Lass mich ganz am Anfang mal mit einem alten Zitat aus der Bibel beginnen. Ich denke da an einen Gedanken des weisen Königs Salomo aus den SprĂŒchen 29:18 âWo keine Vision ist, da wird das Volk zĂŒgellosâ.
Mit diesem Zitat und dem Buch möchte ich dir zeigen, dass Borderline deutlich mehr ist als nur eine reine âStörungâ. Borderline ist vielmehr der Spiegel unserer heutigen Zeit, unserer Gesellschaft, ja praktisch unserer gesamten Kultur. Und Borderline wird immer mehr, immer prĂ€senter!
Ca. 3% der deutschen Bevölkerung leiden an den “Borderline”-Symptomenâ. Und schauen wir auf die Gesamtzahl aller stationĂ€ren Behandlungen im psychotherapeutischen Bereich, dann sind ca. 15 bis 20% der psychotherapeutischen TherapieplĂ€tze von Patienten mit Borderline Diagnosen, Borderline Symptomen und deren Leiden belegt.
Allein dieser gigantischen Menge wegen mĂŒssen wir uns fast schon zwangslĂ€ufig mit dieser Thematik auseinandersetzen!
Woher kommt Borderline und wie viel Schuld haben unsere Gesellschaft und unsere Kultur hieran? Lass uns hierfĂŒr gemeinsam einmal tiefer in dieses Thema eintauchen.
Kultur ist das, was eine Gemeinschaft kĂŒnstlerisch, geistig gestaltet, um sich menschlich weiterzuentwickeln. Sie gibt Antwort auf Fragen wie: âWas macht den einzelnen Menschen / was macht die menschliche Gesellschaft besser?â
Und genau hier kommt jetzt Borderline mit ins Spiel ⊠Borderline ist praktisch eine “Antikultur”, welche den Niedergang unseres Miteinanders sichtbar macht.
Warum ich dies sage, möchte ich einmal mit diesem Teil meines Buches aufzeigen. Im zweiten groĂen Teil werde ich dir mit Hilfe der “U.M.W.E.G.”-Methode ein Hilfsmittel an die Hand geben, damit du die âSpracheâ des Borderliners besser verstehst und auch besser hĂ€ndeln kannst.
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Wenn wir die VerÀnderungen in unserer Gesellschaft im Strome der Zeit einmal aus der psychologischen Perspektive betrachten, dann wird einem immer deutlicher bewusst, welch eine gewaltige Dimension an VerÀnderungen unsere Gesellschaft heute durchmacht.
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Das war aber nicht immer so! Denn, machen wir nur mal einen kleinen Zeitsprung zurĂŒck in die nahe Vergangenheit und betrachten wir die Zeit, als der groĂe Tiefenpsychologe Sigmund Freud lebte und wirkte. Wir befinden uns in der Zeit von 1856-1939. Es war eine Welt, die noch von den letzten AuslĂ€ufern der British-amerikanischen Kultur â der viktorianischen Epoche (1837 bis 1901) geprĂ€gt wurde. Das war eine ganz andere Kultur als die heutige ⊠In seiner (Sigmund Freuds) Zeit war es nĂ€mlich noch völlig logisch, dass Neurosen (psychische Störungen ohne körperliche Ursachen) wegen der UnterdrĂŒckung âin der Gesellschaft nicht akzeptierter sexueller GefĂŒhle und Gedankenâ entstehen wĂŒrden.
Heute – etwa 100 Jahre weiter – werden sexuelle und andere Impulse deutlich offener ausgedrĂŒckt als damals. Aber ist dies wirklich eine reelle Befreiung???
Ist es nicht eher so, dass unsere soziale Gesellschaft / unser Miteinander / unsere Werte und Visionen eher unĂŒbersichtlicher geworden sind, als noch zu Freuds Zeiten oder frĂŒher?
Es ist nÀmlich gar nicht mehr so klar und deutlich, was es bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein⊠Unsere Strukturen im politischen, wirtschaftlichen, religiösen aber auch im sozialen Bereich werden eher unklarer / undeutlicher.
Was heute noch ânormalâ – also einer allgemeinen Norm entspricht – was zu einer ânormalen Familieâ oder zur kulturellen Norm gehört, ist ĂŒberhaupt nicht mehr so klar, wie es noch vor 100 Jahren war ⊠Wurde frĂŒher noch von Familie als von denjenigen gesprochen, die zusammen leben â denn âfamereâ kommt aus dem umbrischen Sprachraum und bedeutet genau dieses âdiejenigen die miteinander wohnenâ â so muss heute fĂŒr Familie eine völlig neue Bezeichnung gefunden werden. Familiengerichte haben sich derzeit auf folgende Bezeichnung geeinigt: Zur Familie zĂ€hlen alle Personen, die dauerhaft und zuverlĂ€ssig Verantwortung fĂŒreinander ĂŒbernehmen. Dies schlieĂt deutlich mehr ein und ist dem Umstand geschuldet, dass immer neue Formen von einem Miteinander aufkommen.
Und auch wenn diese sozialen / kulturellen Faktoren nicht als die eigentliche Ursache der Borderline â Persönlichkeitsstörung bezeichnet werden dĂŒrfen, so hat die Gesellschaft zweifelsohne einen direkten und auch indirekten Einfluss auf jeden Einzelnen von uns.
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Erstens: Da die Borderline â Symptomatik, ihren Ursprung nach allen uns zur VerfĂŒgung stehenden Erkenntnissen in der frĂŒhesten Kindheit hat, mĂŒssen wir die sich verĂ€ndernden sozialen Familienstrukturen und Eltern-Kind-Beziehungen hierbei genauer betrachten.
Es lohnt sich, einen tiefen Blick auf die sozialen VerÀnderungen bei der Kindererziehung / dem Familienleben, bei Kindesmissbrauch und KindesvernachlÀssigung zu richten.
Zweitens: Wer an Borderline leidet, reagiert sehr feinfĂŒhlig auf alle sozialen VerĂ€nderungen⊠Und gerade deshalb stellt die fehlende Struktur in der heutigen westlichen Kultur gerade fĂŒr diese Personengruppe ein groĂes Handicap dar⊠Diese fehlenden Strukturen fördern IdentitĂ€tsprobleme und IdentitĂ€t benötigt nun mal feste Strukturen.
Leider beobachten wir aktuell eher den gegenteiligen Trend:
Die ursprĂŒngliche Rolle der Frau und des Mannes verschiebt sich immer weiter durch andauernd neue gesellschaftliche und berufliche Anforderungen â Ich denke hier an das alte Thema âKarriere oder Haushalt?â âŠ
Wissenschaftler fĂŒhren dieses Thema immer wieder an, um zu zeigen, dass Borderline besonders bei Frauen wegen dieses sozialen Rollenkonflikts immer stĂ€rker vorkommt.
Und als wenn dies noch nicht genug wĂ€re ⊠Da sich in der Regel zuerst die MĂŒtter um die Erziehung ihrer Kinder kĂŒmmern, ĂŒbertrĂ€gt sich diese Störung fast schon zwangslĂ€ufig auch auf die zukĂŒnftige Generation.
Drittens: Es ist fast schon normal, dass Charakterstörungen durch die stetige VerĂ€nderung unserer Kultur im Allgemeinen zunehmen – und hier ganz speziell die Borderline- Störung.
Denn dies ist fast schon eine unausweichlich krankhafte Reaktion auf unsere heutige aktuelle Kultur. Nicht umsonst gibt es immer mehr BĂŒcher zu diesem Thema, wie zum Beispiel das geniale Werk âDas Zeitalter des Narzissmusâ von Christopher Lasch.
Wie in dem Zitat am Anfang aus den SprĂŒchen (âWo keine Vision besteht, werden Menschen und Völker zĂŒgellos / unkontrollierbarâ) gesagt, werden ganze Kulturen brĂŒchig und haltlos, wenn es keine Zukunftsvisionen mehr fĂŒr sie gibt. Und genau das beobachten wir heute in unserer westlichen Kultur. Wir sehen immer deutlicher den Kontaktverlust sowohl zu unserer Vergangenheit aber auch zu unserer Zukunft âŠ
Der heutige technologische Fortschritt und die immer mehr werdenden Informationen sind ein Kennzeichen der heutigen Zeit. Praktisch jeder hat einen Computer oder ein Handy. Damit ausgerĂŒstet, glauben wir, dass wir einerseits in der Lage, andererseits aber auch dazu verpflichtet sind, selber auf die Suche nach den Lösungen unserer heutigen Fragen zu gehen⊠Jeder ist auf einmal ein âDoktor Google oder neuerdings Doktor Chat GPT”.
Was aber passiert, wenn jeder von uns zu einem eigenen Spezialisten / Experten / einem âDoktor Googleâ in seiner Suche auf KI, Facebook, Twitter, YouTube oder TikTok wird? Werden wir dadurch zu aufgeklĂ€rten und kommunikativen Menschen? Eher das genaue Gegenteil scheint der Fall zu sein!
Wir werden immer mehr eine Gesellschaft voller Egoisten, Egozentrikern die immer weniger miteinander in einen echten ehrlichen zwischenmenschlichen Austausch gehen ⊠Und dabei ist die gröĂte Droge fĂŒr einen Menschen doch genau das: der andere Mensch!
Durch das viele Senden von Nachrichten ĂŒber Messenger-Dienste, durch das stĂ€ndige Posten via Social Media Plattformen wie Twitter / Facebook und Co. unterbinden wir praktisch jeden direkten Augenkontakt. Jeglicher direkter Mensch-zu-Mensch-Kontakt wird vermieden⊠Gemeinsames Arbeiten in Gruppen gibt es praktisch nicht mehr⊠Wir vereinsamen in unseren Home-Office wĂ€hrend der Pandemie und denken, dass GesprĂ€che via Teams, Zoom etc. dem direkten GesprĂ€ch ebenbĂŒrtig sind.
Dauerhaft hohe Scheidungsraten und auch die stÀndig wachsenden Erwartungen an eine praktisch unbegrenzte MobilitÀt haben in unserer Gesellschaft Eigenschaften wie z.B. Durchhaltevermögen und AuthentizitÀt in den Hintergrund treten lassen.
Die so genannten Babyboomer (Nachkriegskinder 1946 â 1964) waren wahrscheinlich die letzte Generation, welche noch dieselben Schulen und Kirchen wie ihre Eltern / bzw. ihre GroĂeltern besucht haben.
Lange, tiefe und auch vertrauensvolle Beziehungen oder Freundschaften sind durch immer hĂ€ufigere UmzĂŒge fast schon unmöglich ⊠Die Folge davon ist, dass bei den Betroffenen dann eine tiefe Einsamkeit, Angst und Leere, aber auch Depressionen und der Verlust an Selbstachtung zurĂŒckbleiben. Und das Ergebnis? Immer mehr Menschen leiden an den Symptomen, die irgendwann â wenn alles zu viel wird â mit Borderline diagnostiziert werden.
Borderline wird in dem internationalen Klassifikations-Verzeichnis fĂŒr Krankheiten, dem ICD 10 unter F60.31 kategorisiert. Die ĂŒbergeordnete Kategorie (F60.30) ist bezeichnenderweise die emotionale InstabilitĂ€t.
Borderline könnten wir â ganz vereinfacht ausgedrĂŒckt â auch als eine krankhafte / eine unreife Reaktion auf unsere neuen gesellschaftlichen Belastungen und Anforderungen bezeichnen.
Darum ist es fast schon konsequent logisch, dass wir heutzutage Borderline immer hÀufiger diagnostizieren.
all das kommt zwangslÀufig auf, wenn wir in unserer Gesellschaft immer weniger StabilitÀt und noch weniger eine BestÀtigung des Selbstwertes erfahren.
Der Kern unserer gesellschaftlichen Problematik ist exakt dieses Fehlen von stabilisierenden Werten und Visionen. Das (!) ist das wahre Kennzeichen unserer heutigen Gesellschaft! Alles darf sein und nichts muss sein âŠ
Von Alice Schwarzer bis Conchita Wurst ist praktisch alles erlaubtâŠ
Aber hat uns das wirklich weitergebracht? Bringen uns unendliche Freiheiten, auch unendlich mehr Fortschritt / Freude / Sinn im Leben? Ist unendliche Freiheit wirklich eine Vision, die uns voranbringt? Etwas zynisch muss ich sagen: Nein!
Borderline wird meines Erachtens durch die vorherrschenden sozialen Bedingungen in groĂem Umfang nicht verhindert, sondern praktisch verursacht.
Zwar braucht jede Kultur ihren eigenen SĂŒndenbock, um das Ăbel einer Gesellschaft zu beschreiben. Aber vielleicht ist Borderline â oder besser formuliert: die Borderline-Persönlichkeit, deren IdentitĂ€t ja in viele Fragmente gespalten ist – dass wohl zutreffendste Bild ĂŒber das Zerbrechen von stabilen Einheiten in unserer Gesellschaft.
Borderline wird heute deutlich hĂ€ufiger diagnostiziert als noch vor 10 oder vor 30 Jahren. Aber vielleicht waren zu den Zeiten von Sigmund Freud auch schon viele, die von ihm damals noch als Histrioniker bezeichnet wurden bereits Borderliner? Das kann schon sein, macht aber Borderline â egal wie lange es diese Störung bereits gibt – nicht weniger gefĂ€hrlichâŠ
Wir mĂŒssen uns darum einer Tatsache bewusst sein: Wir gehen einem neuen Zeitalter von Borderline mit offenen Augen entgegen.
Zusammenfassung Kapitel 1: Beginnen wir von vorne
Was Du aus diesem Kapitel mitnimmst: Dein praktischer Nutzen:
Du verstehst jetzt, dass Borderline keine isolierte “Störung” einzelner Menschen ist, sondern der Spiegel unserer gesamten Gesellschaft. Das nimmt Dir vielleicht ein StĂŒck weit das GefĂŒhl, allein mit diesem Problem zu sein. Du erkennst:
Der wichtigste Aha-Moment: Borderline ist die logische, krankhafte Reaktion auf unsere moderne Ăberforderungsgesellschaft. Du kannst aufhören, Dich oder den Betroffenen als “schuldig” zu sehen â das System ist krank, nicht ihr!
Warum Du jetzt Kapitel 2 lesen solltest:
Jetzt, wo Du den groĂen Zusammenhang verstehst, wird es konkret!
In Kapitel 2 erfÀhrst Du:
Du wirst verstehen, warum es immer schwieriger wird, stabile Beziehungen zu fĂŒhren und warum gerade Du oder Dein Partner so reagiert, wie ihr reagiert.
Das ist die Grundlage, um spĂ€ter die U.M.W.E.G.©-Methode wirklich zu verstehen und anzuwenden. Denn erst wenn Du die Wurzeln kennst, kannst Du die FrĂŒchte beeinflussen.
Also: Weiter geht’s! Die Analyse wird noch spannender â und konkreter!
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Ich denke, dass wir uns alle einer traurigen Tatsache immer deutlicher bewusst werden: Unsere westliche Kultur ist seit der Mitte des 20. Jahrhundert immer fragmentierter und zersplitterter geworden. FrĂŒhere noch stabilisierende Strukturen, die seit vielen vielen Jahrhunderten das Zentrum unserer Gesellschaft waren â ich denke, hier an die Kleinfamilie, die Familie ĂŒberhaupt (Familie entstammt wie bereits gesagt aus dem umbrischen Sprachraum mit dem Begriff âfameriaâ und bedeutet âwohnenâ. Es bezeichnet also alle die zusammen wohnen â also eine gewisse Ortstreue an den Tag legen.)
Sie alle wurden durch eine immer gröĂer werdende Zahl an neuen Mustern, Bewegungen und Trends komplett ausgetauscht ⊠Wie sieht die Situation heute aus?
All dies geschieht in einem bislang nie gekannten Ausmaà ⊠Es gab dies zwar schon immer, jedoch nicht in dieser ĂŒbergroĂen Anzahl!
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Viele dieser VerĂ€nderungen stehen in einem direkten Zusammenhang zu dem Versagen unserer Gesellschaft, dem Einzelnen nach dem Streben nach Autonomie auch immer eine âsoziale WiederannĂ€herungâ zu bieten. Was ist damit gemeint? âŠ
Diese soziale WiederannĂ€herung ist meines Erachtens der zentrale Teil unseres Lebens â es ist die (!) Kernaufgabe unserer Gesellschaft!
Das Leben geht nĂ€mlich nicht nur rein linear vonstatten. Es entwickelt sich vielmehr eher âpulsartigâ:
All das ist ein ganz natĂŒrlicher Vorgang und erinnert uns vielleicht an die Entwicklung eines Kleinkindes: In der sogenannten Ablösungs- oder Individuationsphase (in der Regel so zwischen dem 5. und dem 12. Lebensmonat) versucht das Kind langsam aber sicher, immer wieder die eigene Mutter zu verlassen â es sucht sich seinen eigenen Weg in ein autonomes Leben. Es kommt jedoch immer wieder zur Mutter zurĂŒck, da es ihre WĂ€rme und Vertrautheit noch lebensnotwendig benötigt.
Kommt es hier nun zu einer Störung im wieder AnnĂ€hern, dann hat dies in der Regel mit einem fehlenden Vertrauen, einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung, einer inneren Leere, tiefer Angst und/oder einem unsicheren Selbstbild zu tun âŠ
Wenn wir hier einmal genauer hinsehen, dann sind dies alles Bereiche, aus denen sich nach ICD 10 und 11 eine Borderline-Symptomatik zusammensetzt.
Gehen wir jetzt von der Mutter-Kind-Beziehung wieder in die Meta-Ebene und betrachten wir die Gesellschaft-Individuums-Beziehung: Fast könnte man sagen, dass die heutige Gesellschaft im GroĂen auf Ă€hnliche Weise bei einer normalen âsozialen WiederannĂ€herungâ stört wie wir dies im Kleinen bei der Mutter-Kind-Beziehung beschrieben haben. Indem die Gesellschaft den Zugang zu den stabilisierenden sozialen Ankerpunkten versperrt, bleibt der Einzelne dauerhaft auf sich allein gestellt.
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Nie war diese gesellschaftliche Störung deutlicher zu sehen als aktuell in unserem 21. Jahrhundert.
Zu erkennen ist dies in den vielen Wirtschafts ZusammenbrĂŒchen, Rezensionen, dem Arbeitsplatzverlust, den Zwangsversteigerungen und nicht zuletzt in den weltweiten Pandemien mit ihren Isolationen. Sie sind wirklich das Kennzeichen unserer heutigen Zeit.
War die âTulpenkriseâ 1637 noch fĂŒr ĂŒber 150 Jahre die einzige Krise mit ĂŒberregionaler Bedeutung (erst 1799 kam dann die âHamburger Handelskriseâ) so gab es allein im 20. Jahrhundert bereits drei enorme Krisen:
Die Spirale dreht sich heute jedoch schneller denn je, denn im immer noch jungen 21. Jahrhundert gab es bereits zwei groĂe Krisen:
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In unserer heutigen westlichen Kultur sind immer mehr Eltern dazu gezwungen, die Erziehung Ihrer Kinder Dritten auĂerhalb der Familie zu ĂŒberlassen, weil einfach zwei volle GehĂ€lter nötig sind, um sich einen halbwegs vernĂŒnftigen Lebensstandard inmitten einer immer stĂ€rker werdenden Inflation zu erhalten.
Bezahlter Erziehungsurlaub oder KindergÀrten in der NÀhe des Arbeitsplatzes werden immer seltener, obwohl sie doch dringender denn je benötigt werden, um eine stabile Mutter-Kind-Beziehung in unseren hektischen Zeiten aufrechtzuerhalten.
Und wenn das noch nicht genug ist, machen die Anforderungen an unsere Arbeit und der wachsende wirtschaftliche oder soziale Druck auch noch hĂ€ufige UmzĂŒge erforderlich.
All diese aufgezĂ€hlten Punkte und noch weitere nicht ErwĂ€hnte bringen jeden Einzelnen immer weiter weg von seinen stabilisierenden WurzelnâŠ
Wir verlieren mehr und mehr die Vorteile der UnterstĂŒtzung durch Verwandte wie Omas und Opas, die frĂŒher regelmĂ€Ăig in der Nachbarschaft gewohnt haben und Teil des Alltagslebens waren.
Das Leben wird immer instabiler und schutzloser. Und was wird dadurch gefördert? Eine innere und Ă€uĂere InstabilitĂ€t und Angst. Alles, was Borderline fördert.
Sitten und GebrĂ€uche sind sowohl innere als auch Ă€uĂere Normen â wir können sie auch als Brauchtum bezeichnen. Brauchtum ist mit dem Wort âbrauchenâ âich brauche etwasâ, âich habe etwas nötigâ verwandt. Unsere Gesellschaft benötigt dieses Brauchtum, diese Sitten und GebrĂ€uche, die Gewohnheiten, um eine vernĂŒnftige Routine im Leben zu finden. Routinen selber sind dann die Grundlage jeglicher Sicherheit und StabilitĂ€t. Ein wunderbares Tool GEGEN Borderline!
Wenn aber unsere wichtigen Sitten und GebrĂ€uche verschwinden, dann hinterlassen sie eine LĂŒcke voller InstabilitĂ€t. Dies ist in etwa vergleichbar mit dem GefĂŒhl des Verlassenseins ⊠so, als ob man in einem unbekannten nebligen Gebiet ohne Navigation umherirrt.
Wie wirkt sich dies auf unsere Kinder aus? Ihnen fehlt immer mehr ein wirkliches Geschichts â und ZugehörigkeitsgefĂŒhl zu der Gesellschaft, in der sie sich befinden. Ihnen fehlt ein Anker, um sich in der Gegenwart der aktuellen Welt einen eigenen autonomen Platz zu erkĂ€mpfen. Sie bleiben Fremde in einer fĂŒr sie fremden Gesellschaft â alles Grundlagen fĂŒr die Leere eines Borderliners.
Und wie wird dieses GefĂŒhl der Leere in der Regel dann gefĂŒllt? Wenn nicht mit StabilitĂ€t, was bleibt dann ĂŒberhaupt noch ĂŒbrig?
Auf der Suche nach wenigstens ein bisschen StabilitĂ€t greifen viele leider immer wieder auf krank machende pathologische Ersatz-Verhaltensweisen zurĂŒck â ich denke da besonders
und vieles mehr.
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Der Wegfall unserer bisherigen Sitten und GebrĂ€uche hinterlĂ€sst wirklich eine tiefe LĂŒcke und fördert Borderline.
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Die wohl elementarste Aufgabe einer Gesellschaft ist es, dem Einzelnen â nach seiner Suche der eigenen Autonomie — immer wieder eine Strategie der WiederannĂ€herung zu beruhigenden und stabilisierenden Bindungen zu bieten.
Leider versagt sie in genau dieser wichtigen Aufgabe. Das spiegelt sich in einer andauernden Serie von radikalen gesellschaftlichen Bewegungen wĂ€hrend der letzten 50 Jahre widerâŠ
All diese KrĂ€fte und Ströme destabilisieren unsere Gesellschaft bis ins tiefste InnersteâŠ
Warum erwÀhne ich dies? Weil es ein Kennzeichen von Borderline darstellt! Kriterium Nummer 3: starke und andauernde InstabilitÀt des Selbstbildes.
Unsere Gesellschaft zeigt immer deutlicher die Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Der wohl gröĂte Verlierer dieser gesellschaftlichen VerĂ€nderungen ist meiner Beobachtung nach die Kameradschaft, die Gruppentreue, das ZugehörigkeitsgefĂŒhl zu einer Gemeinschaft â die Hingabe an eine Familie, echte Nachbarschaftshilfe, der Glaube an eine Kirche, an den Beruf und nicht zuletzt die Treue an das Land und damit die eigene Herkunft.
Da unsere Gesellschaft weiterhin viel eher Distanz als AnnĂ€herung fĂŒr den Einzelnen bietet, reagieren immer mehr darauf mit einem Verhalten welches wir aus der Diagnose des Borderline-Syndroms her kennen:
Was wir in unserer Gesellschaft nĂ€mlich immer mehr beobachten mĂŒssen ist
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Die innere Welt eines Borderliners ist voller WidersprĂŒche in sich.
Das sollte uns jedoch nicht allzu sehr verwundern, da auch unsere Welt in der Gesamtheit in sich immer widersprĂŒchlicher wird⊠Einerseits glaubt doch jeder Einzelne von uns, dass Frieden besser ist als Krieg und Gewalt.
Warum aber sind dann andererseits unsere StraĂen, die Schulen, all die Blockbuster, unser Fernsehen und die vielen aktuellen Videospiele so voll mit Aggressionen und Gewalt?
Beim Erstellen dieses Beitrages waren in der Top10 Liste der angesagtesten Spiele ganz vorne
Das fĂŒhlt sich doch nicht wirklich nach Frieden an⊠oder?
Als 1869 die ersten weiĂen Siedler in den sogenannten Siedlertrecks begannen, Amerika zu besiedeln, war man sich dessen bewusst, dass der Grundsatz der Nachbarschaftshilfe ein fester Bestandteil der Kultur und der amerikanischen Gesellschaft ist. Heute â 150 Jahre spĂ€ter â ist aus diesem GefĂŒhl der Zusammengehörigkeit nicht mehr viel zu verspĂŒren. Amerika und praktisch die gesamte westliche Kultur hat sich in eine politisch konservative, egoistische und auch materialistische Gesellschaft verwandelt.
Ein egoistisches, selbstbewusstes und tatkrÀftiges Vorgehen wird deutlich mehr gefördert, erwartet und geachtet, wohingegen Nachdenken und Selbstreflexion fast schon mit SchwÀche und Inkompetenz gleichgesetzt wird.
Ist dies aber wirklich der richtige Weg? Warum war unsere Kultur in den vergangenen Jahrhunderten denn so erfolgreich? Nicht zuletzt auch deshalb, weil wir ZUSAMMENgearbeitet haben. Zusammen ist man halt stark⊠Aber das wĂ€re ja das Gegenteil von BorderlineâŠ
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Die gesellschaftlichen KrÀfte heute zerren und ziehen an uns mit einer noch nie dagewesenen Kraft und IntensitÀt. Dauernd fordern sie uns dazu auf, eine polare Haltung anzunehmen / alles mit einer Unvereinbarkeit zu betrachten, wie wir dies bislang nicht kannten:
Alles ist entweder âSchwarz oder WeiĂâ, es ist entweder ârichtig oder falschâ, âgut oder schlechtâ. Jemand ist âschuldig oder unschuldigâ. Grautöne oder einen Plan-B scheint es nicht mehr zu geben.
Selbst beim Thema Hobbys ist dies zu verspĂŒren. Warum können wir nicht mehr einem Hobby nachgehen, ohne uns dabei unter Druck zu setzen?
Als MarathonlĂ€ufer war ich besonders interessiert, als eine Studie ĂŒber Doping im Breitensport herauskam.
Bei einer anonymen Befragung von Teilnehmern des Bonn-Marathons gaben 60% (!) an, noch vor dem Start Schmerzmittel eingenommen zu haben â ohne akute Schmerzen zu haben.
Und da spreche ich noch nicht mal âsonstige BetĂ€ubungsmittelâ an, unter die z.B. Anabolika fallen. Die Schlagzeile: âFast jeder 5. Im “Fitness doptâ lĂ€sst erahnen, welchem Druck sich der Einzelne ohne Notwendigkeit aussetzt.
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Hört sich das alles fĂŒr Dich nicht auch nach Perfektionismus an? Und ja, tatsĂ€chlich können wir dieses âSchwarz-WeiĂ-Denkenâ aus dem Perfektionismus auch in der Borderline-Symptomatik deutlich erkennen. Hier jedoch in einer vielfachen StĂ€rke im Vergleich zum Perfektionismus.
Perfektionismus ist ein Àngstliches Kreisen um das eigene schwache Selbst oder Ich⊠Immer der Frage nachgehend:
Die krankhafte / pathologische Steigerung von Perfektionismus können wir im Borderline-Syndrom sehr gut erkennen.
Eine Stufe dazwischen dĂŒrfen wir aber nicht ĂŒbersehen: die emotional Unsicheren. Wir leben heute in wirklich unsicheren Zeiten. Menschen mit einer ansonsten stabilen emotionalen inneren âLandschaftâ fĂŒhlen sich durch die unsicheren ZustĂ€nde um sich herum selber immer unsicherer. Da kommt schon öfter mal die Frage auf: âBin ich hier vielleicht der alleinige VerrĂŒckte, oder wird die Welt um mich herum immer verrĂŒckter?â
Vor noch gar nicht langer Zeit hatten wir in den Paarbeziehungen noch die Konstellation, dass sich ein âEmotional Instabilerâ (F60.30) oft mit einem Narzissten verbunden hat.
Der Narzissmus kam meiner Beobachtung nach als Folge der neuen Erziehung nach den beiden groĂen Kriegen auf: âUnseren Kindern soll es niemals so schlecht ergehen, wie wir es erleben mussten.â
Diese vielen Prinzen und Prinzessinnen wurden damit in dem Glauben erzogen, dass ihr Egoismus richtig und gut sei. Was aber war die Folge? Was passiert eigentlich, wenn Egoisten Kinder bekommen?
Aufgrund ihrer egozentrischen Sicht- und Lebensweise wurden ihre Kinder emotional weniger beachtet. Ihre Kinder waren vielmehr ein Statusobjekt oder oft nur noch ein Störfaktor.
Diese Kinder wollten aber natĂŒrlich Bindung, bekamen diese jedoch viel zu wenig. In der Folge davon entwickelte sich bei ihnen eine dauerhafte emotionale Unsicherheit.
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Die krankhafte / pathologische Steigerung von emotionaler Unsicherheit wĂ€re dann die âEmotionale InstabilitĂ€tâ
Und Borderline wird durch die Erziehung von egozentrischen Eltern deutlich stÀrker gefördert.
Kommen wir zurĂŒck zu dem Zwischenthema der Polarisierung⊠Alles wird heute immer stĂ€rker in einem âschwarz-weiĂ-Denkenâ kategorisiert. Warum? Weil wir alle einmal in solch einer âheilen kleinen Weltâ gelebt haben: in unserer frĂŒhesten Kindheit. In dieser Zeit war fĂŒr uns (!) alles noch so einfach. Diese Erfahrungen haben wir alle in unseren Erinnerungen gespeichert. Aber nur in unserem kleinen Kosmos. Die groĂe komplizierte Welt um uns herum ist aber nicht so einfach und schon gar nicht nur schwarz oder nur weiĂ. Wobei sich die gesellschaftliche Haltung leider in genau diese Richtung entwickelt.
In der Politik werden heute fast nur noch die Personen gewÀhlt, die extreme polare / polarisierende Haltungen einnehmen:
Aber nicht nur die Politik spaltet. Sekten und religiöse Splittergruppen treten immer lauter auf und beschwören ihren Zuhörern: Dieser Weg ist der allein selig machende, selbst wenn er den Freitod bedeutet. Ich denke hier an
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Politik und Religion sind aber immer noch nicht die einzigen Treiber in einem âSchwarz-WeiĂ-Denkenâ. Auch unser Rechtssystem hat einen massiven Anteil an dieser Entwicklung! Unsere Rechtsprechung beruht nĂ€mlich auf der Bedingung / der PrĂ€misse, dass ein Mensch entweder nur schuldig oder gar nicht schuldig / unschuldig ist.
SpĂŒrst du, dass hier praktisch kaum Raum fĂŒr Zwischentöne ĂŒbrig bleibt?
Und wenn etwas in der Rechtsprechung immer entweder richtig oder falsch ist, dann muss doch eigentlich auch die Lehre von einem fairen und gerechten Leben in sich schlĂŒssig und korrekt sein, oder? Und wenn das Leben fair und gerecht ist (von Anfang an ist das ein Trugschluss) und trotzdem etwas Schlechtes passiert, dann ist es nach dieser KausalitĂ€t doch logischerweise die Schuld eines Anderen und er muss dann dafĂŒr bezahlen.
Der Andere ist schuld und ich bin das arme Opfer! Und wiederum lĂ€sst Borderline grĂŒĂen.
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Die stĂ€ndig gröĂer werdende Flut an Informationen und Freizeitalternativen macht es einem immer schwerer, vernĂŒnftige PrioritĂ€ten zu setzen.
Nicht umsonst lesen wir Schlagzeilen wie diese:
WÀre es nicht toll, wenn wir es schaffen könnten, uns nicht nur körperlich ausgewogen zu ernÀhren, sondern auch geistig?!
Denn, was wir wirklich benötigen, ist eine ausgewogene, fast schon salomonisch proportionierte Haltung zu ErnÀhrung, Arbeit und Freizeit, Altruismus und Egoismus.
Und warum wĂŒnsche ich mir das? Weil der Ăbergang von einem selbstbewussten Handeln zur AggressivitĂ€t, von einem gesunden Individualismus zu einer krankhaften Entfremdung / bzw. Isolation, von einem vernĂŒnftigen Selbsterhaltungsgedanken zu Egozentrik oft nur ein sehr sehr kleiner Schritt ist.
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Die Gefahr, dass das gesamte System unserer inneren Haltung in eine InstabilitÀt kippt (Borderline ist emotionale InstabilitÀt) ist viel zu groà und nicht zu unterschÀtzen.
Kennst du noch den Satz: âPi mal Daumenâ?
Er steht fĂŒr eine etwas lockere Art um zu sagen: âGrob geschĂ€tzt passt das schonâ
Pi ist eine Zahl, die sehr genau genommen werden kann, da sie unendlich viele Zahlen nach dem Komma hat.
Dadurch dass man diese Zahl nun einfach mit dem Daumen kombiniert â also grob ĂŒber den Daumen etwas ĂŒberschĂ€tzt â fĂŒhrt man eine grobe EinschĂ€tzung durch, immer in dem Wissen, dass es nicht 100%ig, jedoch annĂ€hernd richtig ist. Dadurch kann man sich viele Dinge im ansonsten so komplizierten Alltag schnell vereinfachen.
Was aber passiert aktuell in unserer Gesellschaft? Wird denn alles einfacher? Genau das Gegenteil können wir beobachten.
Unter dem immer weiter wachsenden Drang zur Digitalisierung und Industrie 4.0 wurden viele Prozesse fast schon exzessiv in eine immer stĂ€rkere PrĂ€zision gefĂŒhrt. 1967 nahm dies seinen Anfang mit dem ersten Taschenrechner von Texas Instruments. Das 1,5 kg âschlanke, schwere GerĂ€tâ hat in den folgenden Generationen von SchĂŒlern das Kopfrechnen und den alten Rechenstab ersetzt.
Der Taschenrechner war aber lediglich der Anfang. 1979 kam mit dem Atari 400 der erste Heimcomputer auf den Markt, gefolgt von vielen Versionen anderer Hersteller wie Apple, IBM und Amiga. Diese Computer wurden immer wichtiger und hielten in fast allen Bereichen unseres Lebens Einzug â in Autos, Mobiltelefonen, HaushaltsgerĂ€ten etc. Ăberall sind PCÂŽs integriert, um GerĂ€te prĂ€ziser und effizienter zu steuern.
Von der Mikrowelle bis zum Multifunktionskocher (ich möchte das Wort Thermomix vermeiden) gibt es immer mehr GerĂ€tschaften, die uns davor bewahren, irgendwie doch mal selber kochen zu mĂŒssen.
Online Rezepte, Online-Essen-Kaufen wie zum Beispiel bei âHellofresh” entbinden einen vom Denken und sogar vorm Einkaufen. Kreatives Selber-Kochen (âwas bietet KĂŒche und Keller?â) kommt hierbei gar nicht mehr vor.
Der Hang zum âweniger selber kreativ seinâ geht aber noch weiterâŠ
Denn seitdem es Schuhe mit Klettverschluss gibt, mĂŒssen Kinder gar nicht mehr diese Fingerfertigkeit erlernen und eine Schleife binden.
Laut einer Statistik aus dem Jahre 2018 können Kinder zwischen 2 und 5 Jahren zwar eine Computermaus bedienen, 63% den PC aus- und einschalten, 58% ein einfaches PC-Spiel spielen⊠aber lediglich 11% von ihnen können SchnĂŒrsenkel binden.
Was ist die erschreckende Folge hiervon? Die natĂŒrliche KreativitĂ€t und auch der intellektuelle FleiĂ werden fĂŒr immer mehr Bequemlichkeit und eine fast schon unmenschliche PrĂ€zision aufgegeben.
Ganz nebenbei: Kann ich die KreativitĂ€t meiner Kinder denn ĂŒberhaupt fördern? Ja! Merk dir einfach mal folgende einfache Tricks eines mehrfachen Vaters:
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Glaube mir, so entstehen keine Borderliner. So lernen Kinder fest ins Leben zu kommen!
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Unser menschliches Auge kann in etwa (wieder Pi mal Daumen đ) 200 Farben unterscheiden. Wenn wir dabei noch die vielen Varianten mit unterschiedlichem WeiĂanteil und Helligkeit hinzunehmen, dann kommen wir auf ca. 2 Millionen Farbnuancen, die unser Auge alle erkennen kann.
Unser Ohr steht dem in nichts nach. Es kann bis zu 7000 unterschiedliche Tonhöhen unterscheiden. Es gibt hier bei weitem nicht nur Ton AN oder Ton AUSâŠ
Warum nehme ich diese Vergleiche mit in meinen Beitrag? Es geht doch um Borderline, oder? Und ja, das typische Borderline-Denken ist nÀmlich, dass alles in der Spaltung entweder nur schwarz oder nur weià ist, entweder ⊠oder..
Aber unsere Welt war noch nie prĂ€zise entweder oderâŠ! Unsere Welt besteht seit jeher aus vielen leichten bis schweren Ungerechtigkeiten.
Dieser Welt nun eine weiĂe Ordnung ĂŒberstĂŒlpen â wie eine Schablone, das ist völlig unmöglich.
Aber genau das ist der typische und verzweifelte Kampf eines Borderliners, den er 24/7 tĂ€glich fĂŒhrt. In der Borderline â Persönlichkeit gibt es nĂ€mlich leider nur ein schwarz oder weiĂ, ein Richtig oder ein Falsch, ein Gut oder BöseâŠ
Das gesamte Leben mit all seinen wunderbaren Facetten und Feinheiten wird von ihm als entweder falsch oder richtig eingeschÀtzt.
FĂŒr ihn muss jeder Mann (dies dient hier nur als Beispiel) auch als mĂ€nnlich eingestuft und jede Frau als weiblich eingestuft werden. Doch wir alle wissen, dass nicht alle MĂ€nner gleich mĂ€nnlich und alle Frauen nicht gleich fraulich sind â ich möchte hier nicht immer Alice Schwarzer und Conchita Wurst erwĂ€hnen, obwohl sie doch gute Beispiele fĂŒr einen Vergleich wĂ€ren.Â
Unsere Welt ist jedoch weder gerecht noch 100% exakt!
Unsere wunderbare Welt setzt sich aus so vielen unterschiedlichen Grautönen / aus Feinheiten zusammen, die gar nicht in dieses stark vereinfachende âEntweder-oder-Schemaâ passen können.
Darum sollten wir uns ĂŒber eine Tatsache immer bewusst sein:
Eine starke gesunde Gesellschaft kann und muss auch unbequeme Denk-Alternativen aus ihren Reihen akzeptieren. Denn alle Versuche, so etwas auszumerzen oder zu ignorieren, ermutigen eine Borderline-Gesellschaft nur noch mehr zu polarisieren. Lass uns mal bei diesem Polarisieren bleiben:
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Es wÀre naiv zu glauben, dass all diese neuen Denkrichtungen, die auf uns einströmen, keine Auswirkung auf unsere Denke und unsere Psyche haben. Man kann kein Gift trinken, ohne davon beeinflusst zu werden.
Und wenn mir mal etwas genauer hinsehen, dann leben wir gewissermaĂen alle mehr oder weniger in einer Art gesellschaftlichen Spaltung / oder anders ausgedrĂŒckt: in einer sogenannten Borderline-Gesellschaft.
Einerseits leben viele ein reiches, gesundes Leben in einer hoch technologisierten Umgebung. Andererseits wird aber die Kluft zwischen Ihnen und denjenigen, die unter Armut, Heimatlosigkeit durch Flucht, Drogenmissbrauch und psychischen Krankheiten leiden, immer gröĂer.
Allein in Deutschland flossen 81% des Vermögens 2020 und 2021 an das eine Prozent der Reichsten.
Auch weltweit ist in den vergangenen 100 Jahren eine Kluft entstanden, die surrealer gar nicht sein kann. Wir alle wĂŒnschen und trĂ€umen von einer gesunden, sicheren Welt und mĂŒssen dennoch einem wahnsinnigen Albtraum eines Atomkrieges oder einer immer realer werdenden Klimakatastrophe ins Auge sehen.
Als Folge davon kommt seit 2021 immer stĂ€rker das Wort âLast Generationâ auf. UrsprĂŒnglich ein BĂŒndnis von Aktivisten aus der Umweltschutzbewegung in Deutschland und Ăsterreich, wird es immer mehr zu einer allgemeinen Haltung und Bezeichnung fĂŒr die Jugend welche immer krasser / immer wĂŒtender (Kriterium Nummer 8) vorgeht, um auf ihre Ziele aufmerksam zu machen.
Das dies alles keine hohlen Worte sind mit der Klimakatastrophe, zeigte 2022 AntĂłnio Guterres (UN-GeneralsekretĂ€r) in einer Rede: âWir haben die Wahl: Kollektives Handeln oder kollektiver Suizid.â
All dies lĂ€sst uns logischerweise nicht unberĂŒhrt. Es zeigt aber auch die Symptome einer Borderline-Persönlichkeits-InstabilitĂ€t in unserer Gesellschaft. Unsere Welt wird immer instabiler und damit immer Borderliner.
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Der Preis all dieser nun angesprochenen sozialen VerĂ€nderungen hat einen groĂen Einfluss auf jeden Einzelnen von uns. Wir sind eine Gesellschaft voller Störungen in der inneren StabilitĂ€t geworden. Die Folge davon?
Stress kommt aus dem lateinischen Wortschatz âStringereâ und beschreibt, dass etwas in Spannung versetzt wird. Spannung selber beschreibt den Druck in einer elektrischen Ladung. Und was bewirkt dieser Stress, diese Spannung oder Druck nun bei uns? Andauernder Stress ist Ursache von Verspannungen, Kopfschmerzen, Verdauungsproblemen, Magenschmerzen, ZĂ€hneknirschen, Diabetes und Atemnot.
Stress wirkt sich ganz klar auf die Psyche, unser Denken und damit die innere StabilitĂ€t aus. Borderline ist âEmotionale InstabilitĂ€t (F60.30). Damit fördert Stress u.a. besonders Borderline.
Stress ist anerkanntermaĂen eine Hauptursache fĂŒr Burn-out, Depressionen, dass sich Menschen aus der Gesellschaft zurĂŒckziehen oder vermehrt zur Selbstmedikation wie z.B. Alkohol, Drogen aber auch Medikamenten greifen.
Wir mĂŒssen immer hĂ€ufiger der Tatsache ins Auge sehen, dass psychische Erkrankungen zum psychologischen Preis gehören, den wir alle als Gesellschaft zu bezahlen habenâŠ
Kapitel 2: Der Zusammenbruch unserer zersplitterten Gesellschaft â Kurze Zusammenfassung
Was Du aus diesem Kapitel mitnimmst: Dein praktischer Nutzen:
Jetzt wird es konkret! Du siehst nicht mehr nur das groĂe Bild, sondern erkennst die einzelnen Risse in unserem gesellschaftlichen Fundament. Du verstehst jetzt:
Der wichtigste Aha-Moment: Du erkennst jetzt die neun Borderline-Kriterien in der Gesellschaft wieder:
Du verstehst jetzt: Es ist nicht Deine Schuld, dass Deine Beziehung schwierig ist. Es ist nicht die Schuld Deines Partners. Die gesamte Gesellschaft wird immer “borderliner” â und ihr seid mittendrin.
Warum Du jetzt Kapitel 3 lesen solltest:
Okay, Du weiĂt jetzt, dass die Gesellschaft zerbricht und wie sie zerbricht. Aber warum fĂŒhlt sich alles so verdammt hoffnungslos an?
In Kapitel 3 tauchen wir ein in die groĂe Angst vor der Zukunft:
Du wirst verstehen, warum Zukunftsangst das Kriterium Nr. 1, 6, 7 und 8 so massiv befeuert. Und Du wirst erkennen, dass diese Angst nicht irrational ist â sie ist die logische Reaktion auf eine Welt ohne Hoffnung.
Das wird hart. Aber notwendig. Denn erst wenn Du die Angst verstehst, kannst Du spÀter lernen, ihr zu begegnen.
Also: Atme durch. Und lies weiter. Die Reise geht tiefer â aber sie fĂŒhrt Dich auch zur Lösung.Â
Was verstehen wir unter Zukunftsangst? Sie ist
Diese Furcht beobachten wir hĂ€ufig in Verbindung mit einer Borderline-Störung, da die âEmotionale InstabilitĂ€tâ und das negative Selbstbild oft zu ĂŒberwĂ€ltigenden / ĂŒberfordernden Ăngsten fĂŒhrt – ganz besonders bei der Vorstellung der Zukunft.
 Dies ist das dritte Kapitel ĂŒber das Thema âWerden wir alle immer Borderliner?â Nachdem wir uns in den Kapiteln 1 und 2 ĂŒber die VerĂ€nderungen in der Kultur und der Gesellschaft auseinandergesetzt haben, sprechen wir nun ĂŒber die Grundemotion Angst als Zeichen dafĂŒr, dass Borderline immer hĂ€ufiger zu beobachten ist.
Die Themen der zwischenmenschlichen Beziehungen, die VerÀnderung der Geschlechterrollen, die Familien und der Ausblick auf unser angefangenes Jahrtausend folgen in den spÀteren Kapiteln.
âMehr als die HĂ€lfte unserer Kinder und der jungen Erwachsenen hat Angst vor der Klimakrise â und zwar in einem so gravierenden AusmaĂ, dass es ihren Alltag massiv beeinflusst.â
Zu diesem Ergebnis kommt die bisher gröĂte wissenschaftliche Studie zum Thema “Klima Angst” bei jungen Menschen. Fast jeder 6. von 10 jungen Menschen (59 Prozent) im Alter von 16 bis 25 Jahren macht sich groĂe, ja sogar extreme Sorgen ĂŒber zukĂŒnftige Ereignisse z.B. ĂŒber den bevorstehenden Klimawandel.
Diese VerĂ€nderung in Bezug auf die Angst vor der Zukunft sehen wir bis in die Praxen der Psychotherapeuten. In den zurĂŒckliegenden fĂŒnf Jahrzehnten konnten wir eine bemerkenswerte VerĂ€nderung bei den psychischen Krankheiten feststellen:
Die Diagnosen verÀnderten sich nÀmlich stetig von damals hauptsÀchlich Symptomneurosen hin zu Charakterstörungen.
Symptomneurosen sind unverhĂ€ltnismĂ€Ăig starke Ăngste, die aber mit einer definierbaren Situation oder einem Objekt in Verbindung gebracht werden können (âIch weiĂ, wovor ich Angst habeâ).
Die Charakterstörungen beschreiben andererseits eher eine undefinierbare, eine flottierende Angst vor âirgendetwasâ.
Ein Psychiater beschrieb dies mal so:
âĂrzte und Therapeuten werden immer hĂ€ufiger von Patienten aufgesucht, die nicht in die bekannten diagnostischen Kategorien passen. Sie leiden nicht unter den bekannten, klar definierbaren Symptomen. Es sind eher vage und nur schlecht zu beschreibende Beschwerden⊠“Praktisch jeder heutige Therapeut weiĂ was ich damit meine.â
Seit den 1980er â Jahren sind diese Diagnosen derart hĂ€ufig geworden, dass Persönlichkeitsstörungen die klassische Neurose an Zahl ersetzen.
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Etymologisch betrachtet (griech. Das wahre / echte Wort) hat sich der Begriff Angst aus dem indogermanischen Wort âanghuâ (beengend) ĂŒber das althochdeutsche Wort âangustâ entwickelt. Verwandt ist es mit dem lateinischen Ausdruck âangustusâ. Dieses Wort steht fĂŒr âEnge, BedrĂ€ngnisâ. ⊠Mediziner erkennen hier sofort den Zusammenhang mit dem Begriff âAnginaâ der fĂŒr eine einengende Krankheit steht wie z.B. die Angina-Pectoris (Brust-Enge)
Angst engt ein. Angst bringt einen umgangssprachlich ausgedrĂŒckt in einen âSchwitzkastenâ. Diese Wortwendung verdeutlicht auch die körperliche Reaktion recht gut, dennÂ
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Angst zeigt sich im Körper unter anderem durch einen erhöhten Puls, eine Erweiterung der Pupillen und nach auĂen durch sichtbare Gesten wie z.B. HĂ€nderingen. Innerpsychisch bewirkt Angst u.a. ein GefĂŒhl des Entsetzens und Ausweglosigkeit.
Und dieses âEingefroren seinâ wird immer mehr zu einer allgemeinen Grundstimmung in der Bevölkerung.
Obwohl immer wieder von einer âGerman Angstâ gesprochen wird, ist es doch bemerkenswert, dass einer Studie zufolge ÂČ/3 der deutschen Bevölkerung wirklich von Grund auf Ă€ngstlich in die Zukunft blickt.
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Das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen wird immer geringer und die Angst vor einer gesellschaftlichen Spaltung immer gröĂer. Dies ist das Ergebnis einer tiefenpsychologisch reprĂ€sentativen Studie des Kölner Rheingold-Instituts aus dem Jahre 2021
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Angst ist aber nicht nur lĂ€hmend / einfrierend⊠Angst kann auch das Gegenteil bewirken: Angst kann einen so richtig antreiben âŠ
Wenn Menschen in Gefahr sind, werden sie durch die Angst manchmal zu Leistungen fÀhig, die ihnen unter normalen UmstÀnden absolut nicht möglich gewesen wÀren.
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Ich erinnere mich hier an die Studien der Psychologen Robert Yerkes (1876-1956) und John Dodson (1879-1955). Sie fanden heraus, dass ein âoptimales AusmaĂ an Anspannung und Angstâ unsere Sinne eher schĂ€rft, die Aufmerksamkeit und das GedĂ€chtnis steigert und damit ein problemlösendes Denken und Handeln fördert.
Der Begriff âoptimales MaĂâ zeigt aber auch, dass ein Zuviel an Angst die Leistung wieder in das Gegenteil verĂ€ndert, wie z.B. durch einen Blackout oder einen Tunnelblick.
Angst â besonders ein Zuviel an Angst â ist wirklich das, was das Wort im Grunde genommen ausdrĂŒckt: es engt einâŠ
Und dieses Einengen ist wie ein Gift fĂŒr einen Borderliner! Wo wir wieder bei unserem Thema sind. Borderline ist gekennzeichnet von einer dauerhaft vorhandenen flottierenden Angst.
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Gibt es soziale oder kulturelle Faktoren als Mitverursacher fĂŒr die Angst in unserer Gesellschaft? Eine Ursache hierfĂŒr ist mit Sicherheit, dass unser Kontakt oder der Bezug zur eigenen und auch zu einer gesellschaftlichen Vergangenheit immer weiter verloren geht.
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âLebe jetzt â genieĂe den Augenblickâ, das ist eine weit verbreitete, fast schon leidenschaftliche Haltung unserer Zeit geworden.
HSchon mal solche SĂ€tze wie
gehört?
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Was sich im ersten Moment eigentlich gar nicht so falsch anhört â denn was können wir schon den Vorfahren mit unserem Leben antun oder unseren Kindern Schlechtes zufĂŒgen â all das hat trotzdem doch eine gewaltige Konsequenz fĂŒr unser eigenes Leben! Denn genau durch solch eine Haltung verlieren wir immer schneller das GefĂŒhl, Teil einer geschichtlichen Linie zu sein.
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Ein stabiles GefĂŒhl – dass ich Teil einer Generationenfolge bin, die ihren Ursprung in der Vergangenheit hat und deren Leben sich in die Zukunft auswirkt – kommt dann gar nicht mehr auf.
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Ist das aber wirklich so schlimm? Fördert das denn nun wirklich Borderline?
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Borderline ist nach dem ICD-10 Teil der âEmotionalen InstabilitĂ€t F60.30â. Emotionale InstabilitĂ€t â das ist nun der besondere Begriff, dem wir einmal zuwenden sollten.
Verlieren wir nÀmlich immer öfter den Kontakt zu unserer geschichtlichen KontinuitÀt, dann wirkt sich dies sowohl auf den Blick in die Vergangenheit, aber auch auf unsere Zukunft aus! Wenn uns unsere Vergangenheit nicht mehr wichtig ist, dann wirkt sich dies zwangslÀufig auch darauf auf, wie wir die Zukunft wahrnehmen. Sie wird dadurch nÀmlich zu einer riesigen Unbekannten.
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Und wenn etwas unbekannt ist, dann wird aus Hoffnung schnell Angst⊠Vergleichen könnten wir dies mit einem schlammigen Morast. Einmal eingesunken hĂ€lt er einen âbombenfestâ. Ein Loslösen ist dann fast unmöglich.
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Habe ich den Blick fĂŒr die Vergangenheit und die Zukunft verloren â lebe ich also nur noch (!) im Jetzt â dann wird die Zeit lediglich in isolierten SchnappschĂŒssen wahrgenommen. Unsere Erfahrungen sind dann nicht mehr als eine logische, sich fortsetzende Ereigniskette. Alles ist dann irgendwie losgelöst von den Leistungen der Vergangenheit und hat auch keinen Bezug mehr zu einer eventuell schönen Zukunft.
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SpĂŒrst Du die Verbindung zu unseren heutigen Kommunikationsplattformen? Alles ist im Moment, hat keine Vergangenheit und auch keine Zukunft. Fast schon ironisch, dass eine dieser Plattformen sogar âSnapchatâ genannt wird. Hier kann man â wie neuerdings auch auf anderen Apps â bestimmen, wie lange die versendete Datei fĂŒr den EmpfĂ€nger sichtbar bleibt. Es lebe der Moment⊠Alles wird immer fragiler und kurzfristiger und damit zu einem NĂ€hrboden fĂŒr den Borderliner.
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Ja, unsere Welt wird immer globaler und hierdurch wird auch die Gefahr einer globalen Katastrophe immer realer.
Ich denke hier an
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All dies trĂ€gt entscheidend dazu bei, dass wir unseren Glauben an die Vergangenheit verlieren und immer mehr Angst vor der Zukunft haben. Und nicht umsonst sehen wir heute immer mehr Menschen, die von einem Weltuntergangsszenario sprechen â ein Beispiel hierfĂŒr ist hier u.a. die seit 2021 auftretende âLast Generationâ. Immer mehr Studien unter Jugendlichen und Kindern berichten von einer sich verĂ€ndernden Haltung. Sie sprechen von
Eine traurige Folge dieser Einstellung (âich kann meine Ziele sowieso nicht erreichenâ) ist, dass Selbstmord immer wieder als eine Lösungsmöglichkeit herangezogen wird, um mit der Angst vor einer drohenden Gefahr irgendwie fertig zu werden.â
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Eine andere, noch hĂ€ufiger zu beobachtende VerĂ€nderung ist, dass durch die allgemeine Angst vor einer herannahenden Weltkatastrophe Kinder immer frĂŒher zu frĂŒh erwachsen werden â eine ungewollte Progression an sich erfahren.
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Und genau dieses sehen wir auch durch die Bank weg bei vielen âPrĂ€âBorderline-Kindern“!
Warum? Weil sie in ihrer frĂŒhesten Kindheit oft schon dazu gezwungen werden, in einer instabilen familiĂ€ren Umgebung die Kontrolle ĂŒber den Haushalt zu ĂŒbernehmen, da die Eltern aufgrund ihrer eigenen emotionalen InstabilitĂ€t, z.B. wegen Alkoholmissbrauch oder anderen psychischen Störungen ihrem Kind keine Kontrolle mehr bieten können.
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Viele Eltern haben ja selber Angst! Angst vor und wegen der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und dem ewig schwebenden âDamokles-Schwertâ einer Klimakatastrophe und der immer mehr an Bedeutung gewinnenden KI im Alltag.
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Dieser Modus einer Dauerkrise kommt in der Studie âJugend in Deutschlandâ sehr deutlich zum Vorschein. Die sogenannte âGeneration Zâ (die zwischen 1995 und 2010 Geborenen) wird wegen der instabilen Zukunftsaussichten selbst immer unsicherer.
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Das SicherheitsgefĂŒhl – durch Corona bereits massiv angegriffen – ist jetzt noch stĂ€rker beschĂ€digt. Die Studie zeigt auch, dass sich viele ĂŒber einen Kontrollverlust ĂŒber ihr Leben beklagen. Hatten sie vor Corona noch einigermaĂen stabile Freundschaften, so haben diese unter der Isolation stark gelitten und damit war auch dieser wichtige RĂŒckhalt fĂŒr sie verloren.
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Dies alles hat deutliche Folgen:
Die psychische Belastung ist dermaĂen angestiegen, dass sich fast die HĂ€lfte der ĂŒber 1.000 Befragten unter Dauerstress und mehr als jeder Dritte unter dauerhafter Antriebslosigkeit sieht.
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Alles Zahlen, die wir nicht von der Hand weisen können. Jedoch aber auch Symptome, die wir bei Borderline sehen. Ich denke hier an das Kriterium Nummer 7: Das chronische GefĂŒhl der inneren LeereâŠ
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Ist das denn bereits Borderline? In Liedern wie âGiven Upâ von Linking Park, âFade to Blackâ von Metallica oder âTourniquet” von Evanescence sprechen die Songwriter immer wieder von der Hoffnung zu sterben, bevor sie alt werden.
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Dieses GefĂŒhl â âich werde sowieso nicht alt, so whatâ â geht immer mehr unter jungen Menschen umher. Vielleicht entsteht dadurch auch die Bereitschaft zu immer mehr AmoklĂ€ufen und hat damit die Angst vor der Zukunft in den vergangenen Jahren immer weiter erhöht.
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Und genau hier kommt Borderline wieder ins Spiel⊠Borderline fixiert die Orientierung der Betroffenen wie ein Laser einzig und allein auf das âhier und jetztâ. Borderline hat praktisch kein Interesse mehr an vergangenen Dingen. Man leidet fast schon unter einer kulturellen oder auch persönlichen Amnesie.
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Wer unter der Borderline-Symptomatik leidet, hat praktisch keinen Vorrat an angenehmen oder stĂŒtzenden Erinnerungen, die einem auch in schwierigen Situationen etwas Halt geben könnten. Wer sich aber nicht an gute Situationen erinnern kann, der ist traurigerweise dazu gezwungen immer wieder von neuem zu agieren. Er handelt dann nicht mehr zielbewusst, er agiert nur noch. Er ist praktisch permanent am âNeulernenâ und muss die Situation wie in einem Hamsterrad immer und immer wieder wiederholen.
Ich erinnere mich an den Film âUnd tĂ€glich grĂŒĂt das Murmeltierâ aus dem Jahre 1993 mit Bill Murray.
Schau dir aber auch mal das Video: âWarum passiert das immer nur mir?â an. Es zeigt den Unterschied zwischen Handeln und agieren. https://werdewiederstark.de/landing-page/beziehungswissen/wiederholungszwang-und-borderline-warum-passiert-mir-das-immer-wieder/
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Auf alle FĂ€lle! Wenn Eltern selber unter einer ĂŒberbordenden flottierenden Zukunftsangst leiden, dann sind sie höchstwahrscheinlich viel zu sehr mit ihren eigenen BedĂŒrfnissen beschĂ€ftigt (und das ist beileibe kein Vorwurf, sondern lediglich eine oft beobachtete Tatsache) sodass sie gar nicht mehr die Kraft dazu haben, sich ausreichend um die BedĂŒrfnisse ihrer Kinder kĂŒmmern zu können.
Kinder âmoderner Elternâ die sich
solche Eltern erziehen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unsere zukĂŒnftigen Borderline-Persönlichkeiten.
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Kapitel 3: Die groĂe Angst vor der Zukunft â Eine kurze Zusammenfassung
Jetzt verstehst Du bestimmt, warum diese lÀhmende Angst bei Borderlinern (und zunehmend in unserer gesamten Gesellschaft) so prÀsent ist. Du erkennst:
Der wichtigste Aha-Moment: Die flottierende Angst des Borderliners ist keine Ăbertreibung oder Manipulation. Sie ist die logische Reaktion auf eine Welt, die ihm keine Sicherheit mehr bietet. Du verstehst jetzt: Kriterium Nr. 1 (Verlassenwerden), Nr. 6 (Stimmungsschwankungen), Nr. 7 (Leere) und Nr. 8 (Wut). Diese haben alle ihre Wurzel in einerexistenziellen Zukunftsangst.
Du erkennst auch: Es ist nicht nur der Borderliner â wir alle werden von dieser gesellschaftlichen Entwicklung erfasst. Die Pandemie, die Klimakrise, die wirtschaftliche Unsicherheit â sie und viele weitere Krisen verstĂ€rken diese Dynamik exponentiell.
Weil du jetzt weiĂt, dass unsere Gesellschaft auseinanderbricht und warum Angst das dominierende GefĂŒhl geworden ist. Aber wie zeigt sich das konkret im Alltag? Wo siehst Du diese Dynamik jeden Tag? In Kapitel 4 wird es etwas persönlicher und noch praktischer:
Du wirst die Mechanismen verstehen, die Kriterium Nr. 2 (intensive, aber instabile Beziehungen) antreiben. Und Du wirst erkennen, wie die gesellschaftliche Fragmentierung direkt in Dein Schlafzimmer, Deine KĂŒche, Deine Beziehung eindringt.
Das wird unbequem. Du wirst Dich in manchen Beschreibungen wiedererkennen â vielleicht öfter, als Dir lieb ist. Aber genau deshalb ist es so wichtig: Nur wenn Du die Muster erkennst, kannst Du sie durchbrechen. Also: Atme durch. Und lies weiter. Deine Beziehung verdient es.Â
Das Wort Chaos kommt aus dem altgriechisch âchĂĄosâ der weite Raum und hat Etymologisch seine Herkunft von dem griechischen Verb âchaineinâ was klaffen oder dann klaffender Raum, gespaltener Raum bedeutet.
Chaos ist damit das Gegenteil von Kosmos, was den geordneten Raum darstellt.
Und da sind wir wieder bei unserem Thema Borderline â eine Spaltung in der PersönlichkeitâŠ
2018 sagte der russische PrĂ€sident Putin einmal: âDie Welt wird immer chaotischerâŠâ Er bezog sich dabei vor allem auf die politischen VerĂ€nderungen, die sich global abzeichneten.
Aber nicht nur die Politik, auch unsere Gesellschaft und hier die kleinste Einheit âdie zwischenmenschliche dyadische Beziehungâ unterliegt einem Wandel, der vor 100 Jahren noch kaum denkbar war.
In den vergangenen 100 Jahren, seit den AnfÀngen von Sigmund Freud, gab es unglaublich viele VerÀnderungen in unserer Gesellschaft. Mit die bekanntesten waren u.a. folgende:
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Den wohl gröĂten Einfluss auf unser heutiges Leben hat meines Erachtens jedoch die verĂ€nderte Sichtweise in Bezug auf sexuelle Moral und Praktiken aber auch die Rollenbilder von Mann und Frau. Gab es bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts noch ĂŒberwiegend die âviktorianische Sichtweiseâ in Bezug auf SexualitĂ€t â diese zeichnete sich durch strenge gesellschaftliche Konventionen und Tabus aus â so endete dies spĂ€testens mit den 1960er Jahren.
âFreie Liebeâ und âWilde Eheâ, das waren die neuen Schlagworte fĂŒr die kommenden Jahre.
Erst durch das verstĂ€rkte Aufkommen von sexuell ĂŒbertragbaren Krankheiten wie zum Beispiel AIDS (HIV), Gonorrhö, Herpes, Hepatitis B und C kam es in den Jahren ab 1980 (AIDS wurde ab 1981 zum ersten Mal in den USA als eine neue Krankheit bei vormals gesunden, jungen homosexuellen MĂ€nnern beschrieben) zu einer sexuellen Neuorientierung.
Die sexuelle Revolution war damit aber noch lange nicht vorbei! Es kam â wie gesagt â eher zu einem Umdenken. Heute gibt es eine deutlich gröĂere Akzeptanz und Anerkennung von verschiedenen sexuellen Orientierungen und IdentitĂ€ten, einschlieĂlich HomosexualitĂ€t und Transgender. Die wohl bekannteste Bewegung hierbei ist die bereits erwĂ€hnte LGBTQ Bewegung. Sie steht fĂŒr “Lesbian Gay Bisexual Transgender Queer”.
Die deutsche Ăbersetzung wĂ€re in etwa “Lesbisch Schwul Bisexuell Transgender Queer”. Damit können sich Personen identifizieren, die sich nicht in den eingeschlechtlichen und heterosexuellen Normen einkategorisieren lassen möchten.
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Eine weitere drastische VerÀnderung in unserem gesellschaftlichen Beziehungsaufbau ist das WIE und WODURCH Beziehungen heute zustande kommen.
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Ich denke hier an die enorme Verbreitung von sowohl Dating- und Partnerwebsites, aber auch an all die verschiedenen Kommunikations-Plattformen der sozialen Medien, die das KnĂŒpfen von persönlichen Kontakten so unglaublich leicht gemacht haben.
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Bin ich frĂŒher noch auf ein Stadt- oder Dorffest oder in eine Kneipe gegangen um neue Kontakte zu knĂŒpfen, so ist dies immer mehr âvergangenes Jahrtausendâ Jegliche Arten von Beziehungen â und da ist es egal ob es sich um einen harmlosen romantischen Flirt oder ein Sextreffen handelt – all diese können heute anonym, mit ein paar wenigen Mausklicks, einer Textnachricht oder einfach einem Wischen nach rechts oder links vom Handy aus begonnen werden.
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Diese ĂŒberall zur VerfĂŒgung stehenden Kontaktmöglichkeiten haben mit Sicherheit viele Vorteile⊠Aber allein die Möglichkeit zu haben, fĂŒhrt nicht immer und zwangslĂ€ufig zu moralisch guten Taten âŠ
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Es wird sich zeigen, ob die immer hĂ€ufiger werdenden Kontakte aus der Online-Welt die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Offline-Welt âstabilisierenâ oder alles in eine gefĂ€hrlichere InstabilitĂ€t abdriftet.
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Kann man hier denn schon von einem Chaos â also von einer Unordnung – sprechen? Das Wort Chaos kommt – wie im vorigen Kapitel beschrieben – aus dem altgriechischen Wort âChĂĄsmaâ und beschreibt ursprĂŒnglich eine Kluft oder einen Spalt. Können wir eine Spaltung in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen beobachten?
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Dadurch, dass immer mehr sich widersprechende KrÀfte sowohl aus der Offline- aber auch aus der Online-Welt auf Partnerschaften einwirken wie zum Beispiel
wird es fĂŒr den Einzelnen immer schwieriger, eine dauerhafte Freundschaft, eine romantische Liebesbeziehung oder eine lebenslange Ehe aufzubauen und zu pflegen.
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Laut dem statistischen Bundesamt werden Ehen, die vor weniger als 5 Jahren geschlossen wurden, deutlich hÀufiger geschieden als die davor geschlossenen.
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Zum Vergleich: In den 1920er und 1930er Jahren lag die Scheidungsrate in Deutschland bei ca. 1-2% der Ehen.
In den 1970er und 1980er Jahren stieg sie dann massiv an und erreichte einen Höhepunkt bei etwa 50%. Seit den 1990er Jahren hat sie sich dann auf dem Niveau von etwa 40 bis 45% eingependelt. Wobei man aber auch beachten muss, dass immer weniger Paare heiraten und damit die Vergleichbarkeit immer weniger gegeben ist.
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Warum aber scheitern so viele Partnerschaften â besonders beim Borderliner? Diese Frage wird immer wieder an mich herangetragen. Was ist meine Beobachtung? Am Anfang ist die Beziehung hĂ€ufig noch intensiv und voller Liebe: Wir wollen (!) den anderen nur positiv sehen.
Es ist jedoch nicht der Alltag, durch den Beziehungen scheitern. Auch nicht Langeweile oder die tÀgliche immer gleiche Routine. Es sind nicht die kleinen Streitigkeiten.
Partnerschaften scheitern erst, wenn es zersetzende Machtprozesse gibt, in denen man den anderen regelrecht aktiv bekÀmpft.
Diese MachtkĂ€mpfe / dieses sich aneinander reiben ist jedoch bereits von Anfang an da. Dies ist in jeder Beziehung so. Wir bekommen das anfĂ€nglich nicht mit! Denn da stehen wir noch zu sehr unter dem Einfluss von GlĂŒckshormonen wie dem Phenylethylamin.
Irgendwann kommt dann aber der Moment, an dem die Machtprozesse der Kontrolle entgleiten. Das passiert meist an einem kritischen Punkt, wenn der berĂŒhmte Tropfen das Fass ĂŒberlaufen lĂ€sst. Wenn es dann noch ein weiteres Problem gibt â etwa mit den Kindern, plötzlichen Krankheiten, einer Arbeitslosigkeit, pflegebedĂŒrftigen Eltern â bringt dies das vorher schon belastete Beziehungssystem endgĂŒltig zum Kippen.
Dann muss die Spannungsenergie irgendwie abgebaut werden und oft wird dann das nÀchstgelegene Ziel genommen: der Partner. Die Machtkonflikte radikalisieren sich dann in der Beziehung, indem plötzlich Entwertungen und Respektlosigkeit Einzug halten. Das ist der Punkt, an dem die Beziehung wirklich zerstört wird.
Ein Autor fasste all das einmal wie folgt sehr gut zusammen: âDa unser allgemeines soziales Leben immer kriegerischer und barbarischer wird, bleiben die persönlichen Beziehungen hiervon logischerweise nicht unberĂŒhrt. Heutige Partnerschaften – die eigentlich fĂŒr Frieden, einen sicheren Hafen vor all diesen UnwĂ€gbarkeiten der Gesellschaft stehen mĂŒssten – entwickeln sich dadurch immer mehr in zwischenmenschliche Kampfarenen. Â
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Traurigerweise – fast schon mit einem Schuss Ironie betrachtet – sind Menschen mit einer BorderlineâPersönlichkeit fĂŒr diese Art Beziehungskampf deutlich besser ausgerĂŒstet als andere. Warum ist dem so? Weil ihr Leben von frĂŒhester Jugend an von einem Ăberlebenskampf geprĂ€gt war. Sie sind im âBeziehungskampf” einfach geĂŒbter â fast schon âzu Hauseâ. In ihrem gespaltenen, widersprĂŒchlichen BedĂŒrfnis nach Kontrolle und Bestrafung (Liebe muss ja schlieĂlich weh tun âŠ) verbindet sich ein Borderliner dann hĂ€ufig mit einem KomplementĂ€rpartner â einem ihn beherrschenden Narzissten der es liebt, zu kontrollieren und idealisiert zu werden.
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Masochismus wird als eine Form der SexualitĂ€t beschrieben, in welcher jemand seine volle Befriedigung erst durch DemĂŒtigung, Schmerz oder Qual erfĂ€hrt. Können wir dies auch mit Borderline in Verbindung bringen? Lass uns mal schauen.
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Oft können wir beobachten, dass Frauen mit einer Borderline-Diagnose schon sehr frĂŒh in jungen Jahren ihr Elternhaus verlassen, um sich dann an einen Partner zu binden â einfach nur, um vor dem Chaos des hĂ€uslichen Familienlebens zu flĂŒchten.
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Dabei klammern sie sich auffallend hĂ€ufig an einen kontrollsĂŒchtigen Partner mit einer KomplementĂ€r-Störung. Mit ihm gehen sie dann eine Beziehung ein, welche die toxische Umgebung des eigenen Elternhauses aufs Neue zum Leben erweckt. âDenn schlieĂlich muss das, was sie von klein auf erfahren haben, doch irgendwie seine Richtigkeit gehabt haben.â Und wegen dieser falschen Richtigkeit wiederholen sie diese toxischen Beziehungen in ihrem eigenen Leben.
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Solch eine KomplementÀr-Partnerschaft zeichnet sich durch ein sado masochistisches Verhalten zueinander aus.
Sagt der eine ânoch ein Wort und ich schlage dich!â antwortet der andere âDanke, das kann ich gut gebrauchen.â Dieses Beziehungs-Chaos ist öfter zu sehen als es einem vielleicht bewusst ist.
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Ein kleiner Disclaimer am Rande:
Auch wenn ich hier vorwiegend von einer masochistischen Borderline-Frau und einem sadistischen Narzissten-Mann spreche, so kommt es doch vor, dass diese Rollen auch umgekehrt auftreten können. Dies geschieht jedoch sehr viel seltener. Nach der âGauĂschen Verteilungskurveâ tendiert die Frau eher zum Masochismus und der Mann zum Sadismus. Wohlgemerkt: tendiert!Â
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Masochismus ist im Zusammenhang mit Borderline jedoch so deutlich prÀsent, dass wir es nicht einfach von der Hand wischen können.
Immer wieder wird sichtbar, dass in Beziehungen mit einem Borderliner Schmerz und AbhĂ€ngigkeit ein wichtiges Thema ist. Frei nach dem Motto: âLiebe muss weh tun”, wie es Marianne Rosenberg schon gesungen hat.
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Aber warum ist das so? Warum kippt die Borderline-Persönlichkeit in einer Beziehung immer wieder auf diese masochistische Seite? Die Antwort liegt in ihrer Kindheit â da, wo Borderline entsteht.
Wer mit einer Borderline-Diagnose lebt, hat in seiner frĂŒhesten Jugend oft ein ĂbermaĂ an Schmerz und Verwirrung erfahren, wenn er oder sie versuchte, eine Beziehung zur Mutter aufzubauen.
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Ein kleiner Einschub: Ich spreche hier ganz bewusst von einem seelischen Missbrauch und komme spĂ€ter auf die wichtige Zeit im Alter von 12 bis 36 Monaten zurĂŒck. FĂŒr den Moment möchte ich nur zeigen, dass diese Zeit, wo das Kind lernt, seine eigenen Wege zu erkennen und die Art und Weise wie die Mutter das ambivalente Weggehen und ZurĂŒckkommen begleitet, entscheidend dafĂŒr ist ob sich eine Borderline-Persönlichkeit ausbildet oder nicht.
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Im weiteren Verlauf des Lebens, nachdem das Kind dann auf eigenen FĂŒĂen steht, greifen dann andere Personen bzw. Partner wie zum Beispiel der Ehepartner, Freund, Lehrer, Arbeitgeber in diese Beziehungswunde.
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Die andauernde Kritik, Missachtung, Misshandlung – vielleicht auch ein weiterer Missbrauch â all das bestĂ€rkt den Betroffenen, in dem Gedanken als Mensch völlig wertlos zu sein. Die stĂ€ndige Kritik der Eltern hört einfach nicht auf und wird wie zu einem Lebensmotto â einem Titel in einem völlig absurden TheaterstĂŒck.
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Borderline â das sollte hier erwĂ€hnt werden – hat jedoch nicht zu 100% und nicht immer zwangslĂ€ufig die Neigung zum Masochismus. Hin und wieder kippt es auch in eine Form des Sadismus um.
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Ich durfte eine Zeitlang einen GeschĂ€ftsmann begleiten, der ein Kind mit einer Frau hatte, die aus dem Prostitutionsmilieu kam. In den Sitzungen war sie zuerst das masochistische Opfer, das sich aber im Laufe der Beziehung innerhalb weniger Wochen und Monate in eine immer sadistischer werdende Person verwandelte. Frei nach dem Motto: âIch provoziere dich so lange, bis Du mich schlĂ€gst. Dann kann die ganze Welt endlich sehen, was fĂŒr ein schlechter Mann Du bist und wie sehr ich unter Dir leide.â
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Wer hier gerade Opfer und wer TĂ€ter war, das war hĂ€ufig nicht so leicht zu unterscheiden âŠ
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Eigentlich könnte man doch annehmen, dass â wenn jemand in einer Beziehung immer und immer wieder erniedrigt, geschlagen oder anderweitig denunziert wird â dass so jemand dem âPartnerâ schnell den RĂŒcken kehrt und ein neues Leben weit weg von ihm fĂŒhren möchte â doch weit gefehlt. Denn wenn auch eine solche Beziehung offensichtlich ins krankhafte / pathologische abgleitet, so kommt der BorderlineâPartner in der Regel immer wieder zurĂŒck, um die Bestrafung weiter ĂŒber sich ergehen zu lassen. Kriterium Nr. 1.
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Warum aber tut er dies?
Nun, hier spielt ihm und auch uns allen unser Gehirn offensichtlich immer wieder denselben Streich. Ich möchte dieses mal mit dem 2. Gesetz / dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik erklĂ€ren. Platt ausgedrĂŒckt lautet dieser: Ein kalter Gegenstand kann einen wĂ€rmeren nicht wĂ€rmer machen.
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Auf das Lernen unseres Gehirns könnten wir dies nun folgendermaĂen ĂŒbertragen:
Hat unser Gehirn fĂŒr ein Problem erst einmal eine Lösung erarbeitet, dann weicht es hiervon nur sehr ungern und gegen viele WiderstĂ€nde / Abwehrmechanismen ab. Das geschieht auch dann, wenn die Lösung jedem â auch dem Betroffenen – völlig widersinnig erscheint!
Nehmen wir das Beispiel, dass ein kleines MĂ€dchen â sagen wir mal, dass es zwei Jahre alt ist â seine Eltern streiten sieht. Sie reagiert hier zum Beispiel indem es vor Furcht âeinfriertâ.
In diesem âFreeze-Zustandâ âĂŒberlebtâ sie in den spĂ€teren Jahren dann so manchen Streit in ihrer Umgebung. Ihr Gehirn hat also eine Lösung fĂŒr diese angstauslösenden Situationen gefunden und möchte nun ein Leben lang bei diesem Lösungsweg bleiben â auch wenn es im spĂ€teren Erwachsenenalter ganz anders darĂŒber denkt âŠ
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Auf den Borderliner ĂŒbertragen sĂ€he unser Vergleich nun so aus:
Das Kind sieht seine Eltern von frĂŒhester Kindheit an immer wieder böse streiten und erlebt vielleicht noch Schlimmeres. Wichtig hierbei ist: es kennt diese Situation nicht anders!
Und auch wenn ihm das alles viel Angst bereitet hat, so war dies seine âalte Sicherheitâ, weil es immerhin eine ihm bekannte Situation war. Die Betonung liegt hier auf dem Begriff âes war ihm bekannt und gab ihm dadurch Sicherheitâ.
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Befindet er sich nun in einer Ă€hnlich aggressiven Bindung / Partnerschaft, so flieht sein âgesunder Anteilâ aus der Beziehung. Der âkranke bzw. Borderline-Anteilâ kommt aber immer wieder zurĂŒck, da ihm diese aggressive Stimmung aus der Kindheit bekannt ist und ihm ein gewisses MaĂ an Sicherheit gibt â auch wenn diese Sicherheit vollkommen widersinnig und unlogisch ist.
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Die Bestrafung, das Schreien und eventuell auch die körperliche Misshandlung sind ihm ja bekannt. Und weil dies alles bekannt ist, bewirkt dies bei ihm ein angenehmes GefĂŒhl. Wir alle wissen, dass angenehme GefĂŒhle sich viel leichter hantieren lassen als so etwas Unangenehmes wie Einsamkeit oder das Leben mit einem anderen, vielleicht noch unbekannten Partner.
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Wie geht der Borderliner mit seiner Angst vor einer Einsamkeit um?
Wir beobachten bei den heute immer öfter vorkommenden emotional instabilen Beziehungen ein neues Handlungsmuster â und zwar, dass des sich âĂŒberkreuzenden Lebenspartnersâ. Die alte Beziehung ist zwar noch aktiv, die neue jedoch bereits im Aufbau. Man wechselt von dem einen âwarmen Bett in das andereâ. Es ist der Wunsch danach, eine neue Beziehung einzugehen, bevor die Aktuelle beendet wird.
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Das erinnert einen doch an die Kriterien Nummer 1 und 2 der Borderline-Persönlichkeitsstörung:
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Es ist Àhnlich wie beim Klettern im Berg. Auch da wird der eine Haltegriff erst dann losgelassen, wenn man den NÀchsten fest in der Hand hat.
Genauso verlĂ€sst der Borderliner den aktuellen Partner erst dann, wenn ein neuer âRetterâ zumindest in Sicht- oder Reichweite ist.
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Schauen wir mal ein wenig in die Vergangenheit zurĂŒck â bis zu den AuslĂ€ufern der viktorianischen Epoche von 1837 bis 1901⊠Durch die beiden Weltkriege unterbrochen, âflackertenâ ihre Moralvorstellungen kurz noch einmal in den Nachkriegsjahren bis etwa 1960 auf.
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Ihnen folgten dann die 60er und die 70er Jahre mit der Studentenbewegung und der sexuellen Revolution. Die Pille ermöglichte damals auf einmal Sex ohne die Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft. Alles â inklusive der SexualitĂ€t – war auf einmal weniger stark strukturiert. Alles schien auf einmal völlig neuen Regeln, Normen und Freiheiten zu unterliegen.
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Solche normenlosen Beziehungen, wie sie hierdurch nun Gang und GĂ€be wurden, sind fĂŒr die BorderlineâPersönlichkeit jedoch viel viel schwieriger zu HĂ€ndeln.
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Auch wenn es sich nun sonderbar fĂŒr dich anhört, aber eine gröĂere Freiheit und eine fehlende Struktur sind fĂŒr den Borderliner wie eine Strafanstalt. Warum? Weil sie durch ihre Emotionale InstabilitĂ€t (F60.30) stark auf das Wertesystem von auĂen angewiesen sind. Sie sind klar im Nachteil, wenn es darum geht, sich fĂŒr ihr eigenes Leben ein Wertesystem mit Transzendentien zu schaffen. FĂŒr Ihre Werte, ihre Leitlinien und Visionen orientieren sie sich fast ausschlieĂlich an Ihrer Umgebung. Wenn dann die Umgebung oder die Gesellschaft nun mit EinschrĂ€nkungen kommt, die normalerweise viele von uns einengen und belasten wĂŒrden, so sind diese ironischerweise fĂŒr den Borderliner sogar therapeutisch wirksam. Als zum Beispiel Ende der 1980er Jahre wegen immer hĂ€ufiger vorkommender sexuell ĂŒbertragbarer Krankheiten (STI â Sexually Transmitted Infections) wie zum Beispiel AIDS ein Umdenken und ein sexueller RĂŒckzug in der Gesellschaft aufkam war dies ironischerweise fĂŒr die BorderlineâPersönlichkeit wie eine therapeutische StĂŒtze. Diese Ăngste vor einer tödlichen Infektion zwangen einen, deutlich strengere Grenzen einzuhalten als vorher.
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Das Kriterium Nummer 4 bei der Borderline-Diagnose lautet: âMindestens 2 potentiell selbstschĂ€digende Handlungen und starke ImpulsivitĂ€t.â Die sexuelle ImpulsivitĂ€t bis hin zur PromiskuitĂ€t haben durch die immer hĂ€ufiger aufkommenden Geschlechtskrankheiten dramatische gesundheitliche Konsequenzen bekommen â sogar lebensbedrohliche. Sich davon nun zu distanzieren entspricht einer Ă€uĂeren Struktur und kann einem dabei helfen, sich vor seiner SelbstschĂ€digung zu schĂŒtzen.
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Ganz nebenbei gesagt: Sich von ihnen fernzuhalten ist auch wirklich dringlicher denn je. Denn tĂ€glich (!) stecken sich laut der WHO (der Weltgesundheitsorganisation) ungefĂ€hr 1 Millionen Menschen mit einer STI â Geschlechtskrankheit an (Stand 2023).
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Die Zahlen sind einfach zu groĂ um darĂŒber hinweg zu sehen:
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Der Borderliner profitiert hierbei wirklich von den sich daraus ergebenden EinschrĂ€nkungen â weil er in seiner Strukturbildung auf Hilfe von auĂen angewiesen ist.
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Werden unsere Beziehungen also immer chaotischer?
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Die einzelne Beziehung / vielleicht auch Deine mag ja noch von Bestand sein. Unsere Gesellschaft verÀndert sich jedoch in einer Geschwindigkeit, die einen fast schon schwindelig macht. Borderline ist meines Erachtens die logische Folgerung hieraus.
Waren wir im ersten Schritt noch eine perfektionistische Gesellschaft â immer auf Hochglanzbilder in den sozialen Medien bedacht – so fĂŒhrte dieses Streben nach einer Perfektion, um von anderen als gut beurteilt zu werden, zu einer Epidemie der âEmotionalen Unsicherheit.â
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Die pathologische Steigerung von einer âEmotionalen Unsicherheitâ ist nach dem ICD 10 F60.30 die âEmotionale InstabilitĂ€tâ. Wie diese voneinander zu differenzieren ist, das zeige ich in einem spĂ€teren Kapitel.
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Zusammenfassung Kapitel 4: Unsere Beziehungen werden immer chaotischer
Dieses Kapitel hat uns gezeigt, warum moderne Beziehungen so instabil geworden sind und wie genau das mit Borderline zusammenhĂ€ngt. Wir konnten verstehen, dass die gesellschaftlichen UmbrĂŒche der letzten Jahrzehnte â von der sexuellen Revolution ĂŒber Dating-Apps bis zur Auflösung traditioneller Strukturen â besonders fĂŒr Menschen mit Borderline eine enorme Herausforderung darstellen.
Der praktische Nutzen liegt darin, dass wir nun erkennen:
Diese Einsichten helfen uns, unsere eigenen Beziehungsmuster oder die unserer Umgebung nicht mehr nur als Problem zu sehen, sondern als logische Reaktion auf eine immer chaotischer werdende Welt.
Ausblick auf Kapitel 5: Wann ist ein Mann noch ein Mann?
Im nÀchsten Kapitel wird es noch konkreter. WÀhrend Kapitel 4 den allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen beschrieben hat, tauchen wir jetzt tief in die Geschlechterrollen ein.
Wir erfahren, warum besonders Frauen dreimal hĂ€ufiger von Borderline betroffen sind als MĂ€nner und welche Rolle die widersprĂŒchlichen Erwartungen an moderne Frauen dabei spielen. Das Kapitel zeigt, wie der Spagat zwischen Karriere, Familie und Perfektion direkt in die emotionale InstabilitĂ€t fĂŒhren kann. AuĂerdem werden wir verstehen, wie die neuen sexuellen Orientierungen und die Gender-Debatte zur IdentitĂ€tsverwirrung beitragen â ein Kernkriterium der Borderline-Diagnosen. Dieses Wissen ist essentiell fĂŒr das tĂ€gliche Leben. Denn nur wer die Ursachen versteht, kann auch wirksam behandeln.Â
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âAch ⊠was war die Welt frĂŒher doch noch so einfach⊠Alles war irgendwie ĂŒberschaubar und simpel.â  Kennst Du diesen Satz đ? Vielleicht hast du ihn sogar schon selber des Ăfteren gesagt?
Und ja, vieles war auch einfacher, oder besser gesagt ĂŒbersichtlicher:
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts gab es noch deutlich weniger soziale Rollen als heute und die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau war klarer festgelegt. Aber wie sah das âdamalsâ eigentlich aus?
Nun, die Mutter kĂŒmmerte sich um die familiĂ€ren InnenaktivitĂ€ten â sie war der reproduktive Teil des Paares – und sie kĂŒmmerte sich hauptverantwortlich um die Kindererziehung.
Alle Themen, die mit dem AuĂen irgendwie in Verbindung standen – wie zum Beispiel Schule, Hobbys und GemeindetĂ€tigkeiten – entstanden dann auf ganz natĂŒrlichem Wege aus dieser Rolle der Mutter heraus.
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Und was war beim Vater so ĂŒblich? Bei ihm war es ebenfalls klar geregelt: Er kĂŒmmerte sich um die AuĂenaktivitĂ€ten â war eher der produktive, neu erschaffende Part der Familie. Seine Rollenmuster von Beruf und Gemeindeaufgaben waren eigentlich perfekt mit denen seiner Frau kombinierbar.
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Heutzutage ist es eher nicht mehr so. Wir unterscheiden immer hĂ€ufiger zwischen einer traditionellen und einer egalitĂ€ren Sichtweise dieser Rollenmuster. Die traditionelle Rollenverteilung haben wir eben schon angesprochen â die Aufteilung zwischen dem AuĂen und dem Innen.
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Bei dem egalitĂ€ren GeschlechterrollenverstĂ€ndnis spielen die Aufgaben, die dem Mann oder der Frau in ihrer Partnerschaft zufallen – zuerst einmal eine untergeordnete Rolle. Diese Anforderungen werden eher gleichberechtigt zwischen den Beiden aufgeteilt. So etwas wie eine geschlechtsspezifische Zuordnung – analog der traditionellen Vorgehensweise – findet hier nicht statt.
Beide Partner sind wirtschaftlich eher unabhĂ€ngig voneinander und es wird auch gefordert, dass â wenn die Frau berufstĂ€tig ist – sich hieraus fĂŒr die Kinder keine Nachteile ergeben. Das ist das, was wir als ein emanzipiertes Rollenbild der Frau beschreiben könnten.
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In der Theorie / auf dem Blatt Papier liest sich das alles recht simpel und dĂŒrfte nicht zu einer VerstĂ€rkung der Borderline-Gesellschaft beitragen âŠ
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Wie sieht die Umsetzung jedoch in der Praxis aus? Können wir eine EgalitĂ€t (dieser Begriff kommt ursprĂŒnglich aus dem lateinischen Wortschatz. âAequalisâ und bedeutet âeben / gleichâ) in unserer komplexen, modernen Gesellschaft ĂŒberhaupt leben? Nun, Fakt ist, dass wir heute von einer gröĂeren Zahl an sozialen Rollen konfrontiert werden, von denen viele gar nicht ganz so einfach miteinander harmonieren.
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Eine berufstĂ€tige Mutter zum Beispiel hat mindestens zwei klar voneinander abgegrenzte Rollen, die nicht so leicht zu handhaben sind. Um beiden Rollen dann doch irgendwie gerecht zu werden, muss sie sich abgrenzen / praktisch âaufspaltenâ. Arbeitsplatz und Haushalt sind nĂ€mlich in den seltensten FĂ€llen am rĂ€umlich selben Platz. Und der Arbeitgeber verlangt ja auch zu Recht fĂŒr seinen gezahlten Arbeitslohn eine ihm erbrachte eingeforderte Arbeitsleistung.
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Die Folge davon ist, dass sehr viele MĂŒtter immer wieder mit SchuldgefĂŒhlen konfrontiert werden, wenn Probleme aus dem privaten Bereich (zum Beispiel, wenn ein Kind krank wird) Auswirkungen auf ihren Beruf haben. Und solche SchuldgefĂŒhle finden wir sehr hĂ€ufig bei einer Borderline-Diagnose.
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Auch fĂŒr den berufstĂ€tigen Mann und Familienvater haben sich die Rollen im Hinblick auf den Beruf und das Zuhause geĂ€ndert. Sie sind deutlich getrennter als noch vor einem Jahrhundert. Damals waren die MĂ€nner mit Ihrer Arbeit mehr am eigenen Hof, dem eigenen örtlichen Lebensmittelladen oder einem Handwerksbetrieb vor Ort verbunden. Wo gelebt wurde, da wurde auch gearbeitet und umgekehrt. Das war einfach und ĂŒbersichtlich.
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Heute sieht dies jedoch komplett anders aus⊠Nach Angaben der Bundesagentur fĂŒr Arbeit pendelt jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland und benötigt mindestens (!) 30 Minuten oder mehr fĂŒr den einfachen Weg zur Arbeit. Das sind also tĂ€glich mindestens 1 Stunde Lebenszeit fĂŒr sich selbst und die Familie weniger.
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Und anstatt dass sich dies verringert, steigt diese Zahl stĂ€ndig an. In den vergangenen zwei Jahrzehnten seit der Jahrtausendwende hat sich die Zahl der Fernpendler (>150 km fĂŒr den einfachen Arbeitsweg) um 30% erhöht. Das alles ist Zeit, die einem fĂŒr das Familien- oder Privatleben fehlen.
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ZusĂ€tzlich wird von einem modernen, egalitĂ€ren Vater noch mehr erwartet, wie zum Beispiel, dass er sich stĂ€rker und aktiver an den Aufgaben in der Familie beteiligt. Das dies dann zu weiteren Konflikten fĂŒhrt, liegt auf der Hand: Weniger Zeit und mehr Aufgaben sind schlieĂlich selten eine gute Strategie.
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In den letzten hundert Jahren gab es bei der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau sehr starke VerĂ€nderungen â ich denke, dass wir uns bis hierhin einig sind. Diese VerĂ€nderungen haben einen nicht zu ĂŒbersehenden Zusammenhang dazu, dass besonders bei Frauen immer mehr eine BorderlineâPersönlichkeitsstörung zu beobachten ist.
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Solch einen Gedankengang möchte ich jetzt aber ausdrĂŒcklich nicht als Dogma / Behauptung im Raum stehen lassen, sondern im Folgenden auch gerne erklĂ€ren. In der Vergangenheit war die Rolle einer Frau – grob zusammengefasst – dass sie nach ihrer Heirat die Kinder zur Welt bringt und diese auch erzieht. Sie war die âChefin des Haushaltesâ und sah hierin ihre Lebens-Karriere. Dies wurde von der Gesellschaft zum einen so erwartet, aber sie bekam hierfĂŒr dann auch eine gebĂŒhrende Anerkennung. Zuhause gab es einen klaren Chef â die Frau.
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Wie viel komplizierter ist es doch heuteâŠ
Eine junge Frau steht vor einer immer gröĂeren Zahl von Rollenmodellen und Erwartungen an sie.
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Diese Anforderungen können selbst das stabilste GemĂŒt aus dem Takt bringen, sodass immer mehr Frauen unter dieser gröĂer werdenden Last zusammenbrechen. Dieser Zusammenbruch kann sich dann auf verschiedene Weise zeigen:
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Und wenn wir mal genauer hinsehen, dann können wir genau dies heute immer deutlicher erkennen:
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Immer mehr Frauen pendeln vom Perfektionismus hin zur âEmotionalen Unsicherheit (âWarum schaffen es alle anderen und nur ich nicht?â und anschlieĂend von der âEmotionalen UnsicherheitÂŽâ zur âEmotionalen InstabilitĂ€tâ die – aufgrund ihrer Pathologie – dann im ICD als Persönlichkeitsstörung (F60.30) aufgefĂŒhrt wird.
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Nicht nur die Frauen mĂŒssen sich heute mit den neuen Rollenbildern auseinandersetzen ⊠Auch die MĂ€nner haben so ihr eigenes PĂ€ckchen an VerĂ€nderungen zu tragen. Bei Ihnen sind die neuen Verantwortungen jedoch bei Weitem nicht so stark und auch nicht so widersprĂŒchlich ausgeprĂ€gt wie bei den Frauen.
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FrĂŒher wurde ein Vater, der sich Urlaub nahm, um seinen Kindern beim FuĂballtraining zuzuschauen, noch als jemand betrachtet, der sich davor drĂŒckt, fĂŒr seine Familie zu sorgen. Ja, er wurde dafĂŒr regelrecht kritisiert. Und heute? Heute wird von den VĂ€tern genau das Gegenteil erwartet!
Anstatt Kritik fĂŒr das Stehen am FuĂballfeld sollen sie sogar einen deutlich gröĂeren Anteil an der Kindererziehung, den FreizeitaktivitĂ€ten und dem Haushalt haben als frĂŒher.
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Aber seien wir hierbei mal realistisch. Im Vergleich zu den verĂ€nderten Rollenbildern der Frau passen diese neuen Rollenbilder immer noch deutlich besser zu der Rolle eines âFamilien-Versorgersâ der alten Zeit. Denn so stark sind die VerĂ€nderungen ja auch nicht. Und trotz der relativ geringen VerĂ€nderung, findet man heute immer noch recht selten einen Mann, der seine Karriere aufgibt, um als âHausmannâ daheim zwischen Kindern, SpĂŒl und WĂ€sche Karriere zu machen. Ăblicherweise wird dies in unserer Gesellschaft auch immer noch nicht von ihm, sondern eher von der Frau erwartet.
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Bereits jetzt können wir schon mal die Behauptung in den Raum stellen, dass sich die MÀnner in den Beziehungen deutlich weniger anpassen mussten als die Frauen.
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Kommt es jedoch zu einer Trennung, dann treten traurigerweise die VĂ€ter wieder in den Mittelpunkt. Dann auf einmal wollen viele VĂ€ter doch noch ein Mitspracherecht in der Kinderbetreuung und Kindererziehung, was dann jedoch in langen âTrennungsschlachten” von den MĂŒttern vor Gerichten in Frage gestellt wird.
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Diese vielen VerĂ€nderungen in den Rollenbildern zwischen Mann und Frau haben Sieger und Verlierer hinterlassen. Und obwohl die Frauen durch die Feminismusbewegung viele Ihrer sozialen und beruflichen Ziele erreicht haben, mussten Sie dafĂŒr einen höheren Preis als die MĂ€nner zahlen. Sogenannte âtraditionelleâ Erwartungen erzeugen einen enorm hohen Druck.
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Ein Mann muss sich in der Regel nicht zwischen Karriere, Familie und Kindern entscheiden. Solche Entscheidungen sind eine groĂe Belastung! Sie erzeugen groĂen Druck in Bezug auf die eigenen Lebensziele, ihre IdentitĂ€t und WĂŒnsche.
Darum ist es bestimmt auch gut nachvollziehbar, dass Frauen gegenĂŒber der BorderlineâPersönlichkeitsstörung deutlich anfĂ€lliger sind.
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Viele Menschen heiraten, weil ihnen diese traditionelle Aussicht auf eine sichere und stabile Beziehung bis zum Lebensende immer noch sehr gut gefÀllt.
Das Konzept einer lebenslangen Ehe hat sich jedoch stark verĂ€ndert – und damit wurde viel Verwirrung in der Gesellschaft eingefĂŒhrt. Die traditionelle Ehe zwischen einem Mann und einer Frau â so wie wir sie von der westlichen Kultur her kennen – wurde wĂ€hrend der letzten Jahrzehnte stark in Frage gestellt. Die Zahl der EheschlieĂungen sank in Deutschland 2021 auf einen historischen Tiefstand.
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Nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes haben 2021 nur noch rund 350.000 Paare geheiratet. Das waren 4,2 % weniger Ehen als noch im ersten Corona-Jahr 2020. Und in diesem Jahr lag die Zahl bereits um 10,3 % unter dem Vorjahr. Weniger EheschlieĂungen gab es auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik lediglich wĂ€hrend des Ersten Weltkriegs von 1915 bis 1918.
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Jedoch gehen nicht nur die EheschlieĂungen zurĂŒck. Auch das VerstĂ€ndnis, was eine Ehe ausmacht, steht in einem neuen Bild. Die Ehe war ĂŒber Jahrhunderte in der Tradition ein heterosexuelles BĂŒndnis zwischen einem Mann und einer Frau.
Das Wort hetero kommt aus dem altgriechischen und bedeutet âanders, verschiedenâ.
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Was ist nun neu? Was hat sich an diesem Bild der Ehe verÀndert?
Gab es bis 2007 in Deutschland noch 10.000 eingetragene Lebensgemeinschaften, so waren es nur 10 Jahre spÀter (2017) bereits 30.000.
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In den Jahren 2012 und 2022 wurden in den USA ĂŒber 12.000 Menschen durch das Gallup Institut befragt, ob sie sich mit LGBT (Lesbisch, Gay, Bisexuell, Transsexuell) identifizieren oder nicht. 2022 gaben 7,1% der Befragten an, LGBT zu sein. Das sind doppelt so viele wie 10 Jahre zuvor. Von den Befragten machten die 18 bis 25 JĂ€hrigen den höchsten Wert mit knapp 21 Prozent aus.
Im Jahr 2017 waren es in der gleichen Umfrage noch 7 %.
In der nĂ€chsten Altersgruppe â bei denjenigen zwischen 26 und 41 Jahren bekannten sich 10,5 % zu einer LGBT-IdentitĂ€t.
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Seit dem 01.11.2000 gab es in Deutschland dann die rechtliche Anerkennung der eingetragenen Lebensgemeinschaften und seit dem 01.10.2017 dĂŒrfen gleichgeschlechtliche Ehen durch das Eheöffnungsgesetz auch standesamtlich geschlossen werden.
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Diese gewonnene Freiheit mĂŒsste doch eigentlich zu mehr Ruhe und Frieden in den neuen Geschlechterrollen gefĂŒhrt haben, oder? Leider ist jedoch eher das Gegenteil hiervon eingetreten, denn diese Anerkennung und Legalisierung hat die öffentliche Debatte eher angeheizt und nicht entschĂ€rft.
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HomosexualitĂ€t und die gleichgeschlechtliche Ehe haben sich bei der beobachteten gesellschaftlichen Polarisierung des Landes zu immer zentraleren Themen entwickelt. In Deutschland zum Beispiel ist die politische Partei der AFD strikt dagegen. Ihre Klage befindet sich seit Oktober 2018 im Bundestag. Und sie ist hier keine diskutierende Randgruppe mehr. Die AFD erhielt 2017 und 2021 jeweils ĂŒber 10% der WĂ€hlerstimmen und ihre Themen durchziehen immer mehr die Meinungsbildung der Gesellschaft. Der aktuelle Stand im Jahr 2025 liegt bei 20,6% der Erststimmen in der Bundestagswahl.
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Durch all diese neuen Freiheiten ist leider keine Ruhe in unserer Gesellschaft eingetreten. Und wo keine Ruhe ist, da sind fĂŒr Borderline alle Tore offen.
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Borderline wird im Katalog der Krankheiten â dem ICD 10 – in der Gruppe der âEmotionalen InstabilitĂ€tâ F60.30 eingeordnet. Da diese Störung sehr eng mit einer InstabilitĂ€t in Verbindung steht, mĂŒsste das Gegenteil von Borderline ja StabilitĂ€t sein. Und genau das sehen wir auch in der Praxis.
Ăberall wo es StabilitĂ€t, BestĂ€ndigkeit, StĂ€rke und Ruhe gibt, ist Borderline eher selten und im Hintergrund.
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Schauen wir uns â beim Thema âneue Geschlechterrollen” – mal die VerĂ€nderungen in der sexuellen Orientierung an.
Hier hat sich nĂ€mlich vieles geĂ€ndert und zu einer weiteren Verwirrung beigetragen. Und Verwirrung â dieses Wort steht fĂŒr Planlosigkeit, Chaos, Unruhe, Panik etc. â ist ein wichtiger Entstehungsfaktor der Borderline-Persönlichkeit.
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Viele Jahrhunderte lang war das Thema HomosexualitĂ€t abhĂ€ngig von der jeweiligen Zeit, Kultur und Gesellschaft ein in sich widersprĂŒchliches, gegensĂ€tzliches Thema. Es wurde so kontrovers diskutiert wie kaum etwas anderes. Konnte es der Eine noch akzeptieren war es fĂŒr andere bereits eine SĂŒnde die im extremen Fall sogar eine Todesstrafe nach sich ziehen sollte.
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Bis 1969 stand mĂ€nnliche HomosexualitĂ€t in Deutschland noch unter Strafe! Im Reichsstrafgesetzbuch von 1882 gab es den Paragraphen 175, der mit GefĂ€ngnis und auch dem Entzug von bĂŒrgerlichen Ehrenrechten drohte.
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Bis in die 1990er Jahre (31.05.1994) wurde dieser Paragraph in Deutschland noch angewendet. Eine kleine Anfrage aus dem Jahr 1992 ergab, dass 1990 auf dem Gebiet der âAlten Bundesrepublikâ in 125 Verfahren 96 Personen auf dieser Grundlage verurteilt wurden. Erst durch die Wiedervereinigung kam es dann spĂ€ter im Jahre 1994 zur Streichung aus dem StrafgesetzbuchâŠ.
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Das war jetzt nur mal die juristische Seite. Wie sieht es aber auf der psychologischen, der therapeutischen Seite aus? Hatten wir hier eher StabilitĂ€t oder gab es auch hier eher Verwirrung? Nun, vor 1991 war HomosexualitĂ€t in der Psychodiagnostik noch ein hĂ€ufiges Thema, jedoch mit einem recht merkwĂŒrdigen Hintergrund:
Man versuchte nĂ€mlich medizinisch zu klĂ€ren, woher diese Neigung kommt und was anscheinend âfalsch gelaufen sein mussteâ, dass sie ĂŒberhaupt entstehen konnte. Dieses sogenannte âkranke Verhaltenâ bemĂŒhte man sich dann psychotherapeutisch zu verĂ€ndern â mit dem Ziel, dass der Patient kĂŒnftig ein heterosexuelles Verhalten an den Tag legt.
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Seit den 70er und in den 80er Jahren wurde HomosexualitĂ€t dann langsam âEntpathologisiertâ â d.h. es wurde ihm sein Krankheitsbild abgesprochen.
1987 wurde sie erst aus dem DSM-3-R und 1991 dann aus dem ICD-10 gestrichen. Damit war HomosexualitĂ€t in der âNormalitĂ€tâ angekommen.
Ist sie das aber wirklich? Also der reinen Zahl nach sind 6 bis 10% der Menschen weltweit â und das unabhĂ€ngig ihrer Herkunft, sozialer Schicht, Religion, frĂŒhkindlichen Erlebnissen ect. – homosexuell veranlagt.
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Aktuellen Umfragen zufolge bezeichnen sich 7 % der Millennials (diejenigen, die um die Jahrtausendwende die prĂ€genden Teenager- und Kindheitsjahre hatten / auch als Generation Y bekannt) als homosexuell. Bei der VorgĂ€ngergeneration waren es ânurâ 3,5 % waren.
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Solche Zahlen sind zu groĂ, als dass wir sie ĂŒbersehen können. Und trotzdem ist das Outing fĂŒr Schwule, Lesbische oder Transgender in der Regel immer noch mit einer groĂen Angst vor einer Ausgrenzung oder Bestrafung durch die Gesellschaft verbunden.
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Und diese Angst vor einer Bestrafung ist auch ein Kennzeichen fĂŒr unsere Borderline-Thematik⊠Statt mehr Sicherheit zu geben, ist unsere heutige Zeit immer stĂ€rker von Angst und Verwirrung geprĂ€gt und trĂ€gt so zu mehr Borderline in der Gesellschaft bei.
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Mit dieser Frage fing mein Kapitel an und mit derselben Frage möchte ich das Thema nun auch abrunden:
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Ein sehr wichtiges Kriterium der Borderline-Diagnose ist die IdentitÀtsverwirrung.
Hierzu hat die neue sexuelle Freiheit einen sehr groĂen Teil beigetragen. Allein durch die LGBTQ-Bewegung ist das, was die MĂ€nnlichkeit oder die Weiblichkeit ausmacht, sehr vielschichtiger und damit unklarer geworden. Nur weil man genetisch als Mann oder als Frau zur Welt kam, ist man nicht automatisch mĂ€nnlich oder weiblich.
Und was ist eigentlich eine richtige MĂ€nnlichkeit oder eine richtige Weiblichkeit? Unsere Gesellschaft hat dazu immer verwirrendere Ansichten. Diese machen selbst vor unserer Sprache keinen Halt.
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Immer lauter wird zum Beispiel die Forderung, in unserer Sprache zu Gendern verpflichtend einzufĂŒhren, indem die Pronomen verĂ€ndert werden. Die Anrede âihnâ oder âihrâ wird abgelehnt und immer mehr durch das geschlechtsneutrale âIhnenâ ersetzt.
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Das, was erst einmal als sexuelle Freiheit gedacht ist, genau das ist fĂŒr die Borderline-Persönlichkeit besonders schwierig zu hĂ€ndeln. Die andauernden Diskussionen zwischen Konservativen und Liberalen LGBTâ AnhĂ€ngern, rufen immer mehr Angst und Verwirrung bei der BorderlineâPersönlichkeit hervor, die sich seit ihrer Kindheit auf der Suche nach einem stabilen Ich und einer sicheren Beziehung befinden.
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Zusammenfassung Kapitel 5:
Wann ist ein Mann noch ein Mann? Die Ănderung der Geschlechterrollen
In diesem Kapitel haben wir gemeinsam verstanden, warum Frauen dreimal hĂ€ufiger von Borderline betroffen sind als MĂ€nner. Der praktische Nutzen liegt darin, dass wir jetzt die enormen WidersprĂŒche erkennen, mit denen besonders Frauen heute konfrontiert sind: Super-Mutti, Karrierefrau, perfekte Partnerin â all das gleichzeitig und ohne Fehler.
Wir konnten dabei sehen, wie dieser Spagat zwischen unvereinbaren Rollen direkt vom Perfektionismus ĂŒber die emotionale Unsicherheit zur emotionalen InstabilitĂ€t fĂŒhrt.
Besonders wertvoll ist die Erkenntnis, dass diese Ăberforderung keine persönliche SchwĂ€che ist, sondern strukturell bedingt. Die berufstĂ€tige Mutter, die sich zwischen BĂŒro und krankem Kind aufspalten muss, erlebt genau diese Spaltung, die spĂ€ter in der Borderline-Diagnose zentral wird.
Auch die Diskussionen um sexuelle Orientierung und GeschlechtsidentitÀt haben wir als Faktor erkannt: Was als Freiheit gedacht war, erzeugt paradoxerweise noch mehr Verwirrung und InstabilitÀt.
Gerade fĂŒr Menschen mit Borderline, die auf Ă€uĂere Strukturen angewiesen sind, wird die Frage “Wer bin ich eigentlich?” dadurch noch schwerer zu beantworten.
All diese ZusammenhÀnge zu verstehen hilft uns im tÀglichen Umgang mit einem Borderliner enorm, denn wir können die IdentitÀtsverwirrung dieser Menschen nun in ihrem gesellschaftlichen Umfeld sehen.
Ausblick auf Kapitel 6: Familien damals und heute
WÀhrend wir in Kapitel 5 verstanden haben, wie Geschlechterrollen zur Borderline-Epidemie beitragen, gehen wir im nÀchsten Kapitel noch einen Schritt tiefer in die Wurzeln. Hier schauen wir uns an, wie Familien als grundlegendes Fundament unserer Gesellschaft immer weiter auseinanderbrechen.
Wir werden dadurch noch besser verstehen, warum die Suche nach Ersatzfamilien in sozialen Medien so gefĂ€hrlich ist und wie dieser permanente Vergleich mit perfekten Instagram-Bildern direkt in die SelbstschĂ€digung fĂŒhrt.
Besonders wichtig wird das Thema Scheidung und ihre verheerenden Auswirkungen auf Kinder: Die Zahlen ĂŒber Suizidversuche und die Mechanismen der Parentifizierung werden dir helfen, die Beziehungsmuster deiner Klienten noch besser zu verstehen.
Und schlieĂlich befassen wir uns mit dem dunkelsten Kapitel: Missbrauch und VernachlĂ€ssigung. Du erfĂ€hrst, wie diese Traumata das Gehirn tatsĂ€chlich physisch verĂ€ndern und warum misshandelte Kinder spĂ€ter als Erwachsene glauben, dass Liebe wehtun muss. Dieses Wissen ist fundamental fĂŒr deine Praxis, denn ohne das VerstĂ€ndnis dieser familiĂ€ren UrsprĂŒnge können wir Borderline nicht wirksam behandeln.Â
Wird unsere Gesellschaft denn wirklich immer gespaltener / immer “Borderliner”? Zumindest ist es ein Fakt, dass unsere Gesellschaft immer weiter in ihren Grundfesten auseinanderbricht.
Einen groĂen Anteil daran haben die vielen Scheidungen und auch Familienauflösungen. Sie beflĂŒgeln auf ihre ganz besondere Art einen neuen und auch gefĂ€hrlichen Trend hin zu einer falschen / einer virtuellen Ersatz-Familie. Was ich damit genau meine, möchte ich in diesem Kapitel etwas nĂ€her erklĂ€ren.
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Obwohl aktuell immer mehr Familien auseinanderbrechen, bedeutet dies doch nicht, dass Bindung oder Familie grundsÀtzlich obsolet ist.
Diese tiefe innere Sehnsucht nach einer persönlichen Wurzel, einer Herkunft oder nach einem Stamm, dem man angehört, ist immer noch tief in uns allen drin.
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Diese zeigt sich in den verschiedensten Formen unserer Gesellschaft:
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Am 07.08.2021 feierten zum Beispiel 3000 Menschen das âBerliner Freedom Dinnerâ. Durch die Social Media Plattformen wurden hierdurch ca. 209 Millionen Menschen erreicht. Statt einen zweistelligen Millionenbetrag fĂŒr klassische Werbung auszugeben, nutzte man einfach die neuen Plattformen. So weit, so gut.
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Was 1997 noch ganz klein mit Plattformen wie Sixdegrees oder classmates.com begann, startete 2003 mit LinkedIn und ein Jahr spÀter mit Facebook richtig groà durch. 2022 lag die Nutzerzahl von sozialen Netzwerken bereits bei ungefÀhr 4,62 Milliarden. Das waren 10 % mehr als im Vorjahr und das dreifache der Nutzeranzahl im Vergleich zu 10 Jahren zuvor.
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Laut einer ARD/ZDF Studie aus dem Jahr 2021 ist Instagram unter den jĂŒngeren Nutzern bis 29 Jahre das meistgenutzte soziale Netzwerk in Deutschland. 74 % der Befragten in dieser Altersgruppe nutzen diese App regelmĂ€Ăig.
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Ist das denn jetzt wirklich so gefĂ€hrlich? Ist die Nutzung von sozialen Netzwerken per se nur mit Ă€uĂerster Vorsicht zu genieĂen? Und was hat dies alles mit Borderline zu tun?
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OK, Vorsicht ist in allen Bereichen unseres Lebens angebracht â auch bei der Nutzung neuer Medien. Auf der einen Seite helfen sie uns, mit anderen in Kontakt zu bleiben, PlĂ€ne mit Freunden zu schmieden und neue Freundschaften zu schlieĂen. Aber ihre Nutzung geht oft weit darĂŒber hinaus und ist möglicherweise doch nicht ganz so selbstlos, wie man dies auf den ersten Blick sehen könnte.
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Microsoft stellte in einer Untersuchung nĂ€mlich fest, dass unser âEGOâ im Endeffekt der stĂ€rkste Motivator fĂŒr die Teilnahme daran ist: “Man macht mit, um sein eigenes soziales, kulturelles Kapital nach auĂen zu steigern.â
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Der Neuropsychologe und kognitive Neurowissenschaftler, Professor Lutz JĂ€ncke aus ZĂŒrich bewies durch seine Studien, dass unsere Social Media Landschaft eigentlich Stress pur fĂŒr unser Gehirn ist. Es ist einfach nicht fĂŒr diese Hochgeschwindigkeits Kommunikation der heutigen Zeit geschaffen.
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Aber nicht nur unser Gehirn leidet wegen der Ăberflutung durch die digitale Technik. Auch unser gesamtes Sozialverhalten wird hiervon beeinflusst, indem unser MitgefĂŒhl fĂŒr andere und auch unsere Sicht auf uns selbst immer stĂ€rker verzerrt wird.
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Diese Verzerrung sehen wir, indem sich viele Menschen auf Instagram und anderen Social Media KanĂ€len verfĂ€lschen und unnatĂŒrlich wiedergeben. Es ist so, als wenn man sich wie hinter einer virtuellen Maske in einem virtuellen Raum bewegen wĂŒrde.
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Diese sozialen Netzwerke konfrontieren uns stÀndig mit perfekten Bildern anderer und fordern uns damit auf, uns mit ihnen zu vergleichen.
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Dieser AufwÀrtsvergleich ist ein sehr gefÀhrlicher psychologischer Prozess:
Messen wir uns zum Beispiel immer wieder an Personen, die auf den Bildern perfekt aussehen, dann stufen wir unser Aussehen im Vergleich dazu fast schon zwangslĂ€ufig viel niedriger ein. Das kann dann dazu fĂŒhren, dass wir uns vermehrt anstrengen, unser ĂuĂeres durch mehr Sport, andere ErnĂ€hrung und weitere Dinge zu verĂ€ndern.
Das an sich ist noch nicht negativ ⊠Es kann aber der Beginn einer Abwertung der eigenen Person, einer verzerrten Wahrnehmung ĂŒber unser Aussehen kommen, also einer Wahrnehmung, die absolut nicht der RealitĂ€t entspricht.
Dies alles fĂŒhrt praktisch zwangslĂ€ufig dazu, dass wir durch unsere Hochglanz Medien â Kultur, ein Zeitalter des Narzissmus einlĂ€uten, wie das schon 1978 von Christopher Lasch, einem amerikanischen Historiker und Sozialkritiker (1932 â 1994) beschrieben wurde. In seinem Buch âDas Zeitalter des Narzissmusâ schrieb er, wie durch Reality-TV Menschen sehr schnell berĂŒhmt und noch schneller wieder verheizt werden.
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Seine Aussagen sind in unserem noch jungen Jahrtausend mit dem Internet 2.0, in dem die eigene Person auf den Social-Media-Plattformen im Vordergrund steht und sich jeder als eine persönliche Marke (Self-Branding) darbieten möchte, aktueller denn je.
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Die Folgen von alledem sind aber bereits heute verheerend ⊠Als Beispiel mag das immer stÀrker gestörte Essverhalten bei vielen Jugendlichen dienen:
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Kannst du dich noch an die Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung erinnern? Kriterium Nummer 4: Mindestens 2 potenziell selbstschÀdigende Bereiche. Hierzu gehört auch ein krankhaft gestörtes Essverhalten.
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Durch die fortlaufend immer stĂ€rker werdende Online-PrĂ€senz unserer Welt verlieren wir unsere natĂŒrlichen Skills / unsere ĂberlebensfĂ€higkeit fĂŒr die Probleme in der realen âOffline Weltâ.
FĂŒr alles brauchen wir bald eine App. Wir verlassen uns in immer mehr Bereichen praktisch komplett auf unsere technischen GerĂ€te und seit kurzem immer mehr auf Chat GPT und andere KI-Modelle.
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Wann hast du zum Beispiel das letzte Mal in ein Wörterbuch geschaut oder eine Landkarte beim Autofahren benutzt?
Ist es nicht so, dass wir uns fast schon blind durch unser elektronisches Navigationssystem leiten lassen? Und weil dem so ist, lesen wir auch immer hĂ€ufiger von verrĂŒckten Navigation IrrtĂŒmern wie zum Beispiel den folgenden Beiden:
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VerrĂŒckt, wie wir uns alle von unseren technischen GerĂ€ten abhĂ€ngig gemacht haben.
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Dies waren noch mehr oder weniger harmlose FĂ€lle. Der Absturz der Air France Maschine 447 im Juni 2009 ĂŒber dem Atlantik zeigt jedoch, wie verhĂ€ngnisvoll es ausgehen kann, wenn wir unser Leben komplett in die HĂ€nde der Technik legen und diese dann versagt.
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Des âWegfĂŒhrenâ von dem eigentlichen Leben verursacht aber nicht zwangslĂ€ufig Borderline!
Jedoch ist dies alles ein wichtiger Bestandteil der VerĂ€nderung unseres Lebens. Was gibt uns eigentlich noch Halt in unserem Leben? Woran können wir uns ĂŒberhaupt noch festhalten, um nicht in eine instabile Persönlichkeit zu geraten? Wie können wir in der Erziehung unseren Kindern besser beistehen? Schauen wir uns diesen wichtigen Punkt einmal gemeinsam an:
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Erziehung: Das Verb âerziehenâ geht auf ein althochdeutsches Wort zurĂŒck: âIrziohanâ und bedeutet etwas herausziehen, etwas aufziehen. Im lateinischen Wortschatz liegt hier das Wort âeducareâ zugrunde. Auch dieses bedeutet so viel wie âaufziehen, groĂziehen, ernĂ€hren oder erziehen. Es geht aber noch tiefer und zwar in die Richtung, den Geist / den Charakter von jemandem in seiner Entwicklung zu fördern.
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Erziehung ist fĂŒr unsere soziale Gesellschaft der wohl wichtigste Grundeckpfeiler. Aber welche Bedeutung wird diesem in der RealitĂ€t beigemessen? Nun, wir leben heute in einer Zeit, in der traditionelle Eltern-Erziehung praktisch immer weiter ausgegliedert oder outgesourct wird.
Anstatt dass sich Eltern auf ihre ureigenen Instinkte in der Erziehung verlassen, verlassen sie sich immer stĂ€rker auf BĂŒcher, Fachleute oder Institutionen fĂŒr die Erziehung ihrer Kinder, was einer starken dyadischen Bindung natĂŒrlich wieder einmal im Wege steht.
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Durch die immer gröĂere Ăberforderung des tĂ€glichen Lebens haben Eltern immer weniger Zeit und Kraft, sich mit der Erziehung ihrer Kinder auseinanderzusetzen. Was dann am Ende noch ĂŒbrig bleibt, ist oft nur noch so wenig wie ein Feigenblatt. Und die Restzeit wird – mit ein wenig Scham – als sogenannte âQualitĂ€ts-Zeitâ schön geredet. Viele Eltern versuchen dann, die fehlende Zeit wieder dadurch gut zu machen, indem sie ĂŒberdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit auf die praktischen BedĂŒrfnisse und Freizeitinteressen des Kindes lenken, aber die seelischen BedĂŒrfnisse und die echte elterliche WĂ€rme bleiben oft auf der Strecke.
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Wenn die WĂ€rme aber fehlt ⊠Was wird dann ĂŒberhaupt noch gegeben?
Kinder werden durch solch eine entfremdete Erziehung von einem Subjekt zu einem Objekt verÀndert. Eltern nehmen ihr Kind nur noch als narzisstische Erweiterung, als Status-Objekt ihrer selbst, jedoch nicht mehr als eigenstÀndige selbststÀndige Menschen.
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ZugeschĂŒttet mit distanzierter, nicht-emotionaler Aufmerksamkeit, fĂŒhrt dies bei dem Kind einerseits zu einem ĂŒbertriebenen GefĂŒhl der eigenen Bedeutung, zum anderen aber auch zu einem Verlust des Selbstwerts / des Ich-GefĂŒhls.
Das Kriterium Nummer 3 der Borderline-Persönlichkeitsstörung lĂ€sst hierbei wieder mal grĂŒĂen: Die IdentitĂ€tsstörung.
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In den letzten 30 Jahren ist die Zahl der Ehescheidungen in Deutschland auf der einen Seite zwar deutlich angestiegen, in den letzten 17 Jahren aber auch wieder gesunken. 2003 war der Höhepunkt mit fast 215.018 Trennungen. Im Jahr 2020 ist die Zahl der Scheidungen dann auf ungefÀhr 144.000 gesunken. All das sind sehr hohe Zahlen und kaum vorstellbar, wenn man sie in die Relationen zu dem einzelnen Schicksal bringt. Immer mehr Kinder wachsen ohne die körperliche oder emotionale NÀhe ihres Vaters auf.
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Gerichte sprechen die Kinder ĂŒberwiegend der Mutter zu, wodurch die gröĂte Zahl alleinerziehender Haushalte von Frauen gefĂŒhrt wird. Selbst da, wo beide Elternteile sich das Sorgerecht teilen oder sich sonstwie geeinigt haben, steht der Vater nach wie vor in Erziehungsfragen im Hintergrund.
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Welche Auswirkungen hat eine Ehescheidung fĂŒr ein Kind, wenn es sich noch im Kleinkindalter befindet? Diese Kinder reagieren naturgemÀà mit besonders groĂer Angst vor dem Verlassenwerden, mit starker BedĂŒrftigkeit, Regression und akuter Trennungsangst.
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Erkennst du hier das Kriterium Nummer 1 der Borderline-Persönlichkeitsstörung? âEin verzweifeltes BemĂŒhen, ein Alleinsein zu verhindern.â Viele Kinder werden depressiv (Kriterium Nummer 7) und zeigen in ihren spĂ€teren Jahren oft ein antisoziales Verhalten.
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Die Zahl an Jugendlichen, die in einer Ein-Eltern-Familie Selbstmord begehen, ist dreimal höher als im Durchschnitt. Diese Zahl ist auch höher als im Vergleich zu den Gleichaltrigen, die unter einer psychischen Störung leiden, jedoch in intakten Familien leben!
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Der Tod eines Elternteils scheint keinen Einfluss auf das Suizidversuchsrisiko zu haben. Dies lĂ€sst vermuten, dass wohl nicht so sehr die Trennung, sondern wahrscheinlich eher die stĂ€ndigen Auseinandersetzungen der Eltern, der Mangel an Liebe und Geborgenheit fĂŒr die Kinder von Bedeutung sind. UmstĂ€nde, die einer Scheidung in den meisten FĂ€llen vorausgehen. Solche Zahlen sollten einen zum Nachdenken veranlassen!
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Es muss aber nicht immer dramatisch mit Suizid gerechnet werden. Wenn Eltern sich trennen, dann nimmt der kindliche Wunsch nach körperlicher NĂ€he zu den Eltern sehr stark zu. Typisch fĂŒr ein kleines Kind nach einer Trennung ist der starke Wunsch, bei den Eltern im Bett schlafen zu dĂŒrfen.
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Im Grunde genommen ist dies auch ok, solange dies nicht ĂŒber lĂ€ngere Zeit in der Praxis durchgefĂŒhrt wird. Wird es dann nĂ€mlich auch fĂŒr die Eltern zu einem BedĂŒrfnis, dann bedroht dies die Entwicklung einer körperlichen IntegritĂ€t, eines stabilen Selbst des Kindes, oder kann auch in extremen FĂ€llen zu einem sexuellen Missbrauch durch einen der Elternteile fĂŒhren.
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Der Kampf vor den Gerichten
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Sehr oft gehen Eltern nach einer Trennung vor Gericht und beginnen einen zerstörerischen Kampf um das Sorgerecht, in welchem die kleine Kinderseele zerrieben wird. Besuchsrecht, Unterhaltszahlungen u.Ă€. wird dann als Waffe eingesetzt, um den ehemaligen Partner fĂŒr ein begangenes Unrecht zu bestrafen.
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Aber egal, wieso, weshalb und warum Eltern sich bekĂ€mpfen, sie sollten immer daran denken, dass sich all ihre KĂ€mpfe katastrophal auf das Kind auswirken und dass dies niemals durch irgendetwas im Kampf gewonnenes aufgewogen werden kann. Kinder erfahren in diesen KĂ€mpfen eine ĂŒbergroĂe Ohnmacht einerseits, aber auch eine ĂŒberbordende Macht, wenn sie in den Kampf hineingezogen werden und zum Beispiel eine Aussage vor Gericht machen mĂŒssen.
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All das fördert eine Borderline-Pathologie!
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Aber Vorsicht: Nicht, dass durch meine Abhandlung ĂŒber Ein-Eltern-Familien bei dir lieber Leser nun ein falsches VerstĂ€ndnis aufkommtâŠ.
Ich möchte nicht sagen, dass eine Ein-Eltern-Familie zwangslĂ€ufig und zu 100% eine schlechtere Situation fĂŒr Kinder darstellt als die Familien, wo Vater und Mutter noch vorhanden sind. Wenn die Sorgen des Lebens jedoch nur noch auf den Schultern von einem Elternteil ausgetragen werden, kommt es hĂ€ufig zu einer Ăberlastung. Ich denke hier an
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Durch die Trennung vom Vater entsteht oft ein Vakuum, in welchem das Kind dann nur noch eine begrenzte Möglichkeit hat, seine eigene IdentitÀt zu entwickeln. Hier fehlt einfach der Puffer durch den anderen Elternteil, damit sich eine gesunde IndividualitÀt zwischen Eltern und Kind entwickeln kann.
Durch dieses Vakuum des fehlenden Vaters entwickelt sich oft aber noch etwas GefĂ€hrliches, was wir als âParentifizierungâ bezeichnen. Denn, obwohl viele MĂŒtter versuchen, den Vater zu ersetzen, versuchen die Kinder, in Form einer Symbiose mit der Mutter diesen âJobâ zu ĂŒbernehmen.
Dass dies nicht fĂŒr eine gesunde Kindesentwicklung förderlich ist, liegt auf der Hand. Das Kind idealisiert die Mutter, möchte ihr immer stĂ€rker gefallen.
Die Mutter ihrerseits kann ebenfalls in dieser gemeinsamen AbhÀngigkeit aufgehen und das Kind zu ihrem einzigen Lebenszweck machen.
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Diese gegenseitige AbhÀngigkeit kann das geistige Wachstum und seine SelbststÀndigkeit vollstÀndig ausbremsen.
Und wenn ich keine SelbststĂ€ndigkeit / kein eigenes Ich entwickeln kann, dann ist hier mal wieder die Wurzel fĂŒr die Borderline â Persönlichkeitsstörung gelegt! Kriterium Nummer 3 und 7 lĂ€sst auch hier wieder grĂŒĂenâŠ
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Unsere Welt wird immer âBorderliner” ⊠immer instabiler⊠Ein Faktor dafĂŒr ist die Missachtung der WĂŒrde unserer JĂŒngsten in der Gesellschaft. Die Zahlen ĂŒber sexualisierte Gewalt gegen Kinder und die Menge an kinderpornographischem Material sind einfach nur erschreckend!
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Wenn wir uns die Zahlen des Bundeskriminalamtes einmal zur Hand nehmen, dann ist der sexuelle Missbrauch von Kindern zwischen 2020 und 2021 um 4 % angestiegen, auf ĂŒber 17.700 bekannte FĂ€lle (die Dunkelziffer ist logischerweise deutlich höher). Bei der Herstellung, dem Besitz und der Verbreitung von kinderpornographischem Material sind die bekannten und aufgeklĂ€rten FĂ€lle allein im Jahr 2020 zu 2021 um ĂŒber 108 % angestiegen.
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Misshandlung und VernachlÀssigung von Kindern ist ein immer gravierenderes Problem in unserer Gesellschaft. Einige Untersuchungen schÀtzen, dass jedes vierte MÀdchen als Kind irgendeine Form des sexuellen Missbrauchs entweder durch die Eltern oder von einer anderen Person an sich erfahren musste.
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Was fĂŒr Auswirkung hat all das auf die kleine Kinderseele?
Kinder, die diese Torturen erleiden mĂŒssen, leiden ĂŒberdurchschnittlich stark an Depressionen, BindungsĂ€ngsten, ADHS und schweren WutanfĂ€lle, verminderter Impulskontrolle, Aggression und deutlichen Problemen im Umgang mit Gleichaltrigen. Und das alles hört spĂ€ter nicht auf. Die Langzeitfolgen sind erschreckend: Wer in seiner Kindheit gedemĂŒtigt, sexuell missbraucht oder geschlagen wurde, leidet als Erwachsener deutlich hĂ€ufiger an psychischen Erkrankungen, Depressionen oder Angstattacken!
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Welche Auswirkungen hat Gewalt auf die körperliche Entwicklung eines Kindes?
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Gewalterfahrung beim Kind fĂŒhrt tatsĂ€chlich zu einer dauerhaft verĂ€nderten Wahrnehmung von Ă€uĂeren Reizen! Was ich mit einem Ausrufezeichen geschrieben habe, fing erst einmal mit einem Fragezeichen an.
Wissenschaftler der medizinischen Psychologie des UniversitĂ€tsklinikums Bonn haben sich mit ihren Kollegen der Ruhr â UniversitĂ€t Bochum diesem Thema angenommen. Das Ergebnis ihrer Studie war: je stĂ€rker in Art und Dauer die Misshandlungen in der Kindheit waren, desto stĂ€rker reagierten zwei Regionen im Gehirn der untersuchten Studienteilnehmer auf schnelle BerĂŒhrungen.
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Der somatosensorische Kortex befindet sich im mittleren Gehirn ungefĂ€hr ĂŒber dem Ohr und registriert, wo eine BerĂŒhrung stattfindet.
Hier werden dann â nach den BerĂŒhrungen — Körperbewegungen vorbereitet und eingeleitet, um zum Beispiel ein berĂŒhrtes Körperteil wegzuziehen.
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Der andere Bereich ist die posteriore Inselrinde tief im Gehirn hinter den SchlĂ€fen. Sie steht fĂŒr die emotionale Bewertung von Schmerzen und ist praktisch fĂŒr jede weitere Körperwahrnehmung wie BerĂŒhrung, Hunger, Durst und Schmerz zustĂ€ndig. Die AktivitĂ€t dieser beiden Hirnareale ist bei traumatisierten Menschen bei schnellen BerĂŒhrungen deutlich erhöht. Der fĂŒr das Lernen, das GedĂ€chtnis und das Speichern von positiven und negativen Assoziationen so wichtige Hippocampus dagegen war bei langsamen BerĂŒhrungen deutlich schwĂ€cher aktiviert, wenn traumatische Erfahrungen in der Kindheit gemacht worden sind.
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Praktisch ĂŒbersetzt spiegelt die schwĂ€chere AktivitĂ€t des Hippocampus eine geringere Belohnung bei einer BerĂŒhrung wider. Wenn nun eine traumatisierte Person eine langsame, aber emotional intensivere BerĂŒhrung als weniger belohnend empfindet, dann kann dies auch zu einer inneren seelischen Leere fĂŒhren, die der Borderline â Persönlichkeitsstörung weiter TĂŒr und Tor öffnet.
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Kriterium Nummer 7 â die innere Leere.
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Missbrauch und seine Folgen
Wenn wir uns einmal in aller Ruhe betrachten, was fĂŒr traurige Botschaften bei einem Missbrauch dem Kind gegeben werden, dann können wir drei besonders herausstellen:
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Reden wir ĂŒber Kindesmisshandlung, dann sprechen wir oft von groĂen Traumata und von auĂen deutlich sichtbaren Verletzungen, wodurch sich eine Persönlichkeitsstörung hat bilden können. Betrachten wir aber einmal all die emotional vernachlĂ€ssigten Kinder, dann spiegeln doch gerade sie das Problem von Borderline im spĂ€teren Leben wider.
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VernachlÀssigung in der Kindheit veranlasst die Betroffenen nÀmlich immer wieder aufs Neue dazu, jemanden oder etwas zu suchen, was ihnen im Leben wegen ihrer starken inneren Leere fehlt. Immer und immer wieder verfallen sie in dieselbe bodenlose Angst und Unruhe. Suchen genau diese eine Person, die ihnen den lang ersehnten Halt im Leben geben könnte, den ihnen ihre Eltern nicht gegeben haben.
Andererseits ist aber genau diese unruhige und impulsive Suche fast schon ein stabilisierender Anker, weil es Ihnen das GefĂŒhl gibt, ĂŒberhaupt zu existieren.
Aus diesem Grunde binden sich auch viele Borderliner extrem schnell â oft sogar, wenn sie sich noch in einer anderen Beziehung befinden. Ihr Wunsch nach Zuneigung und NĂ€he ist so groĂ, dass praktisch jeder als Partner in Frage kommt, der auch nur ein kleines MaĂ an Respekt und Bewunderung aufbringt. Das Ergebnis ist das Kriterium Nummer 2 der Borderline-Persönlichkeitsstörung: intensive aber auch zerbrechliche zwischenmenschliche Beziehungen.
Praktisch ein TrĂŒmmerfeld an instabilen Beziehungen, die ihrerseits Borderline noch weiter fördern.
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All die jetzt besprochenen Themen wie Misshandlung, VernachlĂ€ssigung und lĂ€ngere Trennungen in der frĂŒhen Kindheit sind mit dafĂŒr verantwortlich,
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So traurig es sich auch anhören mag, aber auf dem Weg zum Erwachsenwerden wiederholen viele misshandelte Kinder augenscheinlich die frustrierenden Beziehungserfahrungen mit den eigenen Eltern.
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âLiebe muss einfach weh tunâ und deswegen wird NĂ€he mit Schmerz und Bestrafung in Zusammenhang gebracht. Und wenn Schmerz und Bestrafung aufgrund der eigenen Erfahrung Liebe bedeutet, dann ist Selbstverletzung oft wie ein spĂ€terer Ersatz fĂŒr den in der Kindheit misshandelnden Elternteil. Was fĂŒr eine traurige TatsacheâŠ
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Mein Fazit am Ende dieses ersten Teils des Buches ist, dass sich unsere Gesellschaft sich immer weiter spaltet â unsere Gesellschaft wird immer âBorderlinerâŠâ
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Lass uns in dem zweiten Teil darĂŒber sprechen, wie man mit einem Borderliner trotz der vielen Herausforderungen im GesprĂ€ch bleiben kann.
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Zusammenfassung Kapitel 6: Familien damals und heute – Familien brechen immer weiter auseinander
In diesem Kapitel haben wir gemeinsam die Wurzeln der Borderline-Epidemie in unserer Gesellschaft freigelegt.
Der praktische Nutzen liegt darin, dass wir jetzt noch besser verstehen, wie der Zerfall von Familien direkt mit der Entstehung von Borderline zusammenhÀngt.
Wir konnten erkennen, wie gefĂ€hrlich die falschen Ersatzfamilien in sozialen Medien sind: Der permanente AufwĂ€rtsvergleich mit perfekten Instagram-Bildern fĂŒhrt zu einer verzerrten Selbstwahrnehmung und direkt in die SelbstschĂ€digung durch Essstörungen.
Besonders wertvoll war die Erkenntnis ĂŒber die outsourced Erziehung. Wenn Eltern ihre Kinder nur noch als narzisstische Erweiterung, als Status-Objekt betrachten und die emotionale WĂ€rme fehlt, entsteht genau diese IdentitĂ€tsstörung, die wir als Kriterium 3 kennen.
Die Zahlen ĂŒber Scheidungen sind einfach nur erschĂŒtternd: Kinder aus Ein-Eltern-Familien haben ein dreimal höheres Suizidrisiko, und die Parentifizierung raubt ihnen die Möglichkeit, ein eigenstĂ€ndiges Ich zu entwickeln.
Am schwersten wiegt wohl das Thema Missbrauch und VernachlĂ€ssigung. Wir haben gelernt, dass Gewalt das Gehirn physisch verĂ€ndert, dass der Hippocampus schwĂ€cher aktiviert wird und BerĂŒhrungen weniger belohnend empfunden werden. Dies fĂŒhrt zur inneren Leere von Kriterium 7.
Die drei Botschaften des Missbrauchs – Abwertung, VernachlĂ€ssigung und bedrohliche Herrschaft – haben wir als Grundmuster erkannt, das sich spĂ€ter in toxischen Beziehungen wiederholt. VernachlĂ€ssigte Kinder suchen ihr Leben lang nach dem, was ihnen von Geburt an fehlte. Und diese unruhige Suche wird paradoxerweise selbst zum stabilisierenden Anker.
FĂŒr den tĂ€glichen Umgang mit einem Borderliner ist dieses VerstĂ€ndnis fundamental, denn wir können nun die verzweifelte Suche unserer Umgebung nach NĂ€he und ihre schnellen Bindungen in ihrem ursprĂŒnglichen Zusammenhang besser sehen und anerkennen.
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Der Spiegel ist zerbrochen â Zeit, die Scherben aufzusammeln
Puh. Durchgeatmet? Ich spĂŒre, was Du gerade durchgemacht hast. Die letzten Kapitel waren kein leichter Spaziergang durch einen Rosengarten. Sie waren eher ein Blick in den Spiegel â und dieser Spiegel zeigt uns eine Welt in Scherben. Lass uns deshalb kurz gemeinsam innehalten und nach hinten schauen. Schau kurz einmal zurĂŒck auf das, was Du bereits gelesen hast. Vielleicht fĂŒhlst Du Dich gerade ĂŒberwĂ€ltigt. Vielleicht erkennst Du Dich selbst in manchen Beschreibungen wieder. Vielleicht siehst Du Deine Beziehung, Deine Familie, Deine Arbeit plötzlich in einem anderen Licht. Und das ist auch gut so.
Was Du gerade gelernt hast
In den zurĂŒckliegenden Kapiteln hast Du gesehen, wie unsere Gesellschaft die neun Diagnosekriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung nicht nur spiegelt â sondern aktiv fördert:
Die unbequeme Wahrheit lautet:
Du hast es jetzt schwarz auf weiĂ gelesen: Unsere Gesellschaft ist nicht nur von Borderline betroffen â sie IST Borderline.
Aber hier ist die gute Nachricht: Das war nur die Diagnose. Jetzt kommt die Therapie.
Was Du jetzt mit diesem Wissen machen kannst und solltest:
Vielleicht fragst Du Dich gerade: “Und was jetzt? Soll ich mich in einer Höhle verkriechen und auf den Weltuntergang warten?” Nein. Genau das Gegenteil. Denn jetzt, wo Du das Problem verstanden hast, bist Du bereit fĂŒr die Lösung. Jetzt, wo Du die gesellschaftlichen Wurzeln kennst, kannst Du anfangen, an den individuellen Zweigen zu arbeiten. Jetzt, wo Du weiĂt, wie tief die Borderline-Dynamik in unserer Kultur verankert ist, kannst Du aufhören, Dich selbst oder Deinen Partner zu verurteilen. Es ist nicht Deine Schuld. Es ist nicht ihre Schuld. Es ist eine kollektive Entwicklung. Aber das bedeutet nicht, dass Du machtlos bist. Im Gegenteil.
Der Leuchtturm in der Brandung
Erinnerst Du Dich an das Bild des Leuchtturms aus Kapitel 10? Ein Leuchtturm steht fest, egal wie wild die See tobt. Er sendet sein Signal aus, konstant und zuverlĂ€ssig. Er bewegt sich nicht auf das Schiff zu â das Schiff muss zu ihm kommen. Das kannst Du sein. Nicht fĂŒr die ganze Gesellschaft â das wĂ€re vermessen. Aber fĂŒr die Menschen in deinem Leben. FĂŒr Deinen Partner. Dein Kind. Deinen Klienten. Deinen Kollegen.
und seine Sprache sprechen lernen. Wie unsere Gesellschaft selbst zum Symptom wird und wie wir damit umgehen können. Die U.M.W.E.G.©-Methode.
Warum fĂŒhlt sich unsere Welt zunehmend gespalten, orientierungslos und emotional instabil an? Warum nehmen Schwarz-WeiĂ-Denken, Beziehungskrisen und innere Leere so dramatisch zu?
Ich wage in diesem Buch eine provokante These: Unsere Gesellschaft entwickelt zunehmend Strukturen, die der Borderline-Persönlichkeitsstörung erschreckend Àhneln. Social Media, fragmentierte Familienstrukturen, Konsumkultur und politische Polarisierung erzeugen genau jene Dynamiken, die wir aus der Borderline-Therapie kennen.
Aber dieses Buch belĂ€sst es nicht bei der Analyse. Im zweiten Teil stelle ich die von mir entwickelte U.M.W.E.G.©-Methode vor â ein wissenschaftlich fundiertes Kommunikationssystem, das in emotional hochexplosiven Situationen greift. Ob bei Borderline-Partnern in der Krise, pubertierenden Jugendlichen oder alltĂ€glichen Konfliktsituationen: Diese Methode gibt konkrete Handlungsstrategien an die Hand.
FĂŒr jedes der neun Borderline-Kriterien â von VerlustĂ€ngsten ĂŒber IdentitĂ€tsstörungen bis hin zu SuizidalitĂ€t â bietet das Buch praxiserprobte Werkzeuge: Wut-TagebĂŒcher, die Drei-Schritt-Methode, Deeskalationstechniken und viele weitere Kommunikationsinstrumente, die sofort umsetzbar sind. Ein Buch, das philosophische Tiefe mit therapeutischer Praxis verbindet. FĂŒr Angehörige, Therapeuten, PĂ€dagogen â und alle, die in unserer fragmentierten Welt StabilitĂ€t schaffen wollen.
Möge der Tanz mit dem Borderliner beginnen! đ
Borderline ist eine Therapie, dies sich sehr von anderen Therapieformen unterscheidet. Ich wĂŒrde diese Therapieform auch als Training fĂŒrs Leben bezeichnen.
Und wie im “normalen Leben” brauchen wir auch in der Borderline-Therapie Softskills, um mit den tĂ€glichen Anforderungen dieser Persönlichkeitsstörung besser umgehen zu können.
Borderline hat viel mit Emotionsregulation zu tun. Darum ist es sehr passend, dass die hier angefĂŒhrten und sehr praxisbezogenen Skills eine wirksame Hilfe darstellen, die eigenen Emotionen effektiv unter Kontrolle zu halten und besser fĂŒr sich nutzbar zu machen.
Dieses Buch ist nicht nur fĂŒr Therapeuten eine Schatzkiste an RatschlĂ€gen. Auch fĂŒr betroffene Borderline und auch fĂŒr Angehörige ist dieses Buch ein “Augenöffner” und Helfer fĂŒr den Alltag. Ein tolles Werk fĂŒr jeden Betroffenen.Â
Es sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang mit Borderline oder einer anderen belastenden Störung, aber auch ĂŒber Future Faking, Love Bombing und Gaslighting die immer hĂ€ufiger in unsere Gesellschaft zu beobachten sind.Â
Ich möchte aber nicht nur ĂŒber Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:
Buchen Sie sich einfach auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus