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Familienrechtspsychologie (3) Wenn der Streit zum Alltag wird

Umgang mit Konflikten in der Familie

Stell dir einen Raum vor, in dem zwei Menschen, die sich einmal sehr geliebt haben, nun mit verschränkten Armen und dem RĂĽcken zueinander stehen. Zwischen ihnen liegt nicht nur räumliche Distanz – da ist ein ganzes Minenfeld aus Verletzungen, Enttäuschungen und unausgesprochenen VorwĂĽrfen. Und mittendrin in diesem Raum steht auch noch ein Kind … das aber nicht weiss, zu wem es gehen soll.

Das ist die Ausgangssituation, mit der ein Familienpsychologe in Familenrechtsstreitigkeiten immer wieder konfrontiert wird. Und vielleicht kennst du sie auch aus eigener Erfahrung, aus dem Freundeskreis oder aus deiner beruflichen Praxis. 

Die Frage, die sich dann stellt, ist jetzt aber nicht nur: Wie lösen wir diesen Konflikt? Nein! Sie liegt viel grundlegender. Und zwar: 

  • Wie gehen wir ĂĽberhaupt mit diesem Konflikt um? 
  • Welche Wege / Handlungsalternativen stehen uns offen 
  • Und welcher Weg fĂĽhrt am ehesten zu einer Lösung, die sowohl das Kind schĂĽtzt, als auch den Beteiligten ihre WĂĽrde lässt?

1.1. Die zwei Wege zum Konflikt

Konfliktbehandlung – das klingt im ersten Moment vielleicht recht technisch… Ein Thema, mit dem sich nur Fachleute auseinandersetzen sollten. 

Aber im Kern geht es um etwas sehr Menschliches: 

  • Wie reagieren wir auf das, was zwischen uns steht? 
  • Wie bringen wir etwas, was nicht miteinander vereinbar ist, doch irgendwie zusammen
  • Und wenn es nicht geht, wie finden wir einen Weg, damit zu leben?

Im familienrechtlichen Bereich gibt es grundsätzlich immer zwei Zugänge zu diesem Vorhaben. Der eine fĂĽhrt ĂĽber das Recht, der andere fĂĽhrt – sagen wir es so – am Recht vorbei, ohne es dabei allzu sehr zu ignorieren. Ich wĂĽrde es den rechtsnormgebundenen und den rechtsnormgeloesten Zugang nennen.

1.2. Der Weg ĂĽber das Recht – Rechtsnormgebunden

Der rechtsnormgebundene Weg ist eher der klassische Weg: 

  • Ein Richter entscheidet zum Beispiel, wer in diesem Falle das Sorgerecht bekommt. 
  • Ein Beschluss regelt, wann das Kind bei wem ist. 

Das Gesetz gibt hier den Rahmen vor, und innerhalb dieses Rahmens wird der Konflikt gelöst … zumindest auf dem Papier.

Dieser Weg hat schon seine Daseinsberechtigung. Er schafft Klarheit, wo vorher noch Chaos herrschte. Und er setzt Grenzen, wo Menschen sie aufgrund ihrer Situation nicht mehr selbst haben setzen können. Er bietet auch Schutz dem Schwächeren vor dem Stärkeren – denn das Recht selbst kennt keine Rangordnung in der Macht. Vor dem Gesetz sind im Idealfall alle gleich. 

Jetzt kommt aber eine große Einschränkung hinzu: dieser Weg hat auch seinen Preis! Er zerlegt nämlich den komplexen, emotionsgeladenen Konflikt in juristisch handhabbare Einzelteile. 

Die Frage, wer nun Schuld an der Trennung hat, wird dabei völlig ausgeklammert, wenn es um das Thema Umgangsrecht geht. Die tiefe Kränkung, die eine Mutter dabei empfindet, weil ihr Mann sie betrogen hat, spielt rechtlich keine Rolle mehr, wenn es darum geht, wie oft ein Vater sein Kind dann sehen darf.

Das ist einerseits eine Stärke, weil die juristische Logik dadurch die Komplexität des Konflikts so weit reduzieren kann, dass er überhaupt bearbeitbar wird. 

Andererseits bleiben dabei oft genau jene Themen auf der Strecke, die für die Beteiligten am wichtigsten sind: ihre Gefühle, ihre Verletzungen, ihr Bedürfnis nach Anerkennung dessen, was ihnen angetan wurde. Alles Themen, welche die eigentliche Ursache des Konflikts darstellen, der auf dem rechtsnormen Weg ausgeblendet wird (werden muss…)

1.3. Der Weg jenseits des Rechts – der rechtsnormgelöste Weg

Der rechtsnormgelöste Zugang stellt einen anderen Weg, eine Alternative dar. Hier steht nicht die Rechtsanwendung im Vordergrund, sondern vielmehr die Frage: Was brauchen die Menschen in dieser Situation eigentlich? Was sind ihre Bedürfnisse, ihre Ängste, ihre verborgenen Interessen?

Das bedeutet jetzt nicht, dass das Recht hierbei komplett ausgeklammert ist. Nein! Es bleibt jederzeit im Hintergrund. Gewissermaßen als Rahmen, als fester  Bezugspunkt. Aber es ist nicht mehr der Kern der regulierenden Aktivität. Stattdessen rücken hierbei die sozialen und psychischen Bestandteile des Konflikts deutlicher in den Vordergrund.

Dieser Zugang kann zwei Formen annehmen. 

  • Die erste Form ist die direkte Interaktion der Streitparteien – im besten Fall als konstruktives Verhandeln, im schlechtesten Fall als Machtkampf mit allen Mitteln: Intrigen, Schuldzuweisungen, Drohungen, Blockaden. Dies vermittelt das FamFG durch den Paragraphen 156 Absatz 2 wo auf das Hinwirken eines Einvernehmens immer wieder Bezug genommen wird.
  • Die zweite Form ist die Einbeziehung eines neutralen Dritten – eines Beraters, Mediators oder Therapeuten, der nicht entscheidet, sondern vermittelt. So versucht es ja das FamFG zum Beispiel durch den Paragraphen 163 Absatz 2 mit dem Hinwirken auf ein Einvernehmen.

1.4. Die Einbahnstrasse und ihr Ende

Noch vor kurzem wurde der Weg in die rechtliche Konfliktbearbeitung als Einbahnstraße wahrgenommen. Wer einmal beim Familiengericht gelandet war, für den gab es kein Zurück mehr in die Welt der einvernehmlichen Lösungen. 

Der komplexe Konflikt wurde dabei nur noch auf das Gegeneinander und die eigenen RechtsansprĂĽche reduziert. Und alles, was darĂĽber hinausging, fiel halt irgendwie unter den Tisch.

Das ändert sich jedoch in den letzten Jahren recht deutlich. Und diese Veränderung ist, wie ich finde, eine der bedeutsamsten Entwicklungen im Familienrecht der letzten Jahrzehnte. Lass mich das in den nächsten Unterpunkten etwas genauer beschreiben

2. Der Paradigmenwandel: Vom Richterspruch zu einer gemeinsamen Lösung

Seit den 1980er Jahren vollzieht sich im Familienrecht ein stetig, tiefgreifender Wandel. Die Gewichte verschieben sich: 

  • Weg von einer reinen Streitentscheidung, hin zu einer möglichen Konfliktvermittlung. 
  • Weg von der ursprĂĽnglich einseitigen Sicht auf das Verfahren und seinen juristischen Streitgegenstand, hin zu den sozialen Konfliktinhalten dahinter: den BedĂĽrfnissen, den Ă„ngsten und den Hoffnungen der Beteiligten.

Vereinfacht gesagt: Es geht nicht mehr nur um reine Juristerei. Es geht auch um psychologisches Konfliktmanagement. Um Mediation, Beratung und manchmal auch Therapie. Um die Erkenntnis, dass sich ein familiärer Konflikt oft nicht mit reiner juristischen Logik lösen lässt, welche die Wirklichkeit / die Realität nur noch auf Rechte und Pflichten unangemessen verkürzt.

2.1. Nicht “entweder oder”, sondern “sowohl als auch”

Aber der eigentlich wichtige Kern dieses Wandels ist nicht der Wechsel von dem einen Paradigma zu einem anderen. Es geht hier nun nicht darum, das Recht durch Psychologie zu ersetzen. Das wäre genauso einseitig … Der wirkliche Durchbruch besteht darin, dass beide Herangehensweisen als komplementär / nebeneinander gleichwertig anerkannt werden.

Sie fokussieren dabei jeweils unterschiedliche Aspekte aus ein und demselben Konflikt. Sie setzen dabei nur unterschiedliche Schwerpunkte bei der Lösung an. Und sie können dabei – je nach Konfliktlage und Entwicklungsphase – sinnvoll miteinander kombiniert und untereinander gewechselt werden.

Eine Mediationsvereinbarung kann jederzeit im Laufe des Verfahrens die gerichtliche Entscheidung ersetzen – oder als deren Grundlage dienen (FamFG § 156 Satz 2). Sie wäre dann die Alternative oder die Ergänzung. 

Der Fokus kann dadurch wechseln, weil sich dann die Konflikte und das Verhalten der Streitparteien ändert. Was gestern noch völlig unmöglich erschien – zum Beispiel eine Einigung am Verhandlungstisch – könnte morgen plötzlich möglich werden, wenn sich die emotionalen Wogen etwas geglättet haben.

2.2. Was der Gesetzgeber vorgibt

Der Gesetzgeber hat diese Entwicklung aufgegriffen und dem Familienrichter entsprechende Werkzeuge an die Hand gegeben. Nach Paragraf 156 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen (FamFG) soll der Richter zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens auf ein Einvernehmen hinwirken und auf Beratungsstellen oder Mediation hinweisen. Er kann die Teilnahme an einer solchen Beratung auch rechtlich anordnen und das Verfahren zeitweise aussetzen, um einem aussergerichtlichen Lösungsversuch Raum zu geben.

Bemerkenswert ist auch Paragraph 23 im FamFG: Danach sollen Anträge in geeigneten Fällen die Angabe enthalten, ob zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits eine Mediation oder ein anderes Verfahren der auĂźergerichtlichen Konfliktbeilegung versucht wurde. Das klingt vielleicht nach einer kleinen Formalie – aber es ist viel mehr als das. Es ist ein sanfter, aber deutlicher Druck, der zum Nachdenken anregen soll: Haben wir wirklich alles versucht, bevor wir miteinander vor ein Gericht ziehen?

2.3. Warum die Eltern den Streitmodus wechseln?

Wenn Eltern irgendwann selbständig zwischen den beiden Formen einer Konfliktlösungsstrategie wechseln, das geschieht das oft weniger rational als eher emotional. 

Ein Elternteil empfindet den Berater vielleicht als parteiisch – und rennt daraufhin wĂĽtend zum Anwalt. Oder umgekehrt: Jemand erkennt plötzlich, welche materiellen und ideellen Kosten durch die Nutzung des Rechts entstehen – die AnwaltsgebĂĽhren, die zermĂĽrbenden Verhandlungen, die Verhärtung der Fronten – und sucht daraufhin wieder das Gespräch.

Hin und wieder ist der Wechsel zur Rechtsebene aber auch der einzig rationale / vernünftige Weg, den man noch gehen kann. Dann nämlich, wenn jahrelange Bemühungen auf der Verhandlungsebene nichts als Misserfolge einbrachten. 

  • Wenn der zuvor eingebrachte Vertrauensvorschuss immer wieder durch kompetitives / also streitsĂĽchtiges Verhalten des anderen aufgebraucht wurde. 
  • Wenn kein Unterhalt flieĂźt, 
  • kein Umgang stattfindet, 
  • oder einfach keine Einigung der Streit-Thematik in Sicht ist. 

Dann könnte der Rechtsweg die einzige Machtquelle sein, die dem Unterlegenen noch verbleibt.

Und dann gibt es die “Positivvariante”: Eltern, die trotz Scheidung begreifen, dass sie Eltern bleiben und es nach der Paarebene noch eine Elternebene in der Kommunikation gibt. Die sich ihrer weiter bestehenden Verantwortung bewusst werden. Die aufhören, um das Kind zu streiten, aber anfangen, sich für das Kind abzustimmen. Das ist das Ideal! Leider ist es nicht immer erreichbar … Aber es lohnt sich immer, es  anzustreben.

2.4. Was treibt den Wandel an?

Die Antriebe fuer diesen Paradigmenwandel sind vielfaeltig. Einige davon sind profan: die Hoffnung, den Arbeitsanfall der ueberlasteten Familiengerichte zu mindern. Der Wunsch nach dem schlanken Staat. Das sind keine schlechten Motive, aber auch keine, die automatisch dem Kindeswohl dienen.

Gewichtiger ist eine andere Erkenntnis, die sich muehsam durchsetzt: dass ein familiaerer Streitgegenstand sich oft nur unzureichend mit juristischer Logik bearbeiten laesst. Dass neben der Sachebene immer auch eine Beziehungsebene existiert – und dass die Klaerung dieser Beziehungsebene meist erst vernuenftige Ergebnisse auf der Sachebene ermoeglicht.

Und schliesslich spiegelt dieser Wandel auch einen gesellschaftlichen Trend: hin zu mehr Selbstbestimmung, zu Pluralismus, zur Anerkennung, dass es nicht den einen richtigen Weg gibt, sondern viele moegliche Wege – und dass die Betroffenen selbst am besten wissen, welcher fuer sie der richtige ist.

2.5. Mediation: Nur ein Zauberwort oder echte Hilfe?

Kaum ein Begriff wird im familienrechtlichen Bereich so inflationär häufig gebraucht wie das der Mediation. Er ist zum mystischen Zauberwort / einem Heilsbringer geworden. Ein Sammelbegriff für alles, was irgendwie mit Konflikten und Vermittlung zu tun hat. Jeder kennt ihn, jeder benutzt ihn … und doch meinen verschiedene Menschen oft komplett unterschiedliche Dinge damit.

Das Mediationsgesetz (MediationsG aus dem Jahr 2012) definiert die Mediation direkt im §1 als ein vertrauliches und strukturiertes Verfahren, bei dem Parteien mithilfe eines oder mehrerer Mediatoren freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts anstreben. §2 sagt: Der Mediator ist eine unabhängige und neutrale Person ohne Entscheidungsbefugnis, die die Parteien durch die Mediation führt.

Das klingt beim ersten Lesen bestimmt klar und verständlich. Aber in der Praxis ist dies deutlich komplexer umzusetzen. Und eine der drängendsten Fragen meiner Meinung nach wäre: Sollte der Richter die Funktion eines Mediators übernehmen?

2.6. Der Richter als Vermittler / Mediator?

Die Meinungen darüber gehen weit auseinander. 

  • “Schuster, bleib bei deinen Leisten”, mahnen die einen. 
  • “Der Richter solle entscheiden, nicht vermitteln.” 
  • Der Richter muss sein Tätigkeitsprofil erweitern, fordern die anderen. Denn er könne doch nicht nur einfach urteilen, sondern mĂĽsse auch moderieren können.

Die Antwort auf diese Frage ist eigentlich recht einfach: Der Richter kann als Mediator tätig sein – unter zwei Bedingungen. 

  • Erstens: wenn er eine entsprechende Qualifikation erworben hat. Mediation ist eine Kunst, die gelernt sein will. 
  • Zweitens: wenn es im Rahmen des jeweiligen Verfahrens sinnvoll erscheint.

Der Gesetzgeber hat dafür eine recht elegante Lösung gefunden: den Güterichter. Nach Paragraph 36 Abs. 5 FamFG kann das Gericht die Beteiligten für einen Güteversuch an einen speziell dafür bestimmten Richter verweisen, der nicht entscheidungsbefugt ist. Dieser Güterichter kann dann alle Methoden der Konfliktbeilegung einschließlich der Mediation einsetzen. Entscheidend ist: Er kann anschließend jedoch nicht mehr über den Fall entscheiden. Die Trennung der Rollen bleibt hier klar erhalten.

2.7. Das Machtgefälle

 

Aber es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Mediation und richterlicher Tätigkeit, den wir nicht übersehen dürfen: das Machtgefälle.

In einer klassischen Mediation befinden sich alle Beteiligten miteinander auf Augenhöhe. Der Mediator hat keine Macht über die Parteien; er kann lediglich moderieren. Aber nicht entscheiden. 

Anders sieht dies beim Richter aus: Auch wenn er vermittelnd tätig wird, bleibt er immer noch in seiner Funktion der Richter in dem jeweiligen Prozess. Seine Empfehlungen haben großes Gewicht, weil jeder weiß, dass er am Ende auch entscheiden könnte.

Das hat natürlich auch so seine Vorteile: Die Streitparteien lassen sich durch diese “Positions-Autorität” oft viel eher auf ein Gespräch ein, wenn der Richter darum bittet. Die Interessen des Kindes werden eher reflektiert, wenn ein Richter danach fragt. 

Aber es hat auch Nachteile, die nicht wegzudiskutieren sind: Die Parteien müssen immer befürchten, dass ihre Äusserungen die Entscheidung zu ihren Ungunsten beeinflussen könnten. Der Vertrauensraum, der für eine “echte Mediation” so typisch ist, kann in diesem Rahmen nicht in gleicher Weise entstehen.

Zugeständnisse werden dann möglicherweise nicht aus Einsicht gemacht, sondern nur, um befürchteten größeren Nachteilen aus dem Weg zu gehen. Das wäre dann aber keine Einigung, sondern eher ein taktisches Verhalten. Und solche Einigungen haben selten auf Dauer Bestand.

3. Das Freiwilligkeitsparadox

Jetzt wird es ein wenig philosophisch – aber eine Philosophie mit sehr praktischen Konsequenzen. Es geht nämlich um die Frage: Kann man Menschen zu einer freiwilligen Einigung zwingen? Sie gewissermaĂźen zu ihrem GlĂĽck zwingen oder manipulieren?

Das klingt doch stark nach einem Widerspruch in sich, oder? Zwang und Freiwilligkeit – wie soll das denn zusammenpassen? Und doch gibt es Begriffe wie Pflichtberatung oder gar Zwangsmediation, die genau dieses Spannungsfeld sehr gut beschreiben.

3.1. Pflicht zur Erprobung, nicht zur Einigung

Die Lösung liegt hier in einer kleinen, feinen, aber sehr entscheidenden Unterscheidung: Es geht um die Pflicht zur Erprobung eines Verfahrens und nicht um die Pflicht zur anschließenden Einigung durch dieses Verfahren.

Das Ziel ist es, dass Betroffene dadurch besser beurteilen können, ob dieser Weg für sie gangbar wäre. Die Hoffnung ist, dass aus dem externen Anschub langsam aber sicher ein eigener Antrieb wird. 

Die Erfahrungen aus Ländern wie den USA oder Norwegen zeigen, dass diese Hoffnung berechtigt ist: Viele Betroffene beurteilen eine Teilnahme an der Mediation im Nachhinein positiv, auch wenn sie anfangs skeptisch waren. Der 

Artikel „The volunteer participation paradox: Ethical tensions between self-selection and targeted sampling“ beschreibt dieses Konzept als methodisch-ethisches Dilemma zwischen einer freiwilligen Teilnahme und seiner Repräsentativität in der Forschung.

Aber: Es kann in einem familiengerichtlichen Verfahren nicht um die Pflicht zu einer Mediation selbst gehen. Und schon gar nicht um die Pflicht auf eine Einigung. 

Das Element der Freiwilligkeit muss dabei immer erhalten bleiben: die autonome Entscheidung des Einzelnen, ob er / sie nach der Erprobung das Verfahren fortfĂĽhren oder ab jetzt den gerichtlichen Weg gehen wollen. Auch diese Entscheidung ist Ausdruck von einer Selbstbestimmung und als solche von allen zu respektieren.

3.2. Die Gefahr der Scheinakzeptanz

Alles in allem gibt es gute Erfahrungen mit Pflichtberatung. Meta-Analysen zeigen, dass Familien nach systemischer Therapie in ca. 60–71 % der Fälle bessere Ergebnisse zeigen als Kontrollgruppen (z. B. Messung von Konfliktlevel, Kommunikation, Familienfunktion).

Die Akzeptanz von einem gerichtlichen Zwang in der Beratung hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Aber wir dĂĽrfen uns dabei auch nichts vormachen: Es gibt immer noch viele Graubereiche zwischen Einsicht und einer sich widerstrebenden Einwilligung, zwischen Beugung und Scheinakzeptanz.

Und je größer das Zwangselement, 

  • desto geringer wird die echte Zustimmung  
  • und umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass einmal vereinbarte Lösungen in sich zusammenfallen. 
  • Auch dass die Konflikte damit nicht gelöst, sondern immer nur verschleppt werden. 
  • Dass Scheinakzeptanz oder ein zum Schein vereinbartes Einvernehmen eine Rolle spielt – zum Beispiel, weil ein Elternteil einfach seine Ruhe haben will und deshalb allem zustimmt, ohne es wirklich zu meinen.

Und was ist die Folge davon? Damit werden keinesfalls gĂĽnstigere Lebensbedingungen fĂĽr das Kind garantiert. Im Gegenteil! Dadurch kann es sogar zu sekundären Kindeswohlbeeinträchtigungen kommen – zu Schäden also, die erst durch die vermeintliche, aber dysfunktionale Lösung entstehen.

3.3. Keine Einigungspflicht

Einigungspflicht kann deshalb in diesem Zusammenhang kein Ausgangspunkt sein. Wenn mit einem gewissen Druck durch das Gericht Anfangswiderstände überwunden werden sollen, dann darf das bei einem eventuellen Misserfolg niemals dazu führen, dass die gerichtliche Entscheidung verweigert wird. Das wäre sowohl rechtlich als auch psychologisch unangemessen.

Je stärker der von außen gesetzte Einigungsdruck, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich nicht alle Beteiligten ausreichend gesehen fühlen. Dass dadurch wichtige Interessen von Belang nicht berücksichtigt werden. Oder dass die Einigung in Wahrheit nur die Kapitulation des Schwächeren ist. Und damit sinkt die Nachhaltigkeit jeder Regelung gegen Null.

Deshalb ist die Formulierung in dem Gesetz recht klug gewählt: Das Gericht soll zwar in jeder Lage des Verfahrens auf ein Einvernehmen der Beteiligten hinwirken – aber nur, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. Der Schutz des Kindes steht ĂĽber dem Wunsch nach Einigung. §156 FamFG.

4. Kooperation und Kompetition: Das ewige Ringen

In jedem von uns wohnen zwei Impulse, die sich oft gegensätzlich widersprechen… : Zum einen der Wunsch nach einer Kooperation / einem Miteinander / einem Tanz. Dann aber auch der Impuls zum Kampf / einer Kompetition. 

Einerseits wollen wir alle gerne gewinnen. Andererseits brauchen wir auch ein Miteinander / ein gemeinsames Vorankommen. Wir kämpfen fĂĽr unsere Interessen – aber sehnen uns gleichzeitig auch nach einer Verständigung.

Genauso ist es auch bei einem familienrechtlichen Konflikt. Auch hier prallen diese beiden gegensätzlichen Impulse mit voller Wucht aufeinander. Und welcher von diesen beiden dann die Oberhand gewinnt, das hängt – wie so vieles im Leben – von mehreren Faktoren ab: 

  • von der Situation, 
  • von der Art des Konflikts, 
  • von seiner Eskalationsstufe
  • und nicht zuletzt vom sogenannten Vertrauensdilemma, mit dem wir uns später noch im Teil 6 auseinandersetzen werden.

4.1. Warum Menschen trotzdem immer wieder streiten wollen

Gegeneinander stehende Rechtspositionen – aufeinanderprallende Anspruchspositionen – all diese werden aus den verschiedensten GrĂĽnden bevorzugt: 

Manchmal, weil sich Interessen als unvereinbar erweisen und einem eine Einigung ohne die Autorität eines Richterspruchs unwahrscheinlich erscheint. “Der wird doch nie nachgeben”, denkt man – und zieht lieber vor Gericht, anstatt weiter zu verhandeln.

Manchmal liegt es auch einfach daran, dass die Vorteile eines Miteinanders / eines kooperativen Verhaltens nicht erkannt oder fĂĽr ungenĂĽgend gehalten werden. Da kommen dann Gedanken hoch wie “Was bringt mir sein / ihr Versprechen, das Kind zum Umgangstermin zu bringen?”, fragt sich ein Elternteil und vertraut lieber dem Richterspruch als dem Vater oder der Mutter.

Manchmal ist es auch Hybris: Die eigene Position wird ĂĽbertrieben stark eingeschätzt, sodass eine Kooperation als ĂĽberflĂĽssig erscheint. “Ich kriege mein Elternrecht auch ohne Diskussion” – ein gefährlicher Trugschluss, der oft teuer bezahlt wird.

Und manchmal ist es einfach nur pure Angst: Eine Angst vor einer Übervorteilung, vor Täuschung, davor, dass der andere die Abmachungen nicht einhält oder dass man Zugeständnisse macht, ohne eine Gegenleistung zu erhalten.

4.2. Warum Menschen gerne kooperieren wollen / und es auch tun sollten

Nicht jeder Mensch möchte andauernd kämpfen und/oder in einem Wettstreit sein. FĂĽr den Verzicht auf Kampf und das ewige “vor Gericht ziehen” gibt es ebenfalls ganz unterschiedliche Motive. Manche sind recht simpel / trivial – ich denke hier an die Kostenvermeidung. Andere sind da schon deutlich tiefgrĂĽndiger.

  • Da wäre zum Beispiel die Einsicht in die offensichtlichen Vorteile dieses Weges: geringere materielle und ideelle Kosten, geringere Gefahr nachfolgender Beziehungsbelastung. Denn, wer sich einigt, muss sich später nicht mehr hassen. Und das ist wichtig, wenn man noch viele Jahre lang gemeinsam Eltern sein will. Hier denke ich an das Strategem Nr. 4: “Ausgeruht auf den erschöpften Feind warten”.

  • Da wäre auch der Wunsch, den Konfliktpartner durch eine persönliche Vorleistung zum Kooperieren zu bewegen. “Wenn ich bereit bin, den Antrag auf alleiniges Sorgerecht zurĂĽckzuziehen, dann wird er vielleicht auch dem gemeinsamen Sorgerecht zustimmen”. Dieses “Quid pro Quo”  ist auch eine Hoffnung auf Reziprozität. Strategem Nr. 16: Will man etwas fangen, dann muss man es loslassen.”

  • Dann gibt es noch das Wissen um die Notwendigkeit, kooperatives Verhalten nur ĂĽber eigene Vorleistung auslösen zu können. Denn Vertrauen entsteht nicht von selbst. Vertrauen muss auch angeboten werden. Selbst auf die Gefahr hin, trotzdem enttäuscht zu werden. Hier denke ich an das Strategem Nr. 10: Hinter einem Lächeln den Dolch verstecken.

  • Und manchmal ist Kooperation auch eine reine Notwendigkeit: Die eigene Position ist zu schwach, um sie ĂĽber einen Kampf durchzusetzen. Wenn ich zum Beispiel einem betreuten Umgang zustimme, werde ich das Kind wenigstens sehen – Kooperation aus Einsicht in die eigene Machtlosigkeit. Das entspricht dem Strategem Nr. 12 “Das Schaf mit leichter Hand wegfĂĽhren”



4.3. Die emotionale Blockade

Viele Lösungen kommen oft leider nicht zustande, weil die emotionalen Verletzungen und das Misstrauen noch viel zu stark eine neue Lösung torpedieren, weil sie durch den Streit nicht ausreichend aufgelöst wurden. 

Wir alle wissen, dass eine kooperative und kreative Lösung oft nur dann gefunden wird, wenn die emotionalen Kränkungen zuvor ausreichend bearbeitet wurden. Deshalb ist es so wichtig, das ganze Prozedere als einen langen Prozess mit verschiedenen Entwicklungsstufen zu sehen. 

Aus diesem Grunde heraus empfiehlt auch der WBF – der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfamilienministerium – das ist ein unabhängiges, ehrenamtliches Gremium aus 19 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die das Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) berät – auch ein gestuftes Beratungsangebot fĂĽr Eltern – mit unterschiedlichen Formaten fĂĽr unterschiedliche Konfliktniveaus. 

Das fängt bei der Elternbildung an und geht weiter über Mediation bis hin zur intensiven Einzelberatung.

4.4. Autonomie: Segen und Last zugleich

Je mehr Lösungen ohne Rechtsnorm erarbeitet werden, desto größer werden die Chancen einer eigenständigen, autonomen Konfliktlösung. 

Aber – und das wird oft ĂĽbersehen – dieser Weg zu einer Selbstbestimmung kann auch sehr  anstrengend sein. Denn er verlangt, Handlungsfreiräume auszufĂĽllen. Er verlangt, sich mit den Interessen des GegenĂĽbers empathisch auseinanderzusetzen. Und er verlangt ein hohes MaĂź an Reife, Reflexion und die Fähigkeit zu einer PerspektivenĂĽbernahme.

Das alles gibt es nicht umsonst. Dafür muss man einen gewissen Einsatz bringen. Denn gerade im Familienrecht stehen oft hohe Affektbeteiligung / also intensive Emotionen und ein irrationales Streitverhalten einer souveränen, autonomen Konfliktlösung sperrig im Wege. 

Der feste Wille, das Sorgerecht zu bekommen, steht oft jeder vernünftigen Kommunikation und Kooperation im Wege. Und was dann? Was, wenn sich diese Fronten komplett verhärtet haben? Was soll ein Familiengericht dann machen? Denn es geht ja immer darum, das Kindeswohl vor einer akuten und einer absehbaren Gefahr zu schützen. 

Nun, dann kommt der Grundsatz zum Tragen: Autonomie endet dort, wo sie die Autonomie und das Wohl eines anderen missbraucht.

4.5. Wenn der Konflikt eskaliert

 

Konflikte sind keine statischen Gebilde! Konflikte entwickeln sich fließend, sie verändern sich stetig und sie können jederzeit auch eskalieren. Und ganz ganz selten, können sie sich auch entspannen. 

In der Wissenschaft gibt es verschiedene Modelle, die diese Entwicklung zu beschreiben versuchen: Aufwärts- oder Abwärtsbewegungen, Zirkelprozesse, Spiralen nach oben oder unten.

Lass uns die Entwicklung eines Konfliktes zum besseren Verständnis einmal versuchen, in Stufen einzuteilen. Denn wenn wir die verschiedenen Eskalationsstufen unterschiedlichen Interventionen / also Eingriffen von außen zuordnen könnten, dann wären wir schon einen großen Schritt weiter. Wir könnten dann erkennen, wann eine Mediation noch Sinn machen würde und wann sie an ihre natürlichen Grenzen stößt. 

Wir könnten Abbruchkriterien definieren und damit alles in allem gezielter helfen.

4.6. Die drei Ebenen der Eskalation

 

Aus der Metabene betrachtet, lassen sich drei Eskalationsstufen unterscheiden: 

  • Die erste Ebene sind Wortkonflikte: 

Hier sprechen wir von Meinungsverschiedenheiten, welche sich noch im Rahmen einer normalen Kommunikation bewegen. Standpunkte verhärten sich, es gibt Streit über Erziehungsstile oder Finanzen, aber die Gesprächsfähigkeit ist grundsätzlich immer noch vorhanden.

Dann aber kommt bereits die feindselige Polemik: Damit beschreibt man ein Streitverhalten mit starken Wahrnehmungsverzerrungen. Man erinnert sich nur noch selektiv. Man interpretiert einseitig falsch, sieht im anderen nur noch das Negative. Das Misstrauen wächst und die Denkstrukturen werden immer starrer. Aggressive Argumente tauchen auf und mit einem Male befindet man sich nur noch auf der Beziehungsebene. Drohungen werden ausgesprochen. In diesem Stadium aber noch ohne ein Ultimatum.

  • Die zweite Ebene ist das basale Konflikthandeln: 

Jetzt wird praktisch nur noch gehandelt und nicht mehr nur geredet. Die Ăśbergabestationen werden verkĂĽrzt, wichtige Informationen vorenthalten und Anfragen ignoriert. Man stellt den anderen bei Dritten durchgängig negativ dar – egal ob bei der Kita, bei der Schule oder bei gemeinsamen Bekannten. Und schlieĂźlich werden professionelle Dritte mit einbezogen: der Rechtsanwalt wird beauftragt, Anträge werden gestellt, Beschwerden eingereicht.

  • Die dritte Ebene ist die Hochkonflikthaftigkeit:

Und damit betreten wir ein Terrain / ein Gebiet, dem wir nun unsere besondere Aufmerksamkeit schenken sollten.

4.7. Was auf dem Weg nach unten passiert

 

Mit einer zunehmenden Konflikthaftigkeit passiert auch etwas in den Menschen. Ihre sonst so stabilen sozialen Kompetenzen und Kooperationsfähigkeiten vermindern sich schlagartig. Die Fähigkeit, Spielräume für Einigungen wahrzunehmen, schwindet immer mehr gegen Null. Die Vulnerabilität / die Verletzbarkeit wächst in dieser Stresssituation zum Himmel hoch.

Die Kränkungen häufen sich, die Impulskontrolle lässt nach, psychische Bewältigungsmechanismen (wie Reframing, Sinnfindung, Gespräche mit Dritten, Akzeptanz, Neubewertung, Klärung) werden deutlich weniger differenziert. 

Manchmal mĂĽndet das direkt in eine krisenbedingte Regression – erwachsene Menschen verhalten sich plötzlich wie trotzige Kinder. 

Manchmal entsteht auch eine monothematische Versteifung auf Gerechtigkeit als Lebensziel: Der Kampf gegen den anderen wird zum einzigen noch verbleibenden Lebensinhalt.

Und was besonders tragisch ist: Die Wahrnehmung der kleinen Kinder als Träger eigener Bedürfnisse nimmt immer mehr ab. 

Die Konzentration auf die eigenen “sogenannten erwachsenen Probleme” wird so übermächtig, dass das Kind völlig aus dem Blick gerät. Der Empathieverlust verursacht oft ein Verhalten, durch dass die Kinder schnell instrumentalisiert, verstrickt und komplett überfordert werden.

5. Hochkonflikthaftigkeit: Wenn nichts mehr geht

Hochkonflikthaftigkeit – das klingt nach einem Fachbegriff, und das ist es auch. Aber hinter diesem sperrigen Begriff verbirgt sich ein tiefes menschliches Leid und zwar in seiner konzentriertesten Form. 

Es beschreibt Eltern, die einfach nicht mehr miteinander reden können. Aber auch Kinder, die zwischen den Fronten zerrieben werden. Und da sind dann noch die professionellen Helfer, die in ihrer Arbeit schnell an ihre Grenzen stoßen.

Statistisch gesehen betrifft Hochkonflikthaftigkeit etwa fĂĽnf Prozent aller Trennungs- und Scheidungspaare. Das klingt beim ersten Lesen vielleicht nicht viel – aber der Aufwand, den diese Fälle verursachen, ist unverhältnismäßig hoch. Warum? Weil sie sehr viele Ressourcen an sich binden. Sie erschweren das Hinwirken auf Einvernehmen, und vor allem: Sie setzen die betroffenen Kinder auĂźergewöhnlichen Belastungen aus, die oft zu deutlich ausgeprägteren Folgeschäden fĂĽhren als in den meisten anderen Trennungsfällen.

5.1. Woran erkennt man Hochkonflikthaftigkeit?

Hochkonflikthaftigkeit lässt sich recht deutlich am realen, beobachtbaren Verhalten erkennen. Ich unterscheide hier gerne zehn Kriterien, die ich nun im Folgenden beschreiben möchte:

  1. Da ist zunächst das Schikanehandeln: Missverständnisse werden dann fĂĽr Strafaktionen ausgenutzt. Die Informationspflichten werden verweigert. Angebliches Fehlverhalten öffentlich angeprangert – manchmal auch wider besseres Wissen.
    Der andere wird immer wieder provoziert, degradiert, vor vollendete Tatsachen gestellt.

  2. Das Drohverhalten mit Ultimatum: Wenn du nicht…, dann werde ich… Alternative Handlungsmöglichkeiten werden systematisch reduziert.

  3. Das Verharren im Vorwurfskreislauf: Jedes Gespräch über Sachfragen mündet in denselben Vorwürfen, denselben Klagen und Anschuldigungen … Und das immer und immer wieder.

  4. Die Allianzbildung: Familie und Freunde werden mit einbezogen und gegen den anderen beeinflusst. Die Kommunikation wird behindert – E-Mails bleiben unbeantwortet, Kontakte werden vermieden.

  5. Überhöhte Kontrollansprüche: Forderungen nach einer lückenlosen Rechenschaft, diverse Kontrollanrufe. Hier wird die Grenze zur Überwachung oft überschritten.

  6. In besonders schweren Fällen, Gewaltanwendung in der jüngeren Vergangenheit.

  7. Die Psychopathologisierung des anderen: spekulative Behauptungen über psychische Störungen.

  8. Die Kriminalisierung: unbegrĂĽndete Behauptungen ĂĽber kriminelles Verhalten.

  9. Da ist die Selbstschädigung: Selbst eigene Schäden werden dann in Kauf genommen, die groesser sind als der angestrebte Nutzen. Kostenintensive Strategien werden fortgesetzt, obwohl sie keinen Erfolg bringen.

  10. Und schlieĂźlich dass, was ich am schlimmsten empfinde: die Belastung des Kindes.
    Ich denke hier an die verbale / laute und auch die ohrenbetäubend laute stille nonverbale Beeinflussung: Das Herabsetzen des Partners beim Kind. Dieses ewige Angstschüren. Der Versuch, Koalitionen / Allianzen zu bilden. Das Vereiteln von Umgang bis hin zu handgreiflichen Streit in der Gegenwart der Kinder.

5.2. Was bedeutet dies fĂĽr die Intervention von AuĂźen?

 

Bei einer immer stärker werdenden Hochkonflikthaftigkeit in einem Elternstreit verändern sich naturgemäß die Wirkungsmöglichkeiten Dritter dramatisch. Die Wahrscheinlichkeit sinkt dann rapide, dass die Interessen aller Beteiligten irgendwie noch berücksichtigt werden können. Die Bereitschaft zu gemeinsamen Gesprächen nimmt ab und die Akzeptanz von Interventionen geht gegen Null.

Und was passiert dann? Dann muss das Gesetz einfach Schritte unternehmen, um die Interessen des Schwächsten – des Kindes – irgendwie noch zu schĂĽtzen. 

Und je ausgeprägter die Hochkonflikthaftigkeit der Eltern ist, desto angemessener sind die Interventionen, die auf eine Verhaltensregulierung zielen anstatt auf mentale / kognitive Veränderungen zu plädieren. 

Dann muss man auf ordnungsrechtliche Instrumentarium zurückgreifen wie zum Beispiel: 

  • Begleiteter Umgang, 
  • Ordnungsmittel, 
  • im Extremfall Eingriffe ins Sorge- und Umgangsrecht. 

Hier wird die Wächterfunktion des Staates aktiviert, weil sich die Selbstregulierungskräfte der Beteiligten in dem Streit bereits erschöpft haben.

Der Schlüssel liegt dann in einer genauen Passung von Konfliktniveau und Intervention. 

Und da können Fehler in zwei Richtungen auftreten: 

  • Entweder greift die Intervention zu schwach ein, weil die Selbstregulierungskräfte ĂĽberschätzt werden. 
  • Oder sie greifen unverhältnismäßig stark ein, weil die Selbstregulierungskräfte unterschätzt wurden. 

Beides schadet und kann die Verhältnismäßigkeit nicht wahren.

6. Das Vertrauensdilemma

Ich habe vorhin in Teil 4 von einem Vertrauensdilemma gesprochen – jetzt ist es Zeit, diesen Begriff ein wenig mit Inhalt zu fĂĽllen.

Vertrauen ist bei zerstrittenen Parteien ein knappes Gut, wenn es überhaupt noch existent ist. Und wie die Wirtschaft uns immer wieder lehrt: Je knapper ein Gut, desto höher sein Preis. Übersetzt auf den Familienkonflikt bedeutet das: 

Je weniger Vertrauen vorhanden ist: 

  • desto höher werden die Anforderungen an Beweise fĂĽr eine VertrauenswĂĽrdigkeit und 
  • desto misstrauischer wird jede einzelne Handlung / Geste des anderen betrachtet. 
  • Und umso schwieriger wird es, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

Dabei wäre Vertrauen doch gerade in diesem Stadium des Streits so wichtig: 

  • Vertrauen erhöht die Toleranz gegenĂĽber mehrdeutigen Vorkommnissen. 
  • Es reduziert die Komplexität von Problemen. 
  • Vertrauen erhöht die Bereitschaft, Informationen zu teilen und sich zu öffnen. 
  • Es kann seinerseits ein Gegenvertrauen fördern. Das wäre dann ein positiver Kreislauf statt des vorherigen negativen Teufelskreises.

Aber die Realität familienrechtlicher Streitigkeiten ist immer wieder gekennzeichnet durch ein geringes und mit der Dauer des Konflikts stetig abnehmendes Vertrauen. Das ist das Dilemma, was ich immer wieder beobachten muss.

6.1. Wie Vertrauen aufgebaut werden kann

Will man dieses Dilemma reduzieren, dann macht es wenig Sinn, dem Konfliktpartner zusätzlich die Vertrauenswürdigkeit abzusprechen. Sinnvoller wäre es hier, Fragen zu stellen: 

  • Welcher Vertrauensbeweis wird eigentlich erwartet? 
  • Was mĂĽsste der andere tun, damit man ihm wieder vertrauen könnte?

Vertrauensaufbau ist – genauso wie ein Konflikt – ein Prozess, der in mehreren Phasen verläuft. Das wie bei einem ersten Date 🙂 

  1. Zunächst geht es darum, ĂĽberhaupt mal eine vertrauensvolle Kommunikation herzustellen – einen vorsichtigen kleinen Rahmen, in dem einfach nur gesprochen werden kann, ohne dass jedes Wort als Waffe benutzt wird.

  2. Dann folgt der Abbau bedrohlicher Handlungen – das Einstellen von Angriffen, Drohungen, Schikanen.

  3. Und schließlich kann Vertrauen auch durch entsprechende Handlungen gezielt aufgebaut und gefördert werden: 
    1. durch Versprechen, die gehalten werden, 
    2. durch Zugeständnisse, die nicht zurückgenommen werden, 
    3. durch Verlässlichkeit im Kleinen. Denn wie heißt es schon in der Bibel? “Wer in kleinem treu ist, der ist auch in vielem treu.” 

Ja, das alles ist ein langer beschwerlicher Weg. Und nicht jeder ist bereit, ihn zu gehen. Aber es lohnt sich! 

 

6.2. Die Kunst Einwände zu nutzen

 

In jeder Konfliktbehandlung gibt es Einwände. Das sind dann Einwände gegen Vorschläge, gegen den Vermittler, gegen den anderen. Einwände gegen einfach alles. Und der Umgang mit diesen Einwänden ist eine Kunst, die wirklich gelernt sein will. Aber die auch gelernt werden kann.

Einwände haben verschiedene Gesichter. Auf der Sachebene signalisieren sie, dass Informationen fehlen oder Missverständnisse vorliegen. Das ist recht leicht lösbar. Ich denke da an Aufklärung, Erklärung und durch geduldiges Zuhören.

Auf der Beziehungsebene wird es etwas “sportlicher”. Da sind Einwände vor allem ein Ausdruck tiefsitzender negativer Emotionen: Ungeduld, Beleidigtsein, Angst, Misstrauen, Feindseligkeit, Ärger. 

Das ist schon deutlich schwieriger, denn Emotionen lassen sich nicht so einfach mit Argumenten beseitigen.

6.3. Grundsätze und Techniken

 

Die Grundsätze der Einwandbegegnung sind simpel, aber nicht trivial / einfach: 

  1. Den Einwand ernst nehmen. 
  2. Keine Angst vor Einwänden haben. 
  3. Die Argumentation auf der Sach- und auf der Beziehungsebene getrennt beachten. Hier hilft einem die Transaktionsanalyse mit den drei Ebenen des Ichs (Eltern-Ich, Kind-Ich und Erwachsenen-Ich)
  4. Eine ruhige, freundliche Gesprächsatmosphäre ermöglichen. 
  5. Aufmerksames wirkliches Zuhören.

Die Techniken halten uns hier viele Möglichkeiten offen: 

  • RĂĽckfragen, um sicherzugehen, dass man richtig verstanden hat. 
  • Reflexion, um dem Gesprächspartner seinen Einwand zu spiegeln. 
  • Das Ja-aber-Prinzip – taktische Zustimmung, damit sich der andere akzeptiert fĂĽhlt. 
  • Das Abwägen von Vor- und Nachteilen. 
  • Das Umdeuten – den Einwand in einen neuen Rahmen setzen. 
  • Das Relativieren. 
  • Das ZurĂĽckstellen. 
  • Die Umkehrung. 
  • Die Offenbarung – Ich habe den Eindruck, dass…

Keine dieser Techniken ist ein Allheilmittel. Aber zusammen bilden sie ein Repertoire, aus dem der erfahrene Vermittler je nach Situation schöpfen kann. Wer sich näher in diese Thematik einlesen möchte, kann sich gerne mein Buch bei Amazon bestellen: “Borderline verstehen – Die U.M.W.E.G.-Methode©”

7. Querulanz: Wenn der Kampf zum Lebensinhalt wird

Es gibt Menschen, die durch ihre ständigen Prozesse und ihr Beschwerdeverfahren die Arbeitskapazität der Gerichte stark beanspruchen, ohne dass die bestehenden Konflikte dadurch irgendwie besser gelöst werden können. Im Bereich der Justiz werden solche Menschen als Querulanten bezeichnet.

Das ist zunächst erst einmal nur eine Beschreibung, keine Diagnose. Aber wie kommt es dazu? Und wie geht man damit um? Und welche Gefahr entwickelt sich daraus, wenn auf einmal das Wort Querulanz im Raum steht?

7.1. Die vielen Gesichter der Querulanz

Lange Zeit dominierten recht einseitige Beschreibungen dieser “Eigenschaft”: 

  1. Der Querulant sei eben so, es liege in seiner Persönlichkeit. Intensiviert sich dieser, dann könnte man diese Eigenschaft nur noch mit psychopathologischen Erklärungen beschreiben. 
    Querulanz gilt nach dem Rechtslexikon nämlich als eine krankhafte Steigerung einer Tugend und des Rechtsgefühls. Das mag zwar in einzelnen Extremfällen zwar zutreffen, aber es ist keine ausreichende Erklärung.

  2. Ein anderer Ansatz sieht die Querulanz als fehlgelerntes Verhalten: Eine real erlebte rechtliche Benachteiligung wird zum Prägeerlebnis, das dann zu bestimmten Verhaltensmustern fĂĽhrt. Das SchlĂĽsselereignis – vielleicht ein Unrecht, das tatsächlich geschehen ist – prägt den weiteren negativen Umgang mit dem Recht.

  3. Ein dritter beschreibender Ansatz fragt nach den handlungsleitenden Motiven: 
    1. Welche Ziele verfolgt der Mensch? 
    2. Was treibt ihn an?
      Oft steigern sich im Verlauf eines Konflikts die Ansprüche und verselbstständigen sich die Ziele. Der Kampf mit dem Recht wird auf einmal zum Lebensinhalt, zu einer monothematischen Existenz.

  4. Ein vierter Beschreibungsversuch betrachtet Querulanz als eine gestörte Kommunikation: Je länger der Konflikt dauert, desto mehr verlagert er sich von der Sach- auf die Beziehungsebene. 

Der mangelnde Erfolg in der Sache wird dann als Angriff auf die eigene Person interpretiert.

 

  1. Und schließlich gibt es dann noch den Denkansatz, die Querulanz als einen  Zuschreibungseffekt zu verstehen: 

Querulanz wäre demzufolgen dann auch das Ergebnis justizieller Zuschreibungen – ein Label, das dem Menschen von oben einfach aufgeklebt wird und dann sein weiteres Schicksal mitbestimmt. Ganz nach dem Motto: Ich, der Underdog, werde von denen da oben ganz bewusst ausgegrenzt. Und damit zieht sich der Teufelskreislauf auf die nächste Eskalationsstufe hinauf.

7.2. Wie man am besten mit Querulanz umgeht

Gerade weil Querulanz so unterschiedlich ist und auch auf die unterschiedlichst Art und Weise in Erscheinung tritt, sind einfache Rezepte nicht hilfreich. Aber einige Prinzipien können dabei helfen.

  • Zunächst einmal das Selbstmanagement: 

Streiche den Begriff des Querulant möglichst aus dem eigenen Vokabular. Vermeide selber die pauschale Typenbildung – denn “den einen Querulanten” gibt es einfach nicht. 

Beurteile die Motive der Beteiligten immer differenziert, denn es gibt nicht das eine Motiv, sondern wir handeln meistens aus mehreren Motiven heraus. 

Betrachte immer den interaktiven Prozess und damit auch deine eigene Beteiligung. Behalte dabei die Grenzen des Anderen und die Grenzen des Rechts immer im Auge.

  • Dann das Interaktionsmanagement: Sanktionen können notwendig sein wie zum Beispiel: 
    • PrĂĽfung der Prozessfähigkeit durch ein sachverständiges Gutachten 
    • DEr Vorwurf des Rechtsmissbrauchs, 
    • GebĂĽhren fĂĽr den Missbrauch staatlicher Ressourcen. 

Aber all dies kann querulatorische Aktivitäten auch steigern und damit den Konflikt weiter verschärfen. 

Eine Alternative zu den Sanktionen wäre zum Beispiel, die Attraktivität von Alternativen zu steigern, indem man den Belohnungswert dieser anderen Wege erhöht.

Du siehst, nirgends gibt es keine einfachen Lösungen. Aber es gibt immer bessere und schlechtere Wege, mit dieser sportlich, schwierigen Klientel umzugehen.

8. Am Ende steht nichts als das Kind

Ich habe jetzt viel über Konflikte gesprochen, über Eskalationsstufen und Interventionsmethoden, über Vertrauen und auch das Thema Querulanz mit aufgenommen. 

Aber am Ende steht immer dasselbe: ein Kind, das zwischen zwei Menschen steht, die es beide lieben – und die es nun doch nicht mehr miteinander können.

Das Kind selber aber hat keine Wahl. Es kann sich seine Eltern einfach nicht aussuchen und es kann sich aus deren Konflikt auch nicht heraushalten. 

Es kann nur hoffen, dass die Erwachsenen um es herum – die Eltern, die Richter, die Berater, die Gutachter – ihre Arbeit gut machen. Dass sie trotz aller Streitigkeiten nicht nur ihre eigenen Interessen sehen, sondern vor allem auch seine. 

Dass sie nicht nur streiten, sondern auch lösen. Dass sie nicht nur fordern, sondern auch verstehen.

Das ist die Verantwortung, die auf uns allen lastet. Und es ist der MaĂźstab, an dem sich jede Konfliktbehandlung messen lassen muss.

Was bleibt, ist die Hoffnung: 

  • dass aus Streit doch noch eine Verständigung werden kann. 
  • Dass Eltern, die sich aktuell hassen, doch noch lernen können, miteinander zu reden. 
  • Dass Kinder nicht fĂĽr immer die Leidtragenden sein mĂĽssen. 

Diese Hoffnung aufzugeben wäre fatal. Sie am Leben zu halten ist unsere Aufgabe und Teil meiner Arbeit.

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  • Es ist durch das Gesetz klar  geregelt, dass sich jede Person im Familien-Verfahren sowohl vor den Ă„mtern als auch vor Gerichten (Ausnahme: alle finanziellen Angelegenheiten) durch einen Beistand begleiten lassen kann.

  • Diese Möglichkeit wird leider noch viel zu wenig genutzt, da sie auch in den Jugendämtern kaum bekannt und nicht gerade populär ist. Eigentlich nachvollziehbar, da sich die gesamte familiale Intervention einschlieĂźlich der Familiengerichte gerne im familiären Verfahren unter Ausschluss jeder Ă–ffentlichkeit bequem einrichtet.

    Buchen Sie sich gerne auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus