Stell dir mal folgendes Bild vor deinem inneren Auge vor: Du stehst am Ufer eines wilden Ozeans â denke mal an die Nordsee vor der Bretagne. Die Wellen peitschen hoch, der Wind reiĂt an deiner Kleidung, der LĂ€rm ist ohrenbetĂ€ubend. Du spĂŒrst die Gischt im Gesicht, das Salz auf den Lippen. Es ist bedrohlich. Es ist laut.
Und jetzt stell dir vor, du machst einfach nur einen einzigen Schritt zurĂŒck. Du trittst hinter eine dicke Glasscheibe, in einen geschĂŒtzten Raum. Jetzt siehst du den Sturm zwar immer noch. Du siehst die Gewalt der Wellen. Aber ⊠du bist nicht mehr im Sturm. Du bist zwar nass und vielleicht zitterst du noch. Aber du wirst nicht mehr weggespĂŒlt. Genau dieses GefĂŒhl â diesen Schritt zurĂŒck hinter die Scheibe â kennen und benennen wir in der Psychologie und Philosophie als die sogenannte âInnere Distanzâ.
Vielleicht kennst du folgenden Umstand auch recht gut:
Du bist völlig im Sog deiner eigenen Gedanken und GefĂŒhle gefangen. Ein Kollege sagt einen merkwĂŒrdig kritischen Satz. Dein Partner schaut oder spricht dich falsch an, eine alte schlechte Erinnerung blitzt auf â und plötzlich verliert alles das MaĂ und lĂ€uft in die falsche Richtung. Dein Kopf ist voll, dein Herz rast, dein Körper spannt sich an. Du reagierst, lange bevor du ĂŒberhaupt denken kannst. Du wirst förmlich zur Wut. Du wirst zur personifizierten Angst.
Und dann, wenn der Sturm sich gelegt hat, fragst du dich mal wieder voller Schuld und Scham: âWie habe ich das zulassen können? Warum habe ich mich mal wieder so treiben lassen?â.
Darum geht es in dieser Beitragsfolge: ĂŒber die FĂ€higkeit, einen solchen Automatismus zu durchbrechen. Wir sprechen ĂŒber das, was zwischen dem Reiz und der Reaktion (Zitat Viktor Frankl) liegt. Wir sprechen jetzt ĂŒber den âStoischen Beobachterâ.
Ich möchte dich einladen, zu verstehen, dass Distanz keine KĂ€lte ist. Dass Beobachten keine PassivitĂ€t ist. Sondern dass genau in diesem kleinen Schritt zurĂŒck â vom Erleben zum Betrachten â der SchlĂŒssel zu echter emotionaler Freiheit liegt.
Lass uns einen Blick in das Zelt eines römischen Kaisers im ersten Jahrhundert werfen. Marcus Aurelius, der wohl mĂ€chtigste Mann der damaligen Welt, schrieb nicht fĂŒr die Ăffentlichkeit, sondern allein fĂŒr sich selbst. Er fĂŒhrte ein Tagebuch seiner Seele (âSelbstbetrachtungenâ), um inmitten all der Kriege und Intrigen seiner Zeit immer noch bei Verstand zu bleiben.
Er schrieb unter anderem einen Satz, der das Fundament dieses Beitrages bildet:
âZiehe dich in dich selbst zurĂŒck â denn dort liegt die Quelle des Guten. Wenn du in dich blickst und die Ruhe findest, wirst du niemals leer sein.â.
Was Marcus Aurelius hier anspricht, hat nichts mit einer Flucht vor der Welt zu tun. Er spricht hier von einer inneren Festung. Der stoische Beobachter ist kein kalter Zuschauer, der am Rand steht und das Leben ignoriert. Im Gegenteil! Er ist vielmehr jemand, der mitten im Geschehen steht, aber darin nicht untergeht. Er erlebt seine Emotionen, ohne von ihnen verschlungen zu werden.
FĂŒr die Stoiker war dies die ultimative Ăbung der ProsochÄ â der achtsamen Aufmerksamkeit. Marcus Aurelius forderte uns auf: âBeobachte, wie alles vergeht und erkenne dadurch: Du bist mehr als das, was dir widerfĂ€hrt.â.
Dieser Gedanke ist wirklich revolutionĂ€r. Denn er besagt: Es gibt einen Unterschied zwischen dem âIchâ, das wahrnimmt, und dem âGefĂŒhlâ, das wahrgenommen wird. Du bist nicht dein Schmerz. Du bist nicht deine Wut. Du bist nicht deine Angst. Du bist die Instanz, die diese GefĂŒhle bemerkt. Solange du das unterscheiden kannst, bist du frei.
Kein Tier ist zu diesem Unterschied zwischen dem GefĂŒhl und dem Wahrnehmen eines GefĂŒhls und einem Interpretieren eines GefĂŒhls in der Lage. Das ist die wahre Kunst des Denkens und Empfindens.
Was Marcus Aurelius poetisch beschrieb, können wir heute neuropsychologisch und psychotherapeutisch exakt benennen. In der modernen Psychologie nennen wir diesen Vorgang Disidentifikation, Defusion oder auch Mentalisierung. Dieser Begriff stammt ursprĂŒnglich aus der Psychosynthese von Roberto Assagioli (ital. Psychiater 1888 bis 1974) und wird sowohl in Achtsamkeitstherapien als auch in der stoischen Philosophie genutzt, um Gelassenheit und Distanz zu erlernen.
Viele Menschen verwechseln diese Distanz jedoch mit GleichgĂŒltigkeit oder emotionaler KĂ€lte. Aber wahre innere Distanz ist in Wirklichkeit keine Mauer, sondern eher ein Fenster. Sie erlaubt einem, etwas klarer zu erkennen, was eigentlich gerade passiert.
Stell dir ein neues Bild zum Vergleich vor: Dein Gehirn ist wie ein Parlament. Wenn du getriggert wirst â zum Beispiel durch Stress, Wut oder KrĂ€nkung âdann ĂŒbernimmt das limbische System, unser emotionales Alarmzentrum, das Mikrofon. Es schreit dann unĂŒberhörbar: âGefahr! Angriff! Verteidigung!â. In diesem Moment bist du âverschmolzenâ mit dem GefĂŒhl. Es gibt keinen Abstand mehr.
Wenn du dann aber den stoischen Beobachter aktivierst â du bildlich gesprochen also innerlich einen Schritt zurĂŒcktrittst â dann schaltest du deinen prĂ€frontalen Cortex ein. Das ist unser emotionaler WĂ€chter! Der Bereich unseres Gehirns, der fĂŒr Regulation, Perspektive und SelbstfĂŒhrung zustĂ€ndig ist. Du unterbrichst damit die Dominanz des limbischen Systems.
In der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT), die oft und auch sehr erfolgreich bei Menschen mit instabilen und sehr intensiven Emotionen angewendet wird, nennt man diese Haltung: âBeobachten, ohne zu bewertenâ. In der Achtsamkeitstherapie spricht man von der âMeta-Awarenessâ.
Warum ist das so wichtig? Weil du, wenn du diese Distanz aufbaust, die FĂ€higkeit zurĂŒckerlangst, zu wĂ€hlen, wie du reagieren willst.
Viktor Frankl, der Psychiater und Ăberlebende des Holocaust, fasste es in dem vielleicht berĂŒhmtesten Zitat der existenziellen Psychologie zusammen: âZwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.â.
Der stoische Beobachter ist der effektivste WĂ€chter unseres Emotionsraumes.
Um etwas besser zu verstehen und zu begreifen, was diese Haltung in der Praxis bedeutet, könnten wir uns einmal das Leben von Nelson Mandela nÀher ansehen.
Versuch dir mal sein Leben vorzustellen: 27 Jahre Haft. GedemĂŒtigt, isoliert, seiner besten Lebensjahre beraubt. Jeder normale Mensch wĂ€re daran zerbrochen oder gar fĂŒr den Rest seines Lebens verbittert. Mandela hĂ€tte allen Grund dazu gehabt, sich in seinem Hass zu ergieĂen.
Doch Mandela kultivierte in seiner winzigen Zelle den stoischen Beobachter auf einzigartige Weise. Er entschied sich fĂŒr eine innere Distanz zu seinen WĂ€rtern, seinen Peinigern und damit auch zu seinem eigenen Leid.
Als er 1990 dann endlich entlassen wurde, sagte er einen Satz, der von einer wirklich tiefen psychologischen Reife zeugt. Er sagte: âAls ich durch das Tor zur Freiheit ging, wusste ich: Wenn ich diesen, meinen Hass nicht hinter mir lasse, dann bleibe ich weiter im GefĂ€ngnis â trotz körperlicher Freiheit.â.
Mandela hatte nÀmlich wirklich verstanden: HÀtte er auf die andauernde Ungerechtigkeit impulsiv immer wieder mit blindem Hass reagiert, dann wÀre er psychisch immer noch der geistige Gefangene seiner WÀrter gewesen.
Seine innere Distanz erlaubte es ihm jedoch, die Situation aus einer gesunden Distanz heraus zu betrachten. Den Schmerz zwar zu spĂŒren, ihn aber nicht zur Rache werden zu lassen.
Das ist beileibe keine UnterdrĂŒckung von GefĂŒhlen! Das ist vielmehr die höchste Form der Selbstbeherrschung.
Mandela war wirklich jemand, der das Paradoxon / die scheinbar widersprĂŒchliche Aussage in Perfektion und Vollendung lebte: Er war jahrelang körperlich gefangen, ja. Aber psychisch war er freier als alle seine WĂ€rter.
Lass uns diesen Gedanken in der Praxis und in unserem Alltag anwenden und auf ganz bestimmte / spezifische psychologische Herausforderungen ĂŒbertragen.
Besonders Menschen mit einer Borderline-Dynamik oder auch Personen mit starken narzisstischen Anteilen erleben oft das genaue Gegenteil dieser Distanz.
Man nennt dies dann eine Fusion oder Verschmelzung. Ein starkes GefĂŒhl kommt hoch â sagen wir, die Angst vor dem Verlassenwerden oder eine KrĂ€nkung â und sofort wird dieses GefĂŒhl zur absoluten und völligen RealitĂ€t.
Der Gedanke âIch fĂŒhle mich wertlosâ wird dann zu einem âIch bin wertlosâ. Oder der Gedanke âIch bin wĂŒtendâ wird zu âDu bist mein Feindâ.
Was ist geschehen? Was lĂ€uft hier schief? Was hier fehlt, ist der sogenannte innere Puffer. Alles ist hautnah, absolut und das GefĂŒhl / die Wut wird zur Wahrheit, die Angst zur völligen IdentitĂ€t.
Die therapeutische Arbeit â und auch die stoische Praxis â besteht nun darin, das Konzept einer neuen Instanz im Kopf zu installieren: den inneren Beobachter. Ich denke hier an eine innere Stimme, die sagt:
Erkennst du den Unterschied in der Sprache? Du sagst nicht mehr: âEs ist soâ, sondern âIch beobachte, dass…â. Und dieses neue Denkkonzept nennt man die kognitive Defusion.
Studien, unter anderem von der UniversitĂ€t Berkeley, zeigen, dass diese Form der distanzierten Selbstbeobachtung (âSelf-Distancingâ) deutlich messbar / signifikant den Stress reduziert. Unsere Amygdala, der Mandelkern beruhigt sich, weil ihr signalisiert wird: âIch sehe den Sturm, aber ich bin nicht der Sturm.â Du lernst, im Sturm stehen zu bleiben, ohne nass zu werden.
5. Praxis-Ăbung: Die Technik des inneren SchrittsWie könnte man dies nun konkret fĂŒr den Alltag / die Praxis ĂŒben? Mein Tipp mag vielleicht etwas schrĂ€g oder abstrakt klingen, aber die Umsetzung ist fast schon banal körperlich. Es sind drei einfache Schritte, die man auch die âBeobachter-Technikâ nennen kann.
Schritt 1: Das Stopp-Signal. Wenn du bemerkst, dass dich etwas aufwĂŒhlt / dich emotional anfasst, wie zum Beispiel eine Mail, ein Kommentar, ein Stau auf der Autobahn, wenn du ihn mal wieder ĂŒberhaupt nicht gebrauchen kannst, dann sage innerlich oder sogar auch leise hörbar Wort âStoppâ. Stell dir einfach vor, du könntest eine Pause-Taste in einem Film drĂŒcken. Das ist das Signal fĂŒr deinen Verstand, kurz das Steuer zu ĂŒbernehmen.
Schritt 2: Das Beschreiben wie ein Wissenschaftler. Jetzt wechselst du in den Modus des Wissenschaftlers. Beschreibe, was da gerade passiert â besonders in deinem Körper – ohne dieses nun zu bewerten.
Also anstatt zu denken: âDieser Idiot macht mich wahnsinnig!â, sagst du innerlich:
Nutze dabei immer Formulierungen wie âIch nehme wahr…â oder âEin Teil von mir fĂŒhlt…â. Das schafft diese gewisse notwendige Distanz.
Schritt 3: Die Einordnung. Frage dich jetzt im dritten Schritt: âWas wĂŒrde mein innerer Beobachter / der innere Zeuge jetzt dazu sagen?â. Oft lautet die Antwort aus dieser ruhigen Perspektive dann: âJa, das ist zwar ein starkes GefĂŒhl, aber es ist nur eine Momentaufnahme. Auch das geht vorĂŒber und ich kann das aushalten.â.
Diese Ăbung dauert vielleicht 30 Sekunden, maximal 60 Sekunden. Aber sie verĂ€ndert die Architektur deines Gehirns, wenn du sie regelmĂ€Ăig machst. Du verschiebst den Fokus vom Erleben zum Beobachten.
Ganz nebenbei: Wenn das GefĂŒhl lĂ€nger als 60 Sekunden dauert, dann möchtest du es bei dir behalten. Alles unter 60 Sekunden ist eine Emotion, die kommt und geht.
Diese heute besprochene innere Distanz ist beileibe kein RĂŒckzug aus dem Leben. Sie ist vielmehr eine Einladung, das Leben noch tiefer zu verstehen, ohne jedoch von ihm verletzt zu werden. Sie erlaubt dir bildlich gesprochen, in einem Sturm stehen zu bleiben, ohne daran zu zerbrechen.
Wenn du das nÀchste Mal von solch einer Welle aus Emotionen erfasst wirst, dann erinnere dich doch mal an Marcus Aurelius in seinem Zelt oder an Nelson Mandela in seiner Zelle. Erinnere dich daran, dass du immer mehr bist als das, was dir widerfÀhrt.
Ein letzter Vergleich: Du bist nicht das Wetter. Du bist eher der Himmel, durch den das Wetter zieht. Das Wetter Ă€ndert sich stĂ€ndig â der Himmel bleibt.
Vielen Dank, dass du mir heute auf dieser Reise zu dir selbst gefolgt bist.
Anhang zur Folge
Zitate fĂŒr diese Folge:
Reflexionsfrage fĂŒr deinen Alltag: Wann hast du dich zuletzt völlig in einem GefĂŒhl verloren gefĂŒhlt? Und was hĂ€tte dein innerer Beobachter (dein kognitiver Teil) in diesem Moment wohl gesagt, wenn du ihn gefragt hĂ€ttest?
TransferĂŒbung: Versuche heute einmal, wenn du ein starkes GefĂŒhl spĂŒrst (auch Freude!), es in der dritten Person zu kommentieren. âDa ist Freude in ihm/ihr.â SpĂŒre, wie sich die QualitĂ€t des GefĂŒhls verĂ€ndert.
Â
Massimo Pigliucci ist Professor fĂŒr Philosophie am City College of New York.Â
Dieses Buch kann ich wirklich empfehlen, da es sehr praxisorientiert geschrieben ist. Besonders die “Dichotomie der Kontrolle” – also das was ich kontrollieren kann im Gegensatz zu den Dingen die ich loslassen muss, haben mich persönlich sehr berĂŒhrt.Â
Weitere hilfreiche GedankenansĂ€tze sind die drei Disziplinen des Stoizismus, der Umgang mit Emotionen oder auch die Rolle der Achtsamkeit und PrĂ€senz.Â
Im letzten Teil des Buches stellt Pigliucci 12 praktische stoische Ăbungen vor, die einem helfen, die stoischen Prinzipien aktiv im Lebensalltag zu verankern wie z.B. Gleichmut ĂŒben und Reden ohne zu urteilen.Â
Es sind viele Bereiche, die wir hierbei ansprechen können: Angefangen vom Umgang mit Angststörungen oder einer anderen belastenden Störung, aber auch ĂŒber Paartherapie, Selbstverwirklichung und Transzendenz.Â
Ich möchte aber nicht nur ĂŒber Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:
Buchen Sie sich einfach auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus