Folge 4 Was war bislang wichtig in den zurückliegenden drei Folgen?
Wir haben wir uns mit den rechtlichen Grundlagen, der Rolle von Verfahrensbeiständen und den verschiedenen Erhebungsmethoden beschäftigt. Jetzt, in diesem vierten Beitrag in der Themenreihe geht es um einen Bereich, der für viele Eltern anfänglich oft sehr abstrakt wirkt, aber enorm wichtig ist: Die Qualitätsstandards und Gütekriterien eines Sachverständigen Gutachtens.
Denn, nicht jedes Gutachten ist logischerweise auch gleich gut. Und leider erfüllen viele sogar noch nicht einmal den aufgestellten Mindeststandart an diese. In einer oft zitierten Auswertung von Prof. Werner Leitner wurden Familienrechtsgutachten daraufhin geprüft, ob sie aktuellen wissenschaftlichen Standards, systematischer Verhaltensbeobachtung und transparenter Gesprächsführung entsprechen.
Das Ergebnis: Nur etwa 25% der geprüften Gutachten erfüllten die zentralen Qualitätskriterien. Damit mussten rund 75% als mangelhaft eingestuft werden. [1]
Außerdem hat man als Eltern auch das gute Recht zu wissen, woran man ein qualitativ hochwertiges Gutachten erkennt – und wo möglicherweise seine Schwachstellen liegen. Dies ergibt sich bereits aus dem §27 des FamFG, wo alle (!) Beteiligten an dem Verfahren mitwirken sollen. Und mitwirken bedeutet auch Information. [2]
In diesem Beitrag besprechen wir:
Qualitätsstandards sind kein bürokratischer Luxus. Sie sind nicht mehr oder weniger dein Schutz vor willkürlichen Einschätzungen und unsauberer Arbeit. Lass uns jetzt einmal gemeinsam etwas näher darauf eingehen, worauf es wirklich ankommt.
[1] https://gutachten-anfechten.de/familienpsychologische-gutachten-ungeeignetes-beweismittel/
[2] https://www.gesetze-im-internet.de/famfg/__27.html
Stell dir vor, du befindest dich gerade in einem Gerichtssaal. Das Gutachten in deinem Verfahren liegt vor dir. Der Richter hat es gelesen und dein Anwalt auch. Dann wird die Empfehlung ausgesprochen: Dein Kind soll hauptsächlich beim anderen Elternteil leben. Dein Herz rutscht dir förmlich in die Hose und du verstehst nicht, wie der Gutachter zu dieser in deinen Augen völlig falschen Einschätzung kommen konnte.
Vielleicht kommt dir der Gedanke hoch: „Hat er überhaupt richtig hingeschaut?” Oder: „Warum hat er meine Argumente ignoriert?” Und genau hier kommen nun die bereits er Qualitätsstandards ins Spiel. Sie sorgen dafür, dass Gutachten nicht nach Bauchgefühl, sondern nach wissenschaftlichen Kriterien erstellt werden.
Warum braucht es überhaupt Standards?
Familienpsychologische Gutachten haben enormen Einfluss. Sie können darüber entscheiden, wo ein Kind lebt, wie oft es den anderen Elternteil sieht und welche Betreuungsregelung gilt. Gleichzeitig sind diese Gutachten hochkomplex: Sie müssen Bindungen erfassen, Erziehungsfähigkeit bewerten und Kindeswohl einschätzen – alles unter den schwierigen Bedingungen eines Familienstreits.
Ohne klare Standards droht Willkür. Gutachter könnten mit unterschiedlichen Methoden arbeiten, subjektive Eindrücke überbewerten oder wichtige Aspekte übersehen. Das wäre unfair gegenüber den Eltern und den Kindern.
Deshalb hat das Bundesministerium der Justiz bereits 2019 Mindestanforderungen an die Qualität von Sachverständigengutachten im Kindschaftsrecht veröffentlicht. Diese Anforderungen sind nicht nur Empfehlungen – sie sind fachlicher Standard und werden von Gerichten erwartet.
Was bedeutet Qualität konkret?
Ein qualitativ hochwertiges Gutachten muss:
Klingt technisch? Ist es auch. Aber genau diese Technik schützt dich vor unsachlichen Bewertungen.
Wer kontrolliert die Qualität?
Hier wird es spannend: Niemand kontrolliert Gutachten systematisch, bevor sie vor Gericht landen. Es gibt keine Qualitätsprüfstelle, die jedes Gutachten durchsieht. Die Kontrolle erfolgt erst im Gerichtsverfahren selbst – durch den Richter, durch Anwälte und letztlich auch durch dich als betroffenen Elternteil.
Das bedeutet: Du darfst kritisch hinsehen. Du darfst Fragen stellen. Und du darfst auf Mängel hinweisen, wenn sie dir auffallen.
Aber dafür musst du wissen, worauf du achten sollst. Und genau das schauen wir uns jetzt an.
Es gibt fünf zentrale Qualitätskriterien, die jedes familienpsychologische Gutachten erfüllen muss. Sie stammen aus den Mindestanforderungen des Bundesministeriums und aus der fachpsychologischen Literatur – etwa von Salzgeber, Dettenborn oder Zumbach.
Jedes Gutachten beginnt mit einer Fragestellung. Diese kommt vom Gericht und lautet oft: „Bei welchem Elternteil soll das Kind seinen Lebensmittelpunkt haben?” Oder: „Ist eine gemeinsame elterliche Sorge im Kindeswohl tragbar?”
Ein gutes Gutachten übernimmt diese Fragestellung präzise und beantwortet sie systematisch. Es schweift nicht ab in Bereiche, die nicht gefragt wurden, und es lässt keine wichtigen Aspekte aus.
Praxisbeispiel: Wenn das Gericht fragt, ob der Umgang ausgeweitet werden kann, dann muss das Gutachten genau das prüfen – nicht die Sorgerechtsfrage oder die Erziehungsfähigkeit im Allgemeinen, sondern konkret die Umgangsthematik.
Ein typischer Mangel ist, dass Gutachter zu breit arbeiten und am Ende unklar bleibt, was nun eigentlich die Antwort auf die gerichtliche Frage ist.
Ein Gutachten darf sich nicht auf Eindrücke stützen. Es braucht eine breite Methodik:
Diese Methoden müssen aufeinander abgestimmt sein. Man spricht von Methodentriangulation – verschiedene Zugänge zum selben Thema, um ein möglichst vollständiges Bild zu bekommen.
Wichtig: Der Gutachter muss erklären, warum er welche Methoden einsetzt. Wenn er einen Test verwendet, muss dieser wissenschaftlich anerkannt sein. Wenn er auf einen Test verzichtet, muss er begründen, warum.
Praxisbeispiel: Ein Gutachter führt nur Gespräche, aber keine Interaktionsbeobachtung durch, obwohl die Bindung zwischen Vater und Kind unklar ist. Das wäre methodisch unzureichend, weil Bindung sich nicht nur im Gespräch zeigt, sondern vor allem im Verhalten.
Stell dir vor, du liest das Gutachten und verstehst nicht, wie der Gutachter zu seiner Schlussfolgerung gekommen ist. Genau das darf nicht passieren.
Ein gutes Gutachten führt dich Schritt für Schritt durch den Denkprozess:
Die sogenannte Befund-Interpretation-Trennung ist dabei zentral. Der Gutachter muss klar unterscheiden zwischen dem, was er gesehen oder gemessen hat (Befund), und dem, was er daraus folgert (Interpretation).
Beispiel:
Das ist transparent. Nicht transparent wäre: „Die Mutter ist überfordert.” – ohne zu erklären, woran das festgemacht wird.
Ein Gutachter ist kein Anwalt. Er vertritt nicht die Interessen eines Elternteils, sondern soll neutral bewerten. Das bedeutet:
Fairness bedeutet auch, dass der Gutachter sich nicht von einem dominanten Elternteil vereinnahmen lässt – aber auch nicht vorschnell Partei für den scheinbar schwächeren Elternteil ergreift.
Hinweis für die Praxis: Wenn du das Gefühl hast, der Gutachter hört dir nicht richtig zu oder übernimmt unkritisch die Darstellung des anderen Elternteils, kannst du das sachlich ansprechen – zum Beispiel: „Mir ist wichtig, dass Sie auch meine Perspektive vollständig verstehen. Darf ich das nochmal ergänzen?”
Gutachten sind oft lang und komplex. Aber sie sollten trotzdem verständlich sein – zumindest für Juristen und für die Eltern selbst.
Das bedeutet nicht, dass alles in Alltagssprache formuliert werden muss. Fachbegriffe sind erlaubt, aber sie sollten erklärt werden. Die Struktur sollte logisch sein, mit klaren Kapiteln und einer nachvollziehbaren Gliederung.
Typische Gliederung:
Ein gutes Gutachten hat außerdem ein kurzes Fazit am Ende, das die wichtigsten Punkte auf ein bis zwei Seiten zusammenfasst.
Du bist nicht die einzige Person, die das Gutachten liest. Auch der Richter prüft es kritisch. Aber wie geht ein Familienrichter dabei vor?
Richterliche Bewertung von Gutachten
Richter sind keine Psychologen. Sie können die fachliche Qualität eines Tests nicht selbst bewerten. Aber sie können prüfen, ob das Gutachten bestimmte formale und inhaltliche Standards erfüllt.
Typische Fragen, die sich ein Richter stellt:
Wenn ein Richter Zweifel hat, kann er Fragen an den Gutachter stellen – schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung. Er kann auch ein ergänzendes Gutachten oder sogar ein Obergutachten anordnen, wenn erhebliche Mängel vorliegen.
Checklisten für Richter
In Fortbildungen für Familienrichter – etwa an der Deutschen Richterakademie – werden Checklisten vermittelt, um Gutachten kritisch zu bewerten. Diese Listen umfassen Fragen wie:
Diese Checklisten sind öffentlich zugänglich. Du kannst sie dir selbst ansehen und für deine eigene Vorbereitung nutzen.
Was kannst du tun, wenn das Gericht das Gutachten übernimmt?
Gerichte folgen Gutachten oft, aber nicht blind. Wenn du sachlich und konkret auf Mängel hinweist, wird das wahrgenommen. Wichtig ist, dass du nicht emotional argumentierst („Das ist alles falsch!”), sondern präzise benennst, was fehlt oder unklar ist.
Beispiel: „In dem Gutachten wird empfohlen, dass ich nur begleiteten Umgang haben soll. Allerdings wurde keine Interaktionsbeobachtung durchgeführt, die diese Empfehlung stützt. Ich bitte das Gericht, hier nachzufragen.”
Solche sachlichen Hinweise können dazu führen, dass der Richter den Gutachter nachhört oder ergänzende Untersuchungen anordnet.
Leider entsprechen nicht alle Gutachten den Standards. Manche Gutachter arbeiten unter Zeitdruck, manche haben methodische Lücken, manche lassen sich von eigenen Vorannahmen leiten. Hier sind die häufigsten Mängel, die in der Praxis vorkommen.
Das Gutachten beantwortet Fragen, die das Gericht gar nicht gestellt hat – oder lässt zentrale Aspekte der Fragestellung aus.
Beispiel: Das Gericht fragt nach dem Aufenthaltsbestimmungsrecht. Das Gutachten diskutiert, aber hauptsächlich die Erziehungsfähigkeit beider Eltern, ohne konkret zu empfehlen, wo das Kind leben soll.
Wie du das erkennst: Vergleiche die Fragestellung aus dem Gerichtsbeschluss mit der Beantwortung im Gutachten. Passt beides zusammen?
Es wurden nur Gespräche geführt, aber keine Tests oder Beobachtungen durchgeführt – obwohl das fachlich notwendig gewesen wäre.
Beispiel: Die Bindung des Kindes zu beiden Eltern ist unklar. Der Gutachter führt aber keine Interaktionsbeobachtung oder Bindungsdiagnostik durch, sondern verlässt sich auf die Aussagen der Eltern.
Wie du das erkennst: Schaue dir das Kapitel „Methodisches Vorgehen” an. Welche Methoden wurden eingesetzt? Fehlt etwas Wichtiges?
Der Gutachter verwendet wertende Begriffe, ohne zu erklären, worauf er sich stützt.
Beispiel: „Die Mutter ist emotional instabil” – ohne dass ein Test durchgeführt wurde oder konkrete Verhaltensbeispiele genannt werden.
Wie du das erkennst: Markiere alle wertenden Aussagen und prüfe, ob sie durch Befunde gestützt sind. Wenn nicht, ist das ein Qualitätsmangel.
Der Gutachter trennt nicht klar zwischen dem, was er beobachtet hat, und dem, was er daraus schließt.
Beispiel: „Das Kind wirkte ängstlich in Anwesenheit des Vaters” ist eine Beobachtung. „Das Kind hat Angst vor dem Vater” ist eine Interpretation, die weitere Belege braucht.
Wie du das erkennst: Achte darauf, ob der Gutachter seine Schlussfolgerungen begründet – oder ob er Befund und Bewertung vermischt.
Tests, Fragebögen oder wissenschaftliche Konzepte werden nicht korrekt benannt. Du weißt nicht, welche Verfahren konkret eingesetzt wurden.
Beispiel: „Es wurde ein Persönlichkeitstest durchgeführt” – aber welcher? Mit welcher Normierung? Wie wurden die Ergebnisse interpretiert?
Wie du das erkennst: Prüfe, ob Testverfahren mit vollem Namen und Quelle angegeben sind. Gute Gutachten listen das im Anhang auf.
Was tun bei solchen Mängeln?
Wenn du solche Punkte findest, ist das kein Angriff auf den Gutachter – sondern ein legitimer Hinweis auf Qualitätsdefizite. Du kannst:
Wichtig ist, dass du konkret benennst, was fehlt – und nicht pauschal sagst, das Gutachten sei „schlecht” oder „unfair”.
Achte schon während der Untersuchung auf Transparenz. Du kannst viel darüber lernen, wie der Gutachter arbeitet, wenn du auf bestimmte Signale achtest.
Frage dich:
Wenn du diese Signale erkennst, kannst du Vertrauen in den Prozess aufbauen – und deine Rechte wahren. Wenn du Zweifel hast, darfst du höflich nachfragen: „Können Sie mir erklären, warum Sie gerade diesen Test einsetzen?” Oder: „Wie werden meine Aussagen in das Gutachten einfließen?”
Solche Fragen sind legitim. Sie zeigen, dass du dich informiert hast und den Prozess ernst nimmst.
Damit du das Gelernte konkret anwenden kannst, empfehle ich dir, eine Qualitäts-Checkliste für dein eigenes Verfahren zu erstellen. Diese Liste hilft dir später bei der Akteneinsicht oder im Gerichtstermin, sachlich und ruhig zu argumentieren.
Deine persönliche Checkliste:
Diese Checkliste kannst du ausdrucken und Punkt für Punkt durchgehen, wenn du das Gutachten liest. Sie gibt dir Sicherheit – und sie hilft dir, sachlich zu bleiben, auch wenn du mit Empfehlungen konfrontiert bist, die dich emotional treffen.
Ein gutes Gutachten erkennt man daran, dass es nachvollziehbar, überprüfbar und fair ist. Die Qualitätsstandards sind keine Bürokratie, sondern dein Schutz vor willkürlichen Einschätzungen und unsauberer Arbeit.
Du hast heute gelernt:
Das Wichtigste: Du darfst kritisch sein. Du darfst Fragen stellen. Und du darfst auf Mängel hinweisen, wenn sie dir auffallen. Das ist kein Angriff auf den Gutachter, sondern Teil deines Rechts auf ein faires Verfahren.
In der nächsten Folge sprechen wir über ein Thema, das viele Eltern besonders bewegt: Die Rolle des Kindes im Gutachtenverfahren. Wie wird das Kind einbezogen? Wie äußert es seinen Willen? Und wie kannst du als Elternteil damit umgehen, wenn dein Kind Dinge sagt, die dich überraschen oder verletzen?
Du wirst lernen, wie Gutachter mit dem Kindeswillen umgehen – und wie du dein Kind unterstützen kannst, ohne es zu beeinflussen.
Bis zur nächsten Folge wünsche ich dir Kraft, Klarheit und Zuversicht.
Dieses über 1000 seitige Nachschlagewerk für Gutachter, Juristen (aber auch Betroffene), Psychologen und Gerichte befasst sich mit allen rechtlichen Vorgaben und Fragen rund um das sachverständige Vorgehen eines Gutachters.
Wie sieht das diagnostische Vorgehen aus? Welche Risiko- und Schutzbedingungen des Kindes sind zu berücksichtigen? Hier werden verschiedene diagnostische Verfahren vorgestellt und eine Unmenge an Rechtsfragen beantwortet wie z.B. was mit Aufzeichnungen im Gutachten geschieht? Können Emails oder digitale Chats dem Gutachter vorgelegt werden?
Was wir hier finden sind Leitlinien für den Sachverständigen, rund um die Qualitätssicherung, Kosten und Vergütung, das Thema Kindeswohl und wie ein schriftliches / mündliches Gutachten aufgebaut sein sollte.
Es sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang mit dem Ex-Partner und den Kinder, aber auch über Erziehungsfähigkeit, Kommunikationsbereitschaft, Loyalität und Kindeswohlgefährdung …
Es ist durch das Gesetz klar geregelt, dass sich jede Person im Familien-Verfahren sowohl vor den Ämtern als auch vor Gerichten (Ausnahme: alle finanziellen Angelegenheiten) durch einen Beistand begleiten lassen kann.
Diese Möglichkeit wird leider noch viel zu wenig genutzt, da sie auch in den Jugendämtern kaum bekannt und nicht gerade populär ist. Eigentlich nachvollziehbar, da sich die gesamte familiale Intervention einschließlich der Familiengerichte gerne im familiären Verfahren unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit bequem einrichtet.
Buchen Sie sich gerne auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus