Diese Frage, „wer ist eigentlich für Kinderarmut zuständig – Eltern oder Staat?“ hat mich zu diesem Beitrag motiviert.
Wer oder was entscheidet über meinen persönlichen Werdegang?
Persönlichkeit ist im Endeffekt die Art und Weise, wie wir bewusst auf unsere Umwelt reagieren und mit ihr interagieren. Doch bevor ich mich bewusst (kognitiv) für eine Handlung entscheide bzw. nicht entscheide, muss ich Handlungsalternativen bekommen. Und da kommen jetzt das Temperament und der Charakter mit ins Spiel.
Ganz am Anfang, wenn wir als reines „Es“ (Zitat Sigmund Freud) auf die Welt kommen, reagieren wir noch nach den „Ureinstellungen unserer Gene“. Der Mensch hat ungefähr 25.500 Gene / andere Quellen sprechen von knapp 30.000. Diese enthalten unseren gesamten Bauplan und geben damit auch vor, wie wir uns entwickeln.
Wir unterscheiden heute vier große Gruppen von Temperamenten:
Unsere Gene sind aber nicht in Stein gemeißelt. Sie können– nach der Forschung der Epigenetik – durch äußere Einflüsse in uns an- und auch ausgeschaltet werden. Solche äußeren Einflüsse müssen nicht immer chemische Stoffe oder Toxine sein. Es ist auch durch die Art und Weise wie unsere Kommunikation mit der sozialen und der „fest vernetzten“ Welt um uns herum stattfindet.
Der Genetiker Moshe Szyf von der kanadischen McGill Universität in Montreal verglich in einer Studie die epigenetischen Profile von hunderten Kindern in Bezug auf die Auswirkungen von Missbrauch und Misshandlungen.
Das Ergebnis seiner Untersuchungen: Er fand heraus, dass bei den missbrauchten und misshandelten Kindern Veränderungen an 73 Genen stattfanden, die bei Kontrollgruppen nicht zu beobachten waren.
Unser Temperament wird zwar durch unsere Gene bestimmt, diese können aber durch die Umwelt verändert werden. Und genau hier kommt nun der Charakter mit ins Spiel:
Der Charakter wird aus all dem gebildet, was nun von außen auf uns einströmt. Dies ist alles, was wir nach der Befruchtung der Eizelle – nachdem sich das Ur-Gen / das Genom gebildet hat – nun erleben. Ausdrücklich möchte ich hier auch erwähnen, dass die ersten Eindrücke im Mutterleib dazu gehören und mit den wichtigsten Einfluss auf uns nehmen.
Diesen Einfluss frühester Erlebnisse möchte ich mal mit dem „Westfälischen Hellweg“ / kurz „Hellweg“ in Nordrhein-Westfalen beschreiben. Dieser Weg ist inzwischen über 7000 Jahre alt. Ganz am Anfang war er nur ein Trampelpfad und begann aller Wahrscheinlichkeit nach an einem Rheinübergang in der Nähe von Krefeld. Einer Legende nach, nutzen ihn bereits die alten Römer zur Eroberung Germaniens. Sicher ist aber, dass Karl der Große (768 bis 814 u.Z.) diesen Weg ausgebaut und mit Burgen bzw. Reichshöfen gesichert hat. Was am Anfang ein kleiner Trampelpfad war, wurde später eine der wichtigsten Handelsstraßen.
So auch unsere Charakterzüge oder Charakterbahnen. Wie wir später noch sehen werden, haben die ersten Eindrücke in unserem Leben mit, den wichtigsten und tiefsten Einfluss auf unser Handeln.
Mit dem Einfluss der Umgebung / der Charakter auf unsere Gene und unser Handeln hat sich der US-amerikanische Genetiker Robert Cloninger viele Jahre auseinandergesetzt. Er entwickelte das Konzept der „drei Dimensionen des Charakters“. Der Charakter enthält vor allem die ethisch, moralischen Elemente, welche wir von unserer Umgebung aufnehmen. Diese könnte man nach Cloninger in drei Dimensionen unterteilen:
Das Zusammenspiel von genetischem Temperament und dem charakterlichen Einfluss durch meine Umgebung bringt mich jetzt endlich zur dritten Ebene – der Persönlichkeit.
Meine Persönlichkeit ist im Endeffekt nichts anderes als meine innere Haltung die durch meine äußerlich sichtbaren Handlungen erkannt werden kann.
Auch diese kann man in bestimmte Gruppen unterteilen. Damit haben sich die beiden US-Psychologen Paul Costa jr. und Robert Mc Crae auseinandergesetzt. Sie entwickelten das Konzept der „Big Five“.
Die „Big Five“
Die Ausgangsfrage ist ja immer noch: Was beeinflusst nun unsere Entwicklung? Sind es die Eltern / die Gesellschaft / oder sind es meine Gene? Ich lade dich dazu ein, mit mir eine recht interessante Studie zu betrachten, die eins zeigen wird: Je liebenswerter eine Mutter ihr Kind einschätzt, umso resilienter wird der Mensch im Erwachsenenalter.
Wie ich zu dieser Behauptung komme, möchte ich dir im weiteren Verlauf / im zweiten Teil dieser Abhandlung zeigen.
Im Jahre 1975 begann der Entwicklungspsychologe Alan Sroufe für die kommenden 30 Jahre mit seinen Kollegen in der Minnesota Longitudinal (Längsschnitt) Study of Risk and Adaptation das Leben von 180 Kindern und ihren Familien zu beobachten. Parallel zu dem Beginn seiner Studie, fing man auch allmählich in der Gesellschaft an darüber zu debattieren, ob nun eher Vererbung (das Temperament / meine Gene) oder der Charakter (Erziehung / Staat / Umgebung) mehr Einfluss auf meine Entwicklung und damit auch auf meine Persönlichkeit hat.
Was war entscheidender? Vererbung und Erziehung – nature oder nurture (fördern)? Diese Studie sollte Teil der Antwort auf diese Frage sein.
Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern in ihren ersten Lebensjahren waren zu Beginn dieser Studie noch nicht im Fokus – dafür aber umso stärker im weiteren Verlaufe / in den späteren Jahren als man begann, deren Einfluss auf die jungen Menschen immer deutlicher zu sehen. Ja, Traumata wurden – so viel kann ich schon mal vorwegschicken – am Ende sogar der wichtigste Faktor. Sie wurden DAS (!) Kriterium mit dem am treffendsten vorhergesagt werden konnte, ob jemand als Erwachsener erfolgreich seinen eigenen Weg geht oder eben nicht.
Die Forscher wählten nun sehr genau eine Anzahl junge schwangere Frauen aus, die wegen ihrer Armut auf soziale Unterstützung angewiesen waren. Die Forschungsarbeit begann ca. drei Monate vor der Geburt und man begleitete sie dann 30 Jahre lang in ihrer persönlichen Entwicklung. Alles wichtige rund um ihre Lebensumstände wurde in regelmäßigen Abständen notiert.
Worauf haben sie sich besonders konzentriert?
Sie wollten herausfinden,
Nach den ersten Gesprächen und Tests mit den schwangeren Müttern begann die eigentliche Studie man dann mit der eigentlichen Forschung bereits auf der Entbindungsstation, wo man die Neugeborenen beobachtete und die betreuenden Kinderschwestern befragte. Einige Tage nach der Geburt wurden die Mütter dann auch zu Hause besucht und der Kontakt mit den Kindern fand danach ca. 15-mal in genau festgelegten Zeiträumen bis zum 28. Lebensjahr statt – zum Beispiel bei der Einschulung.
Man erkannte sehr deutlich diese enge Wechselwirkung zwischen der Qualität der elterlichen Fürsorge und weiteren biologischen Faktoren. Die Studie zeigte, dass nichts in Stein gemeißelt, vorherbestimmt oder nicht veränderbar ist.
Mit all diese Faktoren konnte man also keine (!) sichere Vorhersage darüber aufstellen, ob ein Kind in der Pubertät bzw. Adoleszenz gravierende Verhaltensprobleme entwickeln würde.
Kurzer Einschub: Der Unterschied zwischen Pubertät und Adoleszenz … Beide Begriffe bezeichnen die Übergangsjahre zwischen Kind und Erwachsenenalter. Die Pubertät bezeichnet jedoch die körperliche Reifung und die Adoleszenz die seelische Reifung.
Zurück zu unserer Studie! Was war denn nun entscheidend für die Entwicklung eines Menschen?
Wie in anderen Forschungen mit Rhesus-Affen ist es die Verbindung zwischen verletzlichen Babys und unflexiblen Eltern die dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ängstlich anklammernde und verspannte Kinder erzeugen.
Erinnert dich das nicht stark an die Kriterien von ADHS?
Das hört mit dem Übergang zum Erwachsenen nicht auf! Hier die 7 Kriterien für ADHS im Erwachsenenalter nach den Wender-Utah-Kriterien (einem speziellen Symptomkatalog für ADHS im Erwachsenenalter) die von Paul Wender entwickelt wurden. Es ist wichtig zu beachten, dass ADHS mit dem Übergang zum Erwachsenenalter nicht aufhört! Studien zeigen auf, dass ca. 4,7% der erwachsenen Deutschen hiervon betroffen sind.
Alan Sroufe beobachtete die Kinder über viele Jahre – auch in der Schulzeit und sah, dass die Beziehungen zu den jetzigen primären Bezugspersonen – also den Lehrern und den Gleichaltrigen – auch einen sehr großen Einfluss hatten. Die Beziehung zu Freunden / Lehrern und weiteren engen Begleitern half dabei
Die Gruppe von Kindern, die nicht solche Stabilisierungen / dieses Containing bekamen und die dadurch immer wieder von ihren starken Gefühlen und ihrer Desorganisation getrieben wurden,
Immer wieder konnte man folgendes Muster sehen:
Das Verhalten von Kindern unzuverlässiger Eltern war gekennzeichnet durch
Diese frühe Vernachlässigung und wenig verständnisvolle Behandlung vonseiten der Eltern ihren Kindern gegenüber (immer wieder möchte ich hier den Begriff des Containings von Wilfred Bion anführen) führten mit traumwandlerischer Sicherheit
Containing ist ein Vorgang, in welchem
Wenn dieses Containing jedoch NICHT kommt, dann entsteht genau das, was wir einen circulus vitiosus / einen Teufelskreis nennen:
Und was passiert mit unberechenbaren, trotzigen, störenden und aggressive Kindern in der Gesellschaft? Es liegt auf der Hand, dass sie sich durch ihr Verhalten weitere Zurückweisungen und Bestrafungen von Lehrern und Altersgenossen einhandeln – und damit in der Beliebtheitsskala immer weiter unten rutschen… Dies wiederum provoziert sie nur noch mehr, um für die Aufmerksamkeit der Umgebung zu kämpfen!
Alan Sroufe fand durch seine Studie in den Jahrzehnten viel über das Thema Resilienz heraus.
Wie stark und wie resilient ein Kind wird, können wir vorhersagen – so Alan Sroufe – indem wir die Stärke und die Sicherheit der ersten dyadischen Beziehung (meistens die Mutter-Kind-Beziehung) betrachten. Je liebenswerter eine Mutter ihr Kind einschätzt, umso resilienter wird der Mensch im Erwachsenenalter.
Dies ist das Ergebnis von drei Jahrzehnten intensiver Forschung! Bindung macht uns stark … keine Bindung hinterlässt uns schwach wie ein Wackelpudding.
Ich hoffe, ich konnte die Frage, „Wer ist eigentlich für Kinderarmut zuständig – Eltern oder Staat?“ mit diesem Beitrag ein wenig beantworten.
Wer oder was entscheidet also über meinen persönlichen Werdegang?
Ja, ich habe mein Leben immer selbst in der Hand! Aber schau dir mal den Beitrag an: Wie entstehen Emotionen? Du findest ihn unter folgendem Link: https://werdewiederstark.de/wie-entstehen-emotionen/
Hier zeige ich, dass das, was wir in unseren frühesten Jahren lernen, prämotorische Handlungsreflexe / vorbewusste Handlungsangebote sind. Durch diese wird unser Handeln bestimmt. Was uns unsere Eltern und die Gesellschaft in den ersten Lebensjahren beibringen, hat einen tiefen Einfluss auf unser Leben. Viele Freue beim Lesen 😊
Es sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang Borderline oder einer anderen belastenden Störung, aber auch über Future Faking, Love Bombing und Gaslighting die immer häufiger in unsere Gesellschaft zu beobachten sind.
Ich möchte aber nicht nur über Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:
Buchen Sie sich einfach auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus
Wenn ich jemanden nur ein Buch zum Thema Trauma, Einfluss auf unser Gehirn und Therapievarianten empfehlen dürfte, dann wäre es mit Sicherheit dieses herausragende Werk des Trauma-Forschers Bessel van der Kolk. In diesem überragenden Werk werden die Entstehung von Traumatas und die verschiedensten Therapien wie EMDR, Yoga, Self-Leadership, Neurofeedback, Tiefenpsychologie und viele mehr angesprochen.
Verändert ein Trauma unser Gehirn und kann man diese Spuren sichtbar machen? Was ist mit dem Irokesenschnitt im fMRT gemeint? Gibt es Unterschiede zwischen einer PTBS und einer kPTBS also einer Trauma-Entwicklungsstörung? Was können Psychopharmaka und was nicht?
Ein geballtes Wissen aus >40 Jahren komprimiert auf 400 Seiten. Dieses Buch macht Mut in die Zukunft der Trauma-Forschung. Mehr als Wert zu studieren!
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