Wenn du dich mit dem Thema rund um familienrechtliche Fragen beschäftigst – sei es als Betroffener, als Fachperson oder aus allgemeinem Interesse – dann wirst du recht schnell merken: Die juristischen Regelungen allein erklären herzlich wenig. Denn hinter jedem Sorgerechtsstreit, hinter jeder Umgangsverweigerung, hinter jeder einzelnen Frage nach dem Kindeswohl stehen komplexe psychologische Dynamiken, die verstanden werden wollen.
Ich möchte dir in diesem Kapitel die wichtigsten theoretischen Bausteine vorstellen, auf die wir im weiteren Verlauf immer wieder zurückgreifen werden. Diese Bausteine – der Konflikt, die Bindung, Stress, das Kindeswohl, der Kindeswille und die oft zitierte Erziehungsfähigkeit – all diese bilden zusammen ein Gerüst, das dir in der Praxis helfen wird, die oft verwirrende Komplexität familienrechtlicher Situationen deutlich besser einzuordnen.
Dabei will ich ehrlich sein: Wir bewegen uns auf einem Gebiet, das wissenschaftlich immer noch nicht / eigentlich längst nicht vollständig erschlossen ist. Die theoretische und methodische Basis der Familienrechtspsychologie halten viele Fachleuten immer noch als unzureichend. Was ich dir hier anbieten kann, sind leider keine fertigen Antworten. Aber es sind Orientierungspunkte – Werkzeuge zum Nachdenken, die du auf deinen konkreten Fall beziehen kannst.
Das Wort „Konflikt“ stammt aus dem lateinischen Wortschatz ab. Es leitet sich von „conflictus“ ab, was „Zusammenstoß“ oder „Kampf“ bedeutet. Und Konflikte haben wir wirklich alle. Sie gehören zum Leben wie das Atmen. Der Grund hierfür ist einfach: Wir alle haben unsere ureigenen Bedürfnisse. Und diese Bedürfnisse sind nicht immer deckungsgleich mit denen der Menschen um uns herum – oder häufig widersprechen diese sich sogar in uns selbst.
Ein Konflikt entsteht, wenn gegensätzliche Verhaltenstendenzen gleichzeitig wirksam werden. Du willst etwas und zugleich willst du etwas ganz anderes, etwas, was damit nicht vereinbar ist. Oder du willst etwas und dein Partner, deine Kinder, deine Eltern wollen etwas komplett Entgegengesetztes. Solche Konflikte belasten ganz schön. Und ja, das ist ihr Grundwesen. Sie unterbrechen den gewohnten Fluss des Lebens, sie zwingen einen innezuhalten, nachzudenken, sich zu entscheiden. Sie erzeugen Anspannung, weil unsere Intentionen beim Gegenüber auf Widerstand stoßen. Aber Konflikte erzeugen auch einen positiven Druck, einen Lösungsdruck. Die allermeisten Menschen halten dauerhafte Anspannungen nämlich nicht aus. Sie streben nach Entspannung – sei es durch Harmonie, durch Ausgleich oder durch eine klare Entscheidung, die den inneren Zwiespalt beendet. Hierfür ist der Konflikt mit seinem Lösungsdruck ein guter „Antreiber“.
Nicht jeder Konflikt wird automatisch hochproblematisch. Manche lösen sich frühzeitig auf, andere führen sogar zu einem geistigen Wachstum und einer Klärung. Aber wenn Konflikte nicht rechtzeitig erkannt und damit nicht frühzeitig angegangen werden, dann können sie auch eskalieren. Sie weiten sich dann auf immer mehr Themen aus, beziehen immer mehr Menschen ein und gewinnen an Macht und Schärfe.
In familienrechtlichen Zusammenhängen begegnen uns typischerweise Konflikte, die diese Eskalationsstufe bereits erreicht haben. Das sind dann keine kleinen Auseinandersetzungen mehr. Die Betroffenen selbst, haben sich dann dermaßen verstrickt, dass sie sich nicht mehr selber regulieren können. Und darum landen sie dann auch vor Gericht, beim Jugendamt, beim Gutachter. Der direkte rechtliche Zugriff richtet sich dann auf die zwischenmenschlichen / interpersonalen Konflikte zwischen den Streitparteien. Und in den meisten Fällen sind das die Eltern.
Aber das ist nur die sichtbare Spitze eines riesigen Eisberges. Unter der Oberfläche toben bei den Beteiligten oft auch innere Konflikte. Ein Richter ist dann oft zwischen seiner Doppelrolle als Entscheider und als Vermittler hin- und hergerissen. Einerseits möchte er vielleicht ein Kind befragen, um einen Missbrauchsvorwurf zu klären. Aber zeitgleich möchte er das Kind auch schonen und vor weiteren Belastungen bewahren.
Gutachter erleben ganz ähnliche Spannungen in ihrer Arbeit. Und natürlich die Eltern selbst, die oft zwischen Kampfeslust und Erschöpfung, zwischen Rachebedürfnis und dem Wunsch nach Frieden hin und herschwanken / oszillieren.
Konflikte treten mit ganz unterschiedlichen Gesichtern / Masken auf. Das zu erkennen ist wichtig, weil die Art des Konflikts bestimmt, welcher Lösungsweg anschließend sinnvoll sein könnte.
Das sind Konflikte, bei denen es im Vordergrund zwar um materielle oder zeitliche Ressourcen geht. Oft aber steckt sehr viel mehr dahinter: Ich denke da nur an Anerkennung, Respekt, Gerechtigkeit, das Gefühl, nicht zu kurz zu kommen.
Die Verhaltensauffälligkeit des Kindes wird von dem einen Elternteil als normale Entwicklungsphase gedeutet, von dem anderen aber als alarmierendes Symptom.
Die Großeltern mischen sich auf einmal mit ein, infiltrieren Interessen, befeuern den Streit. Manchmal kämpfen nicht zwei Menschen gegeneinander, sondern gleich zwei komplette Familiensysteme.
Familien sind Beziehungssysteme. Das klingt auf den ersten Blick vielleicht erst einmal sehr abstrakt. Damit ist aber etwas sehr Konkretes gemeint ➡️ In Familien geht es um das, was zwischen den nahegelegenen miteinander wohnenden Menschen geschieht. Sowohl auf der Verhaltensebene als auch auf der mentalen Ebene.
Auf der Verhaltensebene stimmen sich Menschen untereinander ab, nehmen Einfluss aufeinander und grenzen sich auch voneinander ab. Auf der mentalen Ebene entstehen Bilder: Das sind dann Erwartungen aneinander. Einstellungen zueinander und auch Urteile übereinander. Aber auch Ängste. Immer wieder auch Ängste.
Wenn du wirklich verstehen willst, was in einer Familie passiert, dann musst du dich fragen: Welche Bilder haben die Beteiligten voneinander? Welche Bedürfnisse sollen in diesen Beziehungen befriedigt werden? Welche Machtstrukturen prägen die familiären Interaktionen? Und welche Konflikte entstehen daraus?
Das traurige Arbeitsfeld, in welchem die Familienrechtspsychologie tätig wird, besteht fast immer aus gefährdeten und zerrütteten Beziehungen. Beziehungen also, in denen Verlustängste förmlich toben. Beziehungen, in denen das Vertrauen zutiefst zerstört ist. Beziehungen, in denen die Liebe abklingt – oder in denen sich sogar Schädigungsabsichten / toxisches Handeln entwickelt haben.
Nicht alle Beziehungen haben zwangsläufig etwas mit dem Thema Bindung zu tun. Du kannst eine Beziehung zu einem Lehrer haben, ohne an ihn gebunden zu sein. Oder auch einen deiner Onkels mögen, ohne dass eine Bindung zwischen euch besteht.
Bindung geht mehr in die Tiefe, meint etwas Spezifischeres: das typisch menschliche Bedürfnis nach Nähe und einem ungehinderten Zugang zu einer Person, die mir Schutz und Unterstützung gewährt. Bindungen sind der wohl emotionalste Kern intensiver und dauerhafter Beziehungen.
Unser aller Bindungssystem ist tief in unseren Genen angelegt. Schon Säuglinge verfügen über Verhaltensmöglichkeiten, um Nähe herzustellen: Sie schmiegen sich an, halten Blickkontakt, krabbeln hin, rufen, klammern sich fest, weinen und schreien. All das dient einzig einem Ziel – durch Bindung ein Gefühl von Sicherheit zu erreichen.
Unser aller Bindungsverhalten wird aktiviert, wenn etwas dieses Sicherheitsgefühl bedroht: Stress, Müdigkeit, Trennung, Überforderung. Das Kind wendet sich dann an seine Bezugsperson und hofft, dass diese reagiert. Der eigene Emotionsausdruck wird zum Appell. Wer mehr darüber nachlesen möchte, sollte mal nach dem Stichwort „Polyvagal-Theorie“ von Stephen Porges forschen. Schau gerne auch mal auf meiner Webseite den Vortrag über Trauma und Dissoziation hierzu an.
Ob eine Bindung zwischen dem Kind und seinen Eltern sicher oder traurigerweise unsicher ist, dass hängt entscheidend davon ab, wie die Bezugsperson / in der Regel die Eltern auf die Signale des Kindes reagiert. Das Schlüsselwort heißt in diesem Falle „Feinfühligkeit“.
Feinfühlig zu sein bedeutet:
Hört sich jetzt vielleicht viel / unkompliziert an, ist es aber nicht. Denke immer an den legendären Satz des englischen Kinderarztes und Psychoanalytikers Donald Winnicott (1896 – 1971) „A good mother is a good mother enough.“ Perfektion ist das moderne Gift in der Erziehung.
Trotzdem ist dieses Thema wichtig, denn eine sichere Bindung kommt auch nicht von ungefähr, sondern nur durch ein feinfühliges Zusammenspiel zwischen Eltern und Kind. Es erkennt: Wenn ich mich bemerkbar mache, dann wird auch reagiert. Ich kann also etwas bewirken und damit nicht hilflos in dieser Welt.
Dieses Gefühl – wir nennen es in der Psychologie Selbstwirksamkeit – ist von enormer Bedeutung. Kinder, die es entwickeln, sind erkennbar mutiger, neugieriger, belastbarer. Sie trauen sich, ihre Welt zu erkunden, weil sie wissen: Ich habe eine sichere Basis, zu der ich immer wieder zurückkehren kann.
Auf der anderen Seite haben Kinder mit einem unsicheren Bindungsmuster gelernt, dass auf ihre Signale gar nicht zuverlässig reagiert wird. Das wiederum bewirkt, dass viele ihre eigenen Gefühle dann hinter einer Maske verstecken oder ganz unterdrücken und Nähe immer mehr vermeiden. Andere werden übermäßig anhänglich, wechseln zwischen Klammern und Abweisung. Wieder andere entwickeln keine klare Strategie und zeigen ein desorganisiertes und widersprüchliches Verhalten. Kommt dir da nicht auch sofort Borderline und andere Persönlichkeits-Dynamiken in den Sinn?
Wenn Eltern sich trennen und damit die Kinder aus ihren alten Familiensystemen abgetrennt werden, oder wenn über Umgang und Sorgerecht gestritten wird – dann geht es immer auch um das Thema Bindung. Für die betroffenen Kinder kommen die Trennungen von ihren Bindungspersonen oder ein Wechsel des Lebensraumes oft sehr plötzlich, völlig überraschend. Zudem sind diese Veränderungen für die kleinen Menschen nur schwer erklärbar und erst recht nicht beeinflussbar.
Ein Kind kommt nämlich mit einer tiefen horizontalen und vertikalen Überzeugung auf die Welt:
Und wenn hier etwas schiefläuft, dann kann ja nur ich (das Kind) daran schuld sein, weil ich später in dieses System hinzugekommen bin.
Die Folgen von solch einer Familientrennung sind für die Kinder oft verheerend: Ein schmerzhaftes Verlusterleben, Kontrollverlust, Wut, Angst, Verunsicherung, Ohnmacht, Trauer. Das Sicherheitsgefühl, das durch die frühere Bindung einmal vermittelt wurde, bricht zusammen.
Natürlich ist und bleibt in der Theorie der Erhalt der Bindung zu beiden Elternteilen die beste Lösung. Aber in der Praxis ist dies manchmal halt nicht möglich. Oft werden beide Bindungen in der Zeit des Elternkonflikts so stark beschädigt, dass der gezielte Schutz einer Bindung dem Kindeswohl besser dient – auch denn, wenn dies im Extremfall erst einmal einen Umgangsausschluss für mindestens einen der beiden Elternteile bedeutet. Dieser Satz hat Sprengstoff … Wir werden noch öfter hierauf zurückkommen.
Ein Aspekt wird in der täglichen Praxis leider oft übersehen: Kinder erleben Zeit völlig anders als wir Erwachsenen. Je jünger ein Kind ist, desto schneller müssen seine Bedürfnisse befriedigt werden, damit es nicht in Stress gerät. Und je jünger ein Kind ist, desto schneller entstehen auch Bindungen. Diese können gleichzeitig aber auch umso schneller wieder abgebaut werden. „Aus den Augen aus dem Sinn…“
Ein Monat Trennung von einer Bindungsperson bedeutet für ein zweijähriges Kind etwas völlig anderes als für ein Zwölfjähriges. In der Praxis bedeutet dies, dass wenn Umgangsregelungen unangemessen verzögert werden, dann können Bindungen zum umgangsberechtigten Elternteil sehr viel schneller verkümmern als dies im Vergleich zu Erwachsenen geschieht.
Wenn also Verfahren zu lange dauern, werden Kinder in dysfunktionalen Schwebezuständen gehalten, in denen sie weder vor noch zurück können.
Das Gesetz hat darauf reagiert mit dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot. §155 FamFG. Aber die Umsetzung in der Praxis bleibt oft hinter dem zurück, was für die Kinder wirklich nötig wäre. Gerade bei Kleinkindern bis zum dritten Lebensjahr wäre eine Organisationsform notwendig, die deutlich kurzfristiger die Perspektiven für alle Beteiligten – besonders die der Kinder – klärt.
Trennung, Scheidung, Herausnahme aus der Familie – das alles sind einschneidende Ereignisse für jeden. Aber bedeuten sie automatisch Stress? Die Antwort lautet: Nein. Nicht unbedingt.
Das mag einen im ersten Moment wahrscheinlich etwas überraschen. Denn schließlich werden negative Verläufe deutlich häufiger beschrieben und diskutiert, weil diese in der Regel auch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber der Anteil der weniger belastend und konfrontativ verlaufenden Trennungen ist tatsächlich größer, als die öffentliche Wahrnehmung vermuten lässt. Schätzungen zufolge, sind nämlich nur etwa 5% der Trennungsfälle hochstrittig vor den Familiengerichten enden. (Quelle: Dietrich & Paul (2006) sowie Walper, Fichtner & Normann (2011))
Aber was entscheidet dann eigentlich wirklich darüber, ob ein kritisches Familienereignis zu einer belastenden Situation wird? Die Antwort liefert das transaktionale Stressmodell nach Richard Lazarus (1984): Stress entsteht nicht einfach durch die Situation selbst. Ein alleiniger Reiz ist nicht aussagekräftig genug. Vielmehr ist es das Verhältnis zwischen den Anforderungen der Situation und den Fähigkeiten der Person, mit diesen Anforderungen umzugehen. Wir sprechen hier von einem dynamischen Wechselwirkungsprozess – einer Transaktion zwischen einer Person und seiner Umwelt.
Wenn du eine Situation also als für dich bedrohlich und überfordernd bewertest – und wenn du gleichzeitig noch glaubst, dass deine Ressourcen hierfür nicht ausreichen, um damit fertigzuwerden –, dann entsteht in dir der oft zitierte Stress. Ein intensiv unangenehmer Spannungszustand, den du vermeiden oder beenden willst.
Wenn du mehr über die Transaktionsanalyse erfahren möchtest, dann schau mal über den folgenden Link meine Beitragsreihe zu diesem Thema an. Über 44 Videos und Redemanuskripte warten auf dich.
Ob ein Kind, ein Elternteil oder gar die ganze Familie in einer Krise Anzeichen von Stress entwickelt, das hängt immer von einem komplexen Zusammenspiel mehrerer Faktoren ab. Das kann nicht so einfach mit ein zwei Punkten beschreiben.
Risikofaktoren sind in der Regel auf die Person bezogen. Ich denke hier an Selbstwertlabilität, Ängstlichkeit, unsichere Bindungen, die Unfähigkeit, sich gegen die Meinung anderer durchzusetzen. Dysfunktionale und damit destruktive Überzeugungen über die eigene Hilflosigkeit.
Sie können aber auch umweltbezogen sein: ein rigides, kommunikationsgestörtes Familienklima. Ständig feindselige Konfliktaustragungen. Streit in Anwesenheit des Kindes. Manipulation und Instrumentalisierung des Kindes. Abwertung von Bezugspersonen.
Wir alle haben aber unsere eigenen Schutzfaktoren, die dagegenwirken: Das sind zuallererst mal die sicheren Bindungen. Eine emotionale Stabilität, ein positives Selbstbild, Durchsetzungsfähigkeit, die Überzeugung, Einfluss auf das eigene Leben nehmen zu können.
Die Schutzfaktoren aus der Umwelt können folgende sein: Ein stabiles Fürsorgeverhalten. Unterstützende Geschwister- und Freundschaftsbeziehungen, der Zugang zu Beratung und anderer Hilfe.
Bedenken sollte man aber immer, dass wir es bei familienrechtlichen Konflikten oft mit mehr als einem Risikofaktor zu tun haben, die sich dummerweise oft auch gegenseitig noch weiter verstärken. Die Wahrscheinlichkeit dafür nimmt mit der Intensität der Konflikte deutlich zu. Da kämpft man schnell an mehreren Fronten.
Was viele unterschätzen, ist, dass es in der Regel nicht die Stressoren / Trigger / Stressauslöser sind, die bestimmen, ob bei jemandem gesundheitliche Probleme auftreten. Sondern vielmehr ist es die Art und Weise, wie Menschen versuchen, mit ihnen umzugehen. In der Fachsprache nennt man dies Coping.
Der Begriff stammt aus der Stressforschung und wurde maßgeblich geprägt vom US Psychologen Richard S. Lazarus (1922 – 2002). Er entwickelte das transaktionale Stressmodell und definierte Coping als „sich ständig verändernde kognitive und verhaltensmäßige Bemühungen einer Person, mit seinen Anforderungen des Lebens fertigzuwerden“. (Lazarus & Folkman, 1984).
Solch ein Coping kann einerseits problemzentriert sein: Du versuchst dann, deine Situation mit deinen eigenen Strategien selbst zu verändern. Du holst dir Informationen, handelst Lösungen aus, du trennst dich, du ziehst um, du ordnest dein Leben neu. Alles Maßnahmen, die uns irgendwie zur Verfügung stehen und die wir gelernt haben.
Coping kann aber auch emotionszentriert sein: Dann versuchst du nicht, die Situation zu ändern, sondern vielmehr deine Sichtweise und Gefühle in Bezug auf die Situation. Du bewertest um, du lenkst dich ab, du suchst Trost, du relativierst das Erleben.
Beide Strategien haben ihre Daseinsberechtigung. Denn manchmal lässt sich eine Situation tatsächlich verändern – dann ist problemzentriertes Coping sinnvoll. Manchmal lässt sich nichts ändern – dann ist es klüger, die eigenen Emotionen zu regulieren.
Gefährlich wird es aber dann, wenn die gewählten Strategien nicht mehr zur aktuellen Situation passen. Wenn jemand zum Beispiel versucht, eine unveränderbare Situation trotzdem weiter mit aller Kraft zu bekämpfen. Auf verlorenem Boden verbraucht man seine Ressourcen komplett sinnlos. Wenn jemand eine veränderbare Situation passiv erduldet, verpasst er andere Chancen, denn manchmal ist das Hindernis einfach nur der neue Weg. Denke nur an den Frosch, der im Wasserglas sitzen bleibt, während die Temperatur langsam, aber sicher steigt. Mit dem Ergebnis? Der Frosch stirbt an Überhitzung.
Kindern haben genauso Copingstrategien zur Verfügung wie die Erwachsenen. Aber … wie sie diese dann nutzen, dass hängt logischerweise stark vom Alter und vom jeweiligen Entwicklungsstand ab.
Kleinkinder reagieren auf Stress oft regressiv indem sie dann in frühere Entwicklungsstufen zurückfallen.
Was Kinder in Familienkrisen aber wirklich brauchen, das wäre eine Unterstützung bei der Kommunikation, eine Stärkung des Selbstwertgefühls und nicht zuletzt die Förderung von Impulskontrolle und Frustrationstoleranz. Programme wie
setzen genau hier an der Wurzel des Problems an.
Ein weiterer Faktor verdient auch unsere volle, besondere Aufmerksamkeit: die wahrgenommene Kontrolle über das eigene Leben.
Denn, wenn du glaubst, ein kritisches Ereignis vorhersehen, verstehen oder irgendwie selbst auch beeinflussen zu können, dann wirkt sich das schützend auf deine Psyche aus. Wenn du aber glaubst, einer Situation völlig ausgeliefert zu sein, dann ist das eher zerstörerisch.
Für Kinder in Familienkonflikten ist dieser Gedankengang besonders brisant. Denn sie sind ja oft das eigentliche Streitobjekt. Werden als Partnerersatz oder als Drohmittel im Kampf der Erwachsenen missbraucht. Logisch, dass sie sich dabei als machtlos empfinden.
Umso wichtiger ist es dann, diesen Kindern die Möglichkeiten zu geben, die Kontrolle über ihr Leben wieder zurückzugewinnen. Das geht ganz einfach, indem man sie respektvoll anhört, oder ihre Meinung einfach nur ernst nimmt, und nicht zuletzt, indem man ihnen erklärt, was da gerade wieso, weshalb und warum so passiert.
„Kindeswohl” … Immer wieder hört und liest man von diesem Begriff. Nicht nur, wenn es um das Thema Familienrecht geht. Und mal ehrlich … kaum ein Begriff ist so schwer zu fassen wie dieser.
Der Gesetzgeber verwendet ihn jedoch an unzähligen Stellen: Bei der elterlichen Sorge, beim Umgang, bei der Adoption, bei Maßnahmen zur Abwendung von Gefahr. Das Kindeswohl ist der absolute Maßstab, nach dem entschieden werden muss. Aber was genau es bedeutet, dass wird nirgends so richtig gesagt. Unglaublich, aber ein Fakt.
Manche Kritiker sprechen hier deshalb von einer „leeren Schachtel”, einer „Worthülse”, einer „Mogelpackung”. Der Begriff sei so unbestimmt, dass jeder hineininterpretieren könne, was er wolle.
Und tatsächlich: Je nachdem, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse aktuell gerade dominieren, welche ideologischen Annahmen dabei im Spiel sind, welche akuten Probleme die Aufmerksamkeit auf dieses Thema ziehen, verschiebt sich, was in dem jeweiligen Fall als kindeswohldienlich gilt.
Ich persönlich vertrete jedoch die feste Meinung, dass dieser Begriff trotz aller Interpretationsmöglichkeiten nützlich ist. Aber nur, wenn man ihn nicht als Zauberformel, sondern als ein heuristisches Prinzip versteht. Also eher wie ein Werkzeug zum Nachdenken, das immer wieder neu auf den Einzelfall angewandt werden muss.
Was ist Heuristik? Heuristik ist eine praktische, oft intuitive Methode, um Probleme zu lösen oder Entscheidungen zu treffen, wenn man nicht alle Informationen hat, keine Zeit für eine perfekte Lösung oder kein exaktes Verfahren zur Verfügung steht.
Grundidee
Der Begriff Heuristik stammt aus dem Griechischen Wortschatz: („heuriskein“ = finden, entdecken) und meint im Kern: eine Lösung finden, die „gut genug ist), ohne dabei alle Möglichkeiten durchzurechnen oder zu beweisen, dass sie optimal ist.
Heuristiken in der Psychologie sind zum Beispiel Ankerheuristiken (erste Zahl beeinflusst die Schätzung), Repräsentativitätsheuristik (etwas scheint typisch, also wird es so eingeschätzt).
Zwei solcher heuristischen Ansätze wären zum Beispiel die folgenden:
„Kinder im Blick“ und „Kinder aus der Klemme“ sind zwei unterschiedliche, aber inhaltlich verwandte Programme für getrennt lebende Eltern, die beide darauf hinarbeiten, die Kinder wieder stärker ins Zentrum der älteren Aufmerksamkeit zu rücken.
„Kinder im Blick“ ist erst einmal ein strukturierter Elternkurs für Eltern in Trennung oder Scheidung, der sich vor allem an Eltern richtet, die ihre Kinder gut unterstützen wollen, aber auch unter der Trennungskrise stehen.
„Kinder aus der Klemme“ ist ein intensives, mehrfamilien Gruppenbasiertes Programm aus den Niederlanden (Lorentzhuis in Haarlem) für hochstrittige Trennungsfamilien, bei denen die Kinder stark unter den Elternkonflikten leiden.
Aus familienrechtspsychologischer Sicht lässt sich das Kindeswohl am besten als ein günstiges Zusammenspiel zwischen den Bedürfnissen eines Kindes und seinen tatsächlichen Lebensumständen beschreiben.
Günstig bedeutet hier: Die Lebensbedingungen sind so gut, für das Kind dass seine altersentsprechende körperliche, seelische und geistige Entwicklung gut vorankommt.
Was zählt dabei alles zu den grundlegenden Bedürfnissen?
Wodurch geraten diese Bedürfnisse in Gefahr? Familienrechtspsychologen schauen sich gerne zuerst die Risikofaktoren in der Umwelt an:
Wie schon erwähnt, ist der Begriff Kindeswohl kein feststehender Begriff. Dies wird auch durch Gerichtsurteile immer wieder bestätigt. Oberlandesgericht Hamm, 3 UF 133/13
Deshalb wird dieser Begriff in unterschiedlichen rechtlichen Zusammenhängen auch immer unterschiedlich verwendet. Das zu verstehen ist wichtig, weil die Anforderungen je nach Zusammenhang / Kontext immer wieder variieren.
Ein typisches Beispiel wäre hier zum Beispiel die Übertragung der Alleinsorge bei Getrenntleben der Eltern.
Hier geht es dann mehr um die positive Bestimmung des Kindeswohls, sondern ausschließlich um die Vermeidung von größerem Schaden. Typisches Beispiel: Maßnahmen nach § 1666 BGB, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes gefährdet ist. Dazu zählt auch, wenn sich die Eltern hochkonflikthaft dauerhaft streiten.
Ein wichtiges Kriterium ist hier das Querulantentum (siehe rechtslexikon.net) “Leute, die immer wieder sinnlose Eingaben an Behörden oder Gerichte machen. Diese müssen die Eingaben zwar immer wieder von neuem prüfen, denn es könnte ja doch das berühmte Körnchen Wahrheit drinstecken.”
Die Grenze zwischen einem „noch akzeptabel” und dem „schon gefährdend” kann nicht klar gezogen werden. Sie hängt immer auch ab vom Ausmaß und der Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen, von den verwendeten Mitteln, von den Folgen, von den kulturellen Normen, von dem Vorhandensein ausgleichender Schutzfaktoren und auch von der Verletzlichkeit des jeweiligen Kindes.
Es gibt hierfür einfach keine allgemeingültigen Mindeststandards, keine Punkteskalen, keine fixen Subsumtionskriterien also konkrete Prüfmerkmale, mit denen festgestellt wird, ob ein Sachverhalt unter die Tatbestandsmerkmale einer Rechtsnorm fällt.
Es gibt hierfür höchstens Urteilsspielräume. Und diese werden mitbestimmt durch die Profession des Beurteilenden, seine Erfahrung und nicht zuletzt auch durch seine persönlichen Normen, Werte, Transzendenzen.
Das könnte sich jetzt sehr unbefriedigend anfühlen, aber es ist die nackte Realität, mit der alle Beteiligten irgendwie umgehen müssen. Der Ausweg aus diesem Dilemma besteht also nicht darin, nach simplen Lösungsformeln zu suchen, sondern darin, die Komplexität dieser Situation anzuerkennen und dann durch eine sorgfältige Risikoabwägung zu bewältigen.
Ein oft übersehenes Problem in diesem Zusammenhang ist noch folgende Tatsache: Nicht nur die ursprüngliche Gefährdung durch Eltern oder andere Bezugspersonen kann Kindern schaden. Auch die Reaktionen der Institutionen – der Gerichte, Jugendämter, Gutachter – können Schaden anrichten.
Wenn ein Gericht fälschlicherweise annimmt, dass ein Kind vernachlässigt wird, und entsprechend eingreift – oder wenn es fälschlicherweise übersieht, dass Vernachlässigung vorliegt, und nicht eingreift –, entstehen Folgen, die sich von denen der primären Gefährdung nicht unterscheiden.
Das Risiko solcher Fehlreaktionen steigt, wenn keine wirklich Risikoabwägung stattfindet, wenn Hypothesen nicht systematisch ausgebildet und geprüft werden, wenn Anfangsvermutungen zu unumstößlichen Gewissheiten erstarren.
Ich empfehle hier die wirklich interessante Studie aus Sciencedirect (Neuausrichtung des Kinderschutzes: Eine Antwort auf die anhaltende Vertrauenskrise im Kinderschutz) Reframing child protection: A response to a constant crisis of confidence in child protection – ScienceDirect
Der Kindeswille gehört – neben dem besprochenen Kindeswohl – mit zu den problematischsten Kriterien bei der Beurteilung, was das Beste für ein Kind in der jeweiligen Situation darstellt. Das liegt nicht daran, dass er unwichtig wäre – ganz im Gegenteil. Vielmehr liegt es daran, dass er so leicht missverstanden, manipuliert oder auch ignoriert werden kann.
Vom Gesetz her wird der Kindeswille an verschiedenen Stellen aufgenommen.
Gleichzeitig schreckt der Gesetzgeber aber immer noch vor klaren Aussagen zurück. Statt einem klaren Ja oder Nein, verwendet er lieber Umschreibungen wie: „Ein Einvernehmen anstreben”, „Widerspruch”, „Interessen des Kindes”. Die formale Entscheidungskompetenz liegt damit immer noch nicht beim Kind, sondern regelmäßig beim Richter. Aber auch das dient einem Schutz … damit das Kind in der Entscheidungskompetenz nicht überfordert wird.
Aus der psychologischen Perspektive kann der Kindeswille als die altersgemäß stabile und autonome Ausrichtung eines Kindes auf erstrebte, persönlich wichtige Ziele verstanden werden.
Das klingt technisch, meint aber etwas Wichtiges: Es geht um das, was das Kind selbst will – nicht um das, was Erwachsene für das Kind für richtig halten. Also nicht um den „vernünftigen” erwachsenen Willen, oder das „wohlverstandene Interesse”, sondern um den originalen, unverfälschten Willen des konkreten Kindes.
Diese Willensbildung ist ein Prozess. Am Anfang steht oft nur diffuses Unbehagen, ein zaghaftes, vages Wünschen, ein unreflektiertes Beharren (Quengeln). Das Kind fühlt etwas, aber es hat noch keine klare Vorstellung davon, was es will. Das ist die präintentionale Phase. (Intention ist einZweck, ein Ziel)
Dann verdichten sich allmählich die Wunschtendenzen langsam aber sicher zu immer festeren Absichten. Das Kind entwickelt dann eine Vorstellung davon, was sein soll oder was nicht sein soll. Damit entsteht dann eine Zielintention, also eine Absicht. Und schließlich entwickelt das Kind auch Vorstellungen darüber, wie es sein Ziel erreichen kann – es fasst Vorsätze.
Wann kann man eigentlich sicher davon ausgehen, dass ein kindlicher Wille vorliegt, der bei Entscheidungen zwingend mitberücksichtigt werden sollte? Vier Merkmale habe ich mal als Orientierung hierfür herausgesucht:
Und je ausgeprägter diese vier Merkmale sind, desto größer ist das Gewicht des Kindeswillens als Kriterium des Kindeswohls. Das gilt allerdings nur, solange es nicht um einen selbst gefährdenden Kindeswillen geht.
Diese Frage wird nach wie vor sehr kontrovers diskutiert. Das Spektrum reicht von der Meinung, es gäbe keine Grenze nach unten, bis hin zu sehr willkürlichen Festlegungen auf das 9., 12. oder 14. Lebensjahr.
Die entwicklungspsychologische Forschung liefert auf diese Frage jedoch recht interessante Hinweise. Bereits im Alter von drei bis vier Jahren erwerben Kinder sehr entscheidende psychische Kompetenzen:
All das sind wichtige Voraussetzungen für die Willensbildung. Deshalb lässt sich begründen, dass der Kindeswille ab etwa drei Jahren familienrechtlich bedeutsam ist und deshalb befragt werden sollte.
Das bedeutet nicht, dass der Wille eines Dreijährigen dasselbe Gewicht hat wie der Wille eines Dreizehnjährigen. Aber es bedeutet auch, dass sehr junge Kinder einen eigenen Willen haben können, der beachtet werden sollte.
Immer wieder stehen sich zwei völlig unterschiedliche Positionen gegenüber: Die eine behauptet, das Kindeswohl könne nicht gegen den Kindeswillen gewährleistet werden. Die andere betont hingegen, dass die Umsetzung des Kindeswillens dem Kindeswohl mehr schaden als nützen würde.
Ich persönlich vertrete tendenziell eher die zweite Position. Aber mit einer kleinen, wichtigen Einschränkung: In den meisten Fällen entspricht der Kindeswille dem Kindeswohl. Dann wäre er eines der wichtigsten Kriterien. Problematisch wird es nur, wenn der Wille selbstgefährdend oder massiv von außen induziert / manipuliert ist.
Das Motto hierbei lautet: So viel Akzeptanz des Kindeswillens wie möglich bei so viel regulierendem Eingriff wie nötig, um dabei das Kindeswohl zu sichern.
Ein Kind kann etwas wollen, was ihm objektiv betrachtet schadet.
Hinter solchem Wollen stehen oft verfehlte Einschätzungen: Das Kind überschätzt aufgrund der geringeren Lebenserfahrung den Nutzen bestimmter Zustände und unterschätzt oft den Schaden. Es hält seine Illusionen für realisierbar und kann die langfristigen Folgen seiner Entscheidung oft nicht völlig absehen.
In solchen Fällen muss das Kind vor der Umsetzung seines eigenen Willens geschützt werden. Das ist ein schwerer Eingriff in seine Selbstbestimmung – aber manchmal auch ein notwendiger.
Betrachten wir mal ein besonders heikles Problem: Was wäre, wenn der Kindeswille von außen eingegeben wurde? Und was wäre, wenn ein Elternteil das Kind systematisch beeinflusst hat, den anderen Elternteil abzulehnen?
Hier prallen nun ganz unterschiedliche Sichtweisen aufeinander. Die einen sagen: Ein induzierter Wille ist kein eigener Wille, also nicht beachtlich. Die anderen sagen: Jeder Wille ist beeinflusst, auch der von Erwachsenen. Erziehung ist immer auch Beeinflussung. Ein Kind, das die Beeinflussung eines Elternteils annimmt und nicht die des anderen, trifft damit eine seinem Alter entsprechende Wahl.
Die Wahrheit liegt wie immer irgendwo dazwischen. Entscheidend ist, was aus der Beeinflussung geworden ist. Hat das Kind die induzierten Inhalte bereits verinnerlicht? Sind sie zu einem Teil seiner Identität geworden? Dann handelt es sich um eine neue psychische Realität, die von außen zu respektieren ist.
Oder verhält sich das Kind nur äußerlich angepasst, während es innerlich etwas anderes will? Dann ist der geäußerte Wille nicht mehr der wirkliche Wille.
Diese Unterscheidung ist diagnostisch schwierig, aber auch entscheidend. Den verinnerlichten Willen eines Kindes zu übergehen, nur weil er durch Beeinflussung entstanden ist, kann das Kind wieder in genau den Zustand zurückversetzen, aus dem es sich durch seine Anpassung erst einmal befreit hatte. Dann drohen wieder Resignation, Hilflosigkeit, Labilisierung des Selbstwertgefühls. Vom Regen gewissermaßen wieder in die Traufe.
In der Diskussion umden von Außen induzierten Kindeswillen taucht oft das sogenannte Parental Alienation Syndrom (PAS) auf. Der Begriff wurde in den 1980er Jahren vom amerikanischen Kinderpsychiater Richard Gardner geprägt und beschreibt die massive Beeinflussung eines Kindes durch einen Elternteil mit der Folge, dass das Kind den anderen Elternteil rigoros ablehnt.
Das Konzept ist sehr umstritten und hat ebenso viele leidenschaftliche Anhänger und genauso viele leidenschaftliche Kritiker. Die Kritiker auf der einen Seite bemängeln: Die wissenschaftliche Grundlage ist schwach. Die diagnostischen Kriterien sind immer sehr unscharf. Es wird zum Beispiel weder durch den ICD11 noch den DSM5 unterstützt. Die hier empfohlenen Interventionen sind oft sehr radikal und können dem Kindeswohl ebenfalls sehr schaden.
Ich teile diese Kritik in gewissen Punkten. Das PAS-Konzept verleitet zu simplifizierenden / stark vereinfachenden Schlussfolgerungen. Es bezeichnet den „entfremdenden” Elternteil vorschnell als pathologisch und entwertet den Willen des Kindes, indem es ihn für manipuliert erklärt.
Außerdem führt es zu sehr drastischen Interventionsempfehlungen – bis hin zur zwangsweisen Herausnahme des Kindes – die genauso eine Kindeswohlgefährdung darstellen können wie die manipulierenden Umstände, die damit bekämpft werden sollen.
Was das Konzept allerdings sehr gut beschreibt, ist ein real vorkommendes Phänomen: die Überidentifikation eines Kindes mit einem Elternteil und die rigorose, oft nicht nachvollziehbare Ablehnung des anderen. Im ICD-11 wird dies mit „Beziehungsproblem zwischen Betreuungsperson und Kind“ (QE52.0) diagnostiziert. Dieses Phänomen gibt es in der Praxis also leider viel zu oft. Aber es lässt sich besser verstehen, wenn man es nicht als Krankheitsbild, sondern als eine noch unreife Bewältigungsstrategie des Kindes begreift.
Eins steht zumindest fest: Jedes Kind, das zwischen seinen streitenden Eltern steht, erlebt einen enormen kaum aushaltbaren Stress. Die Situation ist für jeden und besonders für kleine Kinder viel zu komplex, überfordernd und widersprüchlich. Ein Kind sucht darum immer nach Wegen, diese Komplexität zu vereinfachen.
Eine Möglichkeit besteht darin, die Welt in Gut und Böse aufzuteilen – die typisch unreife Spaltung, welche wir auch im Bereich Borderline immer wieder sehen. Ein Elternteil ist dabei der Gute, der andere der Böse. Das ist zwar eine drastische Vereinfachung – aber es schafft immerhin eine Grundklarheit. Das Kind muss nicht mehr hin- und hergerissen sein und hat damit seine Position bezogen.
Dass diese Position möglicherweise durch einen Elternteil gefördert wurde, ändert nichts daran, dass das Kind selbst aktiv an ihrer Entstehung mitgewirkt hat. Es hat die ihm induzierten / manipulierten Inhalte verarbeitet, zu seinen eigenen gemacht und dann in sein Selbstbild integriert. Es ist nicht bloß passives Opfer, sondern wird dadurch gewissermaßen zu einem Mitakteur in diesem Drama.
Diese Sichtweise hat wichtige Konsequenzen für die Intervention / die Hilfe durch Dritte: Wer nämlich nur den Zusammenhang zwischen Manipulation und Anpassung sieht, der wird in der Regel versuchen, die Manipulation zu stoppen – notfalls auch mit Hilfe drastischer Maßnahmen gegen den manipulierenden Elternteil. Leicht wird dann aber übersehen, dass er damit auch die Bewältigungsstrategie des Kindes zerstört.
Und umgekehrt? Wer in diesem Drama andererseits nur den Willen / den Wunsch des Kindes sieht, wird versuchen, diesen nun zu respektieren – auch wenn dieser selbstgefährdend sein könnte. Aber er übersieht, dass die Entfremdung das Kind auf Dauer schädigen kann.
Die Wahrheit liegt in einer sehr sorgfältigen Abwägung beider Risiken: Also weder pauschales Durchgreifen noch komplettes Gewährenlassen.
Besser wäre hier die Frage: Was dient diesem konkreten Kind in dieser speziellen Situation am besten?
Auch wenn es sich hier vielleicht etwas zu banal anhört, aber ich möchte es gerne immer wieder wiederholen: Erziehungsfähigkeit ist mehr als nur die Abwesenheit von Misshandlung oder Vernachlässigung. Sie bedeutet, an den Bedürfnissen und Fähigkeiten eines Kindes ganz konkret orientierte Erziehungsziele auszusetzen und diese durch gezieltes Fördern in die Tat umzusetzen.
Das klingt im ersten Moment vielleicht etwas abstrakt. Etwas einfacher erklärt, geht es konkret um Fragen wie:
Erziehungsziele sind Erwartungen an das Kind. Diese können ganz konkret sein wie zum Beispiel „Das Kind soll sein Zimmer aufräumen” oder abstrakt „Das Kind soll ein selbstständiger Mensch werden”. Kindorientiert sind sie dann, wenn sie die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes ganz konkret berücksichtigen.
Erziehungseinstellungen sind die Positionen / Werte / Motive, aus denen heraus die Erziehung stattfindet. Zeigen die Eltern Interesse am Kind? Sind sie bereit, sich emotional einzulassen? Wie viel Kontrolle halten die Eltern für nötig? Wie stehen sie zu Strafen? Glauben sie, durch ihr Handeln in ihrem eigenen Leben und dem des Kindes etwas Grundlegendes bewirken zu können?
Erziehungskenntnisse: Diese umfassen sowohl das allgemeine Wissen über die Entwicklung von Kindern, aber auch das konkrete Wissen und
Verstehen des eigenen Kindes mit seinen ganz persönlichen Stärken und Schwächen.
Denn der, der weiß, was Kinder in welchem Alter brauchen, und der dabei sein eigenes Kind auch noch gut kennt und beobachtet, der hat logischerweise deutlich bessere Voraussetzungen für ein vernünftiges Erziehungsverhalten.
Kompetenzen sind die Fähigkeiten, eigene Ziele und Einstellungen in bestimmte Handlungen umzusetzen. Dazu gehört ein stabiler Wille, die Fähigkeit, sich durch Hindernisse nicht aus der Bahn werfen zu lassen und auch konsequent an den Zielen festzuhalten. Das alles gepaart mit Empathie und Feinfühligkeit, der Fähigkeit, die Signale des Kindes wahrzunehmen, richtig zu deuten und angemessen darauf zu reagieren.
Erziehungsverhalten. Das ist, was am Ende (und nicht nur bei der Ente) bei allem herauskommt: das, was tatsächlich geschieht: das konkrete Handeln und nicht handeln gegenüber dem Kind.
In familienrechtlichen Verfahren geht es beim Thema Erziehungsfähigkeit um das Betrachten von zwei Ebenen:
Solch eine Beurteilung erfolgt durch Beobachtung, Gespräche und manchmal auch durch standardisierte Verfahren.
Wichtig dabei ist: Die Erziehungsfähigkeit kann immer nur im Verhältnis zu einem konkreten Kind beurteilt werden. Ein Elternteil kann gegenüber einem „pflegeleichten” Kind völlig ausreichend erziehungsfähig sein und andererseits gegenüber einem Kind mit besonderem Förderbedarf überfordert. Du merkst, kein Fall ist wie der andere. Sie sind alle so einzigartig wie ein Fingerabdruck.
Wir kennen in der Familienrechtspsychologie vier Erziehungsstile:
Mit Responsivität ist hier die Fähigkeit einer Bezugsperson gemeint, auf die Signale und Bedürfnisse eines anderen Menschen (hier die des Kindes) zeitnah, angemessen und feinfühlig zu reagieren. Man kann es sich dies auch als einen „Dialog ohne Worte“ vorstellen, bei dem die eine Seite sendet und die andere Seite versteht und antwortet.
Die Forschung zeigt immer wieder, dass eines dieser aufgeführten Erziehungsverhalten Kindern am besten tut: das sogenannte autoritative Erziehungsverhalten.
Autoritativ – bitte nicht zu verwechseln mit autoritär – bedeutet: Einerseits eine hohe Akzeptanz und Feinfühligkeit gegenüber dem Kind, aber andererseits auch verbunden mit einer klaren Grenzsetzung und vernünftigen Forderungen. Das Kind wird geliebt und ernst genommen, aber es bekommt auch Struktur und Orientierung. Im Ruhrgebiet würde man z.B. sagen: “Kannste machen, ist aber kacke…”
Im Vergleich dazu sind die ungünstigen Varianten:
Diese Typologie kann uns als einfache Orientierung dienen. Aber es gibt logischerweise noch viel mehr Erziehungsstile. Und gemäß Artikel 6 Satz 2 sind die verschiedenen Erziehungsstile von Eltern zu tolerieren, solange diese die Grundbedürfnisse des Kindes erfüllen.
Die Erziehungsfähigkeit ist nur schwer zu beurteilen. Es gibt ihn einfach nicht, den Eltern-Führerschein. Und wie soll man die Erziehungsfähigkeit in einer Diagnose zusammenfassen?
Allein die Tatsache, dass Menschen sich im Beisein von Dritten ganz anders verhalten als wenn sie allein sind, macht es schon unmöglich. Sie beschreiben sich anders / oft überzogen positiver oder negativer, als sie sind. Unsere Selbstwahrnehmung stimmt einfach nur selten mit der Fremdwahrnehmung überein.
Auch die Wirkung von Erziehungsstilen sind mehr als komplex. Nur sehr selten lassen sich einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen nachweisen. Kinder werden nämlich nicht nur durch ihre eigenen Eltern geprägt, sondern auch durch den Rest der Familie. Großeltern, Geschwister, Peers / Gleichaltrige, Institutionen und nicht zu vergessen durch die Sozialen Medien. Und dabei sind sie immer noch selbst aktive Gestalter ihrer Entwicklung.
Bewertungen sollten deshalb mit äußerster Zurückhaltung vorgenommen werden. Nicht jede Abweichung vom Ideal ist dann eine Einschränkung der Erziehungsfähigkeit. Und nicht jede Einschränkung ist dauerhaft – Menschen können sich verändern. Sie lernen und sie wachsen permanent.
Die Konzepte, die ich in diesem Beitrag vorgestellt habe, sind Werkzeuge zum Verstehen. Sie stellen keine Rezepte, aber auch keine Checklisten dar. Sind alles andere als Algorithmen, die – ähnlich der KI / einem LLM – automatisch eine die richtige / falsche Antwort ausspucken.
Jeder familienrechtliche Fall ist einzigartig wie ein Fingerabdruck. Die Bausteine müssen immer von Fall zu Fall zusammengefügt werden. Was in der einen Situation richtig war, kann in einer anderen grottenfalsch sein.
Das mag frustrierend sein. Denn wir alle hätten gern mehr ablesbare Sicherheit, klare Regeln und vor allem eindeutige Antworten. Aber die Komplexität menschlicher Beziehungen lässt das einfach nicht zu.
Was übrig bleibt, ist die Bereitschaft zu einer sorgfältigen Abwägung. Das Nachdenken über Hypothesen und Gegenhypothesen. Die Bereitschaft dafür, dass man sich auch mal irren könnte. Und vor allem geht es um die innere Haltung, dass bei allem, was wir tun, immer das Wohl des Kindes im Zentrum steht.
Es ist nicht das Recht der Eltern und auch nicht die Interessen der Institutionen. Es sollte nie die Bequemlichkeit der Verfahrensbeteiligten sein. Sondern immer das, was diesem einen konkreten Kind in seiner konkreten Lage am besten dient.
Und dies herauszufinden ist nun mal schwer. Aber es ist die Aufgabe, der wir uns stellen müssen.
Dieses über 1000 seitige Nachschlagewerk für Gutachter, Juristen (aber auch Betroffene), Psychologen und Gerichte befasst sich mit allen rechtlichen Vorgaben und Fragen rund um das sachverständige Vorgehen eines Gutachters.
Wie sieht das diagnostische Vorgehen aus? Welche Risiko- und Schutzbedingungen des Kindes sind zu berücksichtigen? Hier werden verschiedene diagnostische Verfahren vorgestellt und eine Unmenge an Rechtsfragen beantwortet wie z.B. was mit Aufzeichnungen im Gutachten geschieht? Können Emails oder digitale Chats dem Gutachter vorgelegt werden?
Was wir hier finden sind Leitlinien für den Sachverständigen, rund um die Qualitätssicherung, Kosten und Vergütung, das Thema Kindeswohl und wie ein schriftliches / mündliches Gutachten aufgebaut sein sollte.
Es sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang mit dem Ex-Partner und den Kinder, aber auch über Erziehungsfähigkeit, Kommunikationsbereitschaft, Loyalität und Kindeswohlgefährdung …
Es ist durch das Gesetz klar geregelt, dass sich jede Person im Familien-Verfahren sowohl vor den Ämtern als auch vor Gerichten (Ausnahme: alle finanziellen Angelegenheiten) durch einen Beistand begleiten lassen kann.
Diese Möglichkeit wird leider noch viel zu wenig genutzt, da sie auch in den Jugendämtern kaum bekannt und nicht gerade populär ist. Eigentlich nachvollziehbar, da sich die gesamte familiale Intervention einschließlich der Familiengerichte gerne im familiären Verfahren unter Ausschluss jeder Öffentlichkeit bequem einrichtet.
Buchen Sie sich gerne auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus