkeit und die „Wieso, weshalb, warum-Fragen“ kommen auf. 
      • Ein Schulkind braucht vielleicht mehr Hilfe bei den Schulaufgaben, muss mit Selbstzweifeln und Schwierigkeiten im Freundeskreis umgehen.

Damit Kinder sich frei entfalten können, benötigen sie eine anregende Umgebung und die wird in der Regel von den Eltern gestaltet. Darum muss der Sachverständige prüfen, ob die Eltern das Kind in seiner Entwicklung unterstützen, eventuell vorhandene Potentiale erkennen und fördern oder Defizite in seiner Entwicklung ausgleichen. Sind Defizite da, dann stellt sich auch die Frage, woher diese kommen. Deshalb ist die Frage auch angebracht, ob die Eltern bereit sind, für eigene Fehler und Probleme in der Familie selbstkritisch die Verantwortung zu übernehmen.

Unter dem Begriff der Erziehungs- oder Förderkompetenz können folgende Faktoren verstanden werden:

      1. Beziehungsfähigkeit:

Haben die Eltern Empathie? Können sie ihre Zuneigung und Liebe ausdrücken? Spürt das Kind in ihrer Umgebung Geborgenheit, Schutz und Anteilnahme an seinen Interessen?

      1. Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit:

Haben die Eltern sowohl die Fähigkeit als auch die Bereitschaft zuzuhören, miteinander zu reden, und können sie angemessen auf die Signale des Kindes reagieren? Besonders in der kindlichen Frustrationszeit benötigen Eltern ein hohes Maß an Feinfühligkeit aber auch an Geduld.

      1. Grenzsetzungsfähigkeiten:

Können innerhalb der Familie Absprachen getroffen, klare Regeln aufgestellt und Konsequenzen durchgesetzt werden?

      1. Förderfähigkeit:

Ermutigen die Eltern ihr Kind, indem sie ihm altersgerechte Aufgaben und Verantwortung übertragen? Zeigen Sie Anerkennung für geleistete Arbeiten? Sprechen Sie mit ihm über die Zeit, wenn sie aus dem Elternhaus ausziehen und geben ihnen dafür Orientierung? Gibt es im Elternhaus die Möglichkeit, um mehr Wissen und Bildung zu erhalten, z.B. Bücher, Wissensspiele, Zugang zum Internet?

      1. Vorbildfunktion:

Kann man an dem Leben der Eltern erkennen, dass sie selber ein gewisses Maß an Selbstkontrolle, Ordnung und Disziplin haben? Können sie ihr eigenes Handeln bewerten und überdenken und sich – falls notwendig – auch mal korrigieren? Haben sie sich bei negativen Gefühlen unter Kontrolle oder lassen sie ihren Emotionen und Impulsen freien Lauf?

      1. Alltagskompetenz

Dieser große, oft auch unterschätzte Bereich wird als „unsichtbares Management und Sorgearbeit“ genannt … Es ist die Bereitschaft, alles rund um die Versorgung, den Schutz, die Ernährung, Kleidung und die Pflege des Kindes zu organisieren. Mit anderen Worten: „den Haushalt schmeißen“. Wir hatten hierbei vorhin das Wort „Mental-Load“ erwähnt.

      1. Erziehungsstile:

Keine Gewalt oder erniedrigende Erziehungsmaßnahmen. Nach dem Paragraphen §1631 Abs.2 BGB haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafung, seelische Verletzung oder andere unwürdige Maßnahmen sind unzulässig. 

4.7. Kooperationsbereitschaft und die Kommunikationsfähigkeit der Eltern

Grob könnten wir das Thema Kooperation in zwei Bereiche unterteilen:

      • Kooperation mit Personen und Organisationen, die mit dem Kind in Kontakt kommen:
        • Das können zum Beispiel Fachkräfte wie Erzieher, Lehrer, Ärzte oder Therapeuten sein, die bei Bedarf kontaktiert werden müssen.
        • Dann gehört zur Kooperation die Bereitschaft, sich bei Bedarf fremde Hilfe zu suchen,
        • und nicht zuletzt auch die Fähigkeit, diese Hilfen dann umzusetzen.
      • Der zweite Bereich ist der zwischen den Eltern.
        • Es geht darum, ob die Eltern – egal wie hoch das Konfliktniveau – in der Lage und bereit sind, Dinge, die für das Kind wichtig sind in Ruhe zu entscheiden.
        • Das muss nicht zwingend durch Gespräch passieren. Manche Partnerschaften sind so zerrüttet, dass nur noch der schriftliche Weg genutzt werden kann. Aber wenn es dem Kind nützt dann ist das „OK“.

Kooperation und Kommunikation kommen immer wieder mit folgenden drei Begriffen in Berührung, die ich kurz einmal erklären möchte: Beziehungstoleranz, Gate-Keeping und Co-Parenting:

      1. Beziehungstoleranz

Sie beschreibt die Grundhaltung, die Einstellung der Eltern, dass es wichtig ist, dass das Kind weiterhin Kontakt zum anderen Elternteil hat. Es ist aus psychologischer Sicht heraus immens wichtig, wie sehr ein Elternteil die Bedeutung des Anderen für das Kind anerkennt und auch dann noch wohlwollend über ihn spricht, wenn er nicht anwesend ist. Der Begriff der Bindungs- bzw. Beziehungstoleranz geht über das reine Tolerieren der Bindung zum anderen Elternteil hinaus. Es lenkt viel eher die Aufmerksamkeit darauf, dass beide Eltern bei dem Kind den Kontakt zum anderen Elternteil aktiv fördern, diesen unterstützen und damit das Kind davor schützen, in dem Konflikt der Erwachsenen Partei ergreifen zu müssen.

      1. Gate-Keeping

Der Begriff „Gate-Keeping“ bezeichnet im eigentlichen Sinne etwas Gutes, ein beschützendes Verhalten der Eltern, um das Kind vor einer Gefährdung durch andere Personen zu beschützen. Bei einem familiengerichtlichen Verfahren wird „Gate-Keeping“ jedoch oft im genau entgegengesetzten Sinne verwendet. Es beschreibt ein stark einschneidendes Verhalten dem Kind gegenüber, indem ihm der Zugang zum anderen Elternteil unnötig und über die Gebühr eingeschränkt wird.

Mit „Gate-Keeping“ wird – einem Türsteher ähnlich – die Haltung der Eltern zueinander – im Sinne der Beziehungstoleranz -beschrieben. Es ist ein eher manipulatives Verhalten, in dem versucht wird, alles was mit anderen Elternteil zu tun hat, zu kontrollieren bzw. einzuschränken und dass das Kind möglichst die eigene Meinung über den anderen Elternteil einnimmt. Alles aber immer unter dem Deckmantel, das Kind vor Schaden zu bewahren.

Der Begriff „Gate-Keeping“ ist für den Gutachter ein nicht zu unterschätzender Indikator, der viel über die Beweggründe und das Rollenverständnis der Eltern unter- und übereinander aufzeigt.

      1. Co-Parenting

Dieser Begriff steht für eine geteilte Elternschaft und kann auch zwei Erwachsene beschreiben, die sich verbinden, um ein Kind zu bekommen, ohne dass sie in einer sexuellen oder romantischen Beziehung zueinander stehen. In unserem Themenkomplex – Trennungseltern – beschreibt es jedoch die gemeinsam ausgeübte Elternverantwortung.

Co-Parenting beschreibt die Bereitschaft, mit dem anderen Elternteil in der Erziehung oder auch bei dem Umgang zusammenzuarbeiten und Entscheidungen für das Kind zu treffen. Co-Parenting kann in der Praxis sehr unterschiedlich durchgeführt werden. Es gibt

      • die grundsätzlich positive, kooperative Haltung
      • die distanzierte
      • oder auch die negative, konkurrierende Haltung.
      • Der ehemalige Partner wird entweder anerkannt oder boykottiert;
      • Die Verantwortung werden entweder auf Augenhöhe oder im Streit aufgeteilt.

Co-Parenting ist keine andere Bezeichnung für ein Wechselmodell. Denn hier steht nicht der Zeitanteil im Mittelpunkt, sondern die Verantwortung der Eltern. Wer führt z.B. die Elternsprechtage, die Hausaufgabenbetreuung oder die Arztbesuche durch. Co-Parenting ist in seiner Grundbedeutung ein eher dynamischer Begriff, weil sich auch die Bedürfnisse des Kindes mit den Jahren immer wieder verändern.

Gerade deshalb wird viel von den Eltern verlangt. Ich denke hier an:

      • eine vernünftige Kommunikation zwischen beiden Elternteilen
      • die Nähe zu dem anderen Elternteil weiter fördern oder zumindest zulassen,
      • Gegenseitiges Vertrauen und Respekt vor dem Anderen zeigen.

        Gerade der Begriff Respekt ist ein zentraler Punkt in diesem Thema. Bedeutet er doch ein „nach hinten sehen“ und meint damit, eine Anerkennung auch der guten Handlungen des ehemaligen Partners in der Vergangenheit.

Ein positives Co-Parenting wäre – trotz einer Trennung – mit, die beste Wahl für das Kind, wird aber nur selten in die Tat umgesetzt. Darum muss ein Gutachter genau betrachten, ob es bei belastendem Verhalten der Eltern nicht andere Regelungen oder eine neue Aufteilung der Verantwortung für das Kindeswohl sinnvoller wäre.

4.8. Der Wille, die Bereitschaft, als Eltern Verantwortung zu übernehmen

Der Hintergrund, warum sich Eltern an das Gericht wenden, kann sehr unterschiedlich sein. Die einen möchte mehr Zeit mit den Kindern, während andere sich eher um das Finanzielle streiten. Dies muss ein Gutachter immer im Hinterkopf behalten.

      1. Liegen bei dem Antrag evtl. Beweggründe vor, die nicht direkt mit dem Kind zusammenhängen?

      2. Kindererziehung ist kein Nebenjob. Sind die Eltern dafür bereit, sich in ihrem Leben für das Kind einzuschränken?

      3. Wie realistisch ist der beim Gericht gestellte Antrag? Kann die Forderung auch in die Realität umgesetzt werden, wenn man Beruf, Wohnort und eine evtl. neue Partnerschaft berücksichtigt? 

4.9. Kontinuität und Stabilität

Der Begriff Kontinuität steht für die Ausdauer, Konstanz, Permanenz und Beständigkeit in der Erziehung. Er zielt darauf ab, dass Bindungen weiter bestehen, die Beziehungen weitergelebt, die Heimat auch weiter Heimat bleibt und nicht zuletzt, dass die Erziehung weiter so verläuft wie bisher.

Der Begriff Stabilität nimmt all diese Begriffe auf, lenkt seinen Blick aber auch mit auf die Zukunft… Kann das, was bislang war, auch so weiter erhalten bleiben? Allein ein vielleicht notwendiger Umzug kann die Kontinuität aushebeln, zeugt aber dennoch von Stabilität.

Wir unterscheiden zwischen zwei Kontinuitätsbegriffen:

      • Die geografische Kontinuität wie z.B. das soziale Umfeld wie Kindergarten, Schule, Vereine aber auch die eigene Wohnung, das eigene Zimmer.
      • Die menschliche, persönliche Kontinuität. Hier kommen dann die Bezugspersonen und deren Erziehungsstil, Freunde, Haustiere mit ins Spiel. 
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