Die GesprĂ€che mit den Kindern â auch sie werden ExplorationsgesprĂ€ch genannt, weil sie ein Ziel in den Fragen verfolgen – siehe Teil 1 – stĂŒtzen sich wie die ElterngesprĂ€che auf halbstandardisierte InterviewleitfĂ€den.
AbhĂ€ngig vom Thema â in der Regel geht es entweder um das Kindeswohl, das Sorgerecht oder den Umgang â werden diese immer einzelfallbezogen / also fallspezifisch aufgebaut. Kein Interviewleitfaden / kein Untersuchungsplan ist wie der andere!
Diese werden in einer altersangemessenen / kindgerechte Sprache kurz genug gehalten, damit das Kind hierbei nicht ĂŒberstrapaziert wird. Exakt wie bei den Eltern, muss dabei auch das Kind ĂŒber das Prinzip der informierten Einwilligung altersgerecht aufgeklĂ€rt werden! âDu kannst mitmachen, aber du musst dies nichtâŠâ
đ Kann man mit den Eltern sachlich intensiver und auch zeitlich lĂ€nger arbeiten, so muss ein KindergesprĂ€ch logischerweise ganz anders angegangen werden:Â
 Das fĂ€ngt bereits bei der GesprĂ€chsatmosphĂ€re an. Damit sich ein Kind öffnen kann, wird zuerst einmal ĂŒber konfliktneutrale und / oder besser noch: positive Themen gesprochen â eben Small Talk mit Kids, oft auch durch kurze Spieleinheiten begleitet đ
Es wird auch empfohlen, wĂ€hrend des GesprĂ€ches immer wieder Pausen fĂŒr das Kind einzulegen damit es sich körperlich / motorisch beschĂ€ftigen und damit wirksam Spannungen abbauen kann. Dabei soll die Exploration aber auch unterbrochen werden, da es sonst schnell zu einer Vermischung zwischen Spiel und Gutachterfragen kommen kann. Darum ist ein Befragungszimmer voller Spielzeug oft fĂŒr eine kindgerechten Befragung eher hinderlich, weil sich das Kind dann nicht mehr richtig auf die eigentlichen Fragen konzentrieren kann. (siehe auch entwicklungsgerechte Befragung von Kindern in Strafverfahren – Niehaus, Volbert & Fegert, 2017)
Mein Vorschlag in diesem Zusammenhang wĂ€re z.B. âdas Familienbrettâ / bzw. auch Systembrett genannt, das ursprĂŒnglich mal fĂŒr die Familientherapie entwickelt wurde. Das ist ein Brett, auf dem Holzfiguren fĂŒr jedes Familienmitglied von dem Kind so angeordnet werden können, wie sie seinem GefĂŒhl nach in der Familie zueinander stehen.
Wenn diese von dem Kind erst einmal positioniert sind, dann kann vom Gutachter weiter zu den einzelnen Figuren und ihrer Position nachgefragt werden.
Wichtig hierbei ist aber, dass die Aussagen des Kindes vom Gutachter zuerst einmal wertfrei aufgenommen werden und das spĂ€ter auch nur der Explorationsinhalt ausgewertet wird (mehr dazu spĂ€ter). Persönliche Bewertungen gehören nicht in ein Gutachten! Jegliche Interpretationen hieraus sind nĂ€mlich psychologisch (psychometrisch) nicht belastbar und dĂŒrfen spĂ€ter auch nicht fĂŒr die Beantwortung gerichtlicher Fragen hergenommen werden (siehe hierfĂŒr meine Checkliste fĂŒr Gutachten).
Neben dem Familienbrett helfen u.a. noch Leitfadenbasierte ExplorationsgesprĂ€che fĂŒr Kinder wie z.B.
⊠um dieses Komplexe Thema rund um die Bindung besser zu erfassen. Aber ⊠und dieses Aber dĂŒrfen wir nicht ĂŒbersehen: Diese LeitfĂ€den wurden in erster Linie nicht fĂŒr Gutachten, sondern fĂŒr einen wissenschaftlichen Kontext entwickelt. Darum können sie auch nur begrenzt in Gutachten einsetzt werden und es muss immer erklĂ€rt werden, warum sie genutzt wurden.
đ Wie kann ich mir das jetzt in der Praxis vorstellen?
Ich habe mir hierfĂŒr mal einen fiktiven Fall ausgedacht, ich dem ein 11-jĂ€hriges MĂ€dchen zu seiner leiblichen Mutter wieder zurĂŒckgefĂŒhrt werden soll. Es lebt schon seit seiner Kindergartenzeit in einer Pflegefamilie.
In den Jahren dazwischen hat die Kindesmutter bereits des Ăfteren eine RĂŒckfĂŒhrung beantragt, die aber immer abgelehnt wurde, weil man eine erhebliche EntwicklungsgefĂ€hrdung bei dem Kindes sah.
⥠Zuerst erstellt der Gutachter mal eine Zusammenfassung seines GesprĂ€ches / der Exploration mit dem Kind. Schauen wir mal rein, wie so etwas aussehen könnte: (spĂŒre bitte in die wertfreie Notierung dieses GesprĂ€ches â alles als wenn dies eine KI aufschreiben wĂŒrde)
Fallbeispiel Maria, 11 Jahre, lebt in einer Pflegefamilie. Es stellt sich die Frage nach einer GefĂ€hrdung des Kindeswohls durch die RĂŒckfĂŒhrung in den Haushalt der leiblichen Mutter
Hier berichtet Maria, âsie sei âganz nett und auch recht liebâ. Sie könne sehr gut spannende Geschichten erzĂ€hlen und bei den Treffen wĂŒrden dann auch oft gemeinsam Spiele spielen. Was kann ihre Mutter nicht so gut? Wenn sie sich aufregt, dann kann sie sich nicht so schnell wieder beruhigen. Wenn sie sich treffen, dann unternehmen sie regelmĂ€Ăig unterschiedlich Dinge:
Nach weiteren Fragen schaute Maria lÀnger auf den Boden, ging dann zum Fenster und lieà die Fragen unbeantwortet im Raume stehen.
Sie erzĂ€hlte davon, dass – wenn sie frustriert oder traurig sei â sie sich normalerweise ablenke und nicht mehr darĂŒber nachdenkt. Sie spreche mit niemandem darĂŒber. AuĂerdem habe sie im Moment auch keine Freundin, mit der sie ĂŒber so ein Thema ĂŒberhaupt gerne reden wolle. âDas wĂŒrden die anderen eh nicht verstehenâ. AuĂerdem ist sie ist sich gar nicht so sicher, ob sie mit jemandem der es versteht, danach ĂŒberhaupt noch umgehen könne. Deshalb spricht sie auch mit niemanden ĂŒber sich.
Auf die Nachfrage, ob sie dabei an eine bestimmte Situation denke, blickte Maria zu Boden und sagte in leisem Ton, âeigentlich alles, was bisher so passiert sei. Das steht doch alles in den Ordnern und sie (ich als Gutachter) mĂŒssen dies ja wissen. Sie (Maria) jedenfalls habe das alles noch nie jemandem erzĂ€hlt, der davon noch nichts wusste. âŠ
– Dann wurde Maria gefragt, was ihr Wille sei bezĂŒglich der Frage, wo sie wohnen möchte. Sie sagte, dass diese Frage ânicht so leicht zu beantwortenâ sei. Sie wolle vielleicht ein âkleines bisschen lieberâ bei ihrer Mutter leben. Aber wegen der Schule und auch wegen ihrer Pflegefamilie wĂ€re es vielleicht dort, bei denen doch etwas besser.
Maria erzĂ€hlte weiter, dass es sie traurig machen wĂŒrde, wenn ihre jetzigen Spielkameradinnen nicht mehr in ihrer NĂ€he wĂ€ren, sollte sie doch zu ihrer Mutter ziehen. Denn die hĂ€tte sie dort praktisch keine. Maria erzĂ€hlte weiter, dass ihre Mutter wolle, dass sie bei ihr bliebe und ihre Pflegeeltern wollten genau das andere, nĂ€mlich, dass sie bei ihnen bleibe. Deshalb weiĂ sie jetzt selber nicht so genau, was sie denn eigentlich wolle. Eigentlich könnte sie es sich vorstellen, zu ihrer seiner Mutter zu ziehen aber andererseits möchte sie auch, dass es fĂŒr ihre Mutter in Ordnung sei, wenn sie bei ihren Pflegeeltern bleibe wĂŒrde. Bei ihrer Mutter sei oft besser, weil sie dort mehr erlaubt bekommt. âŠ
Den Kindeswillen korrekt zu diagnostizieren gehört mit zu den besonders schwierigen Kriterien bei einer Beurteilung des Kindeswohls. Das Wort Diagnose (griech. Diagnosis = Erkenntnis, Urteil) bezieht sich auf ein Feststellen und anschlieĂendes Benennen einer Tatsache. Im Medizinischen einer Krankheit. Diagnose schlieĂt also mit einem âso issesâ ab. Da sich ein Kind aber im stetigen Entwickeln befindet, kann das jetzt, morgen veraltet sein. Die Diagnose des Kindeswillens ist darum immer nur ein NĂ€herungswert und könnte mit einem âso könnte es seinâ definiert werden.
đ Was gehört eigentlich alles zum Kindeswohl? Was sagen die Gesetzestexte hierzu?
Fangen wir mal wieder mit dem wichtigsten Gesetz in unserem Land an: dem Grundgesetz:
Das alles kann man logischerweise nur durch Selbstbestimmung und eigene Mitwirkung erreichen. Das ist die Basis des Kindeswohls in unserem deutschen Recht.
Gehen wir nun etwas weiter, und zwar zu der UN-Kinderrechtskonvention die es seit 1998 gibt und der Deutschland 1992 beigetreten ist. Sie gehört zu den weltweit meistunterzeichneten MenschenrechtsvertrÀgen und ihr liegen vier Prinzipien zugrunde:
Damit so etwas dann auch vernĂŒnftig umgesetzt wird, mĂŒssen die Gerichte den Kindeswillen bei Sorge-, bei Umgangsrechtsentscheidungen aber auch bei Lebensortfragen zwingend beachten (vgl. Art. 9 UN-KRK â Trennung von den Eltern; persönlicher Umgang).
In der Theorie liest sich all das recht leicht ⊠in der RealitĂ€t stöĂt man bei der Erfassung und Umsetzung dieses doch recht komplizierten Konstrukts aber oft auf fast unlösbare Probleme. Warum? Weil es einfach keine empirisch-psychologischen Studien ĂŒber die Entstehung, die ĂuĂerungen oder vernĂŒnftige Wege des kindlichen Willensprozess zu erfassen gibt. Frag doch mal ein dreijĂ€hriges Kind, ob es lieber eine Möhre oder ein Eis möchte, ob es lieber ins Bett oder noch aufbleiben möchte⊠Ob es lieber in Deutschland beim Papa oder auf Mallorca bei der Mama wohnen möchte âŠÂ SpĂŒrst du diese Problematik?
Schauen wir mal, was die Familienrechts-Psychologie hierzu sagt. Besonders tun sich hier die Studien von Dettenborn und Walter hervor. Im rechtspsychologischen VerstÀndnis können wir den Kindeswillen
đ als eine âaltersgemÀà stabile und autonome Ausrichtung des Kindes auf erstrebte, persönlich bedeutsame ZielzustĂ€ndeâ beschreiben (Dettenborn & Walter, 2016).Â
So eine ErklĂ€rung ist zwar schön und gut, aber sie enthĂ€lt immer noch keine Aussagen ĂŒber den Bewusstseinsgrad, die emotionalen oder kognitiven Anteile und nicht zuletzt die Motive des Kindes. Dies alles muss zusĂ€tzlich beurteilt werden!
Bei dem Kindeswillen geht es nicht um einen âvernĂŒnftigen Erwachsenen-Willenâ, sondern um die von dem Kind selbst geĂ€uĂerten eigenen Interessen (Dettenborn & Walter, 2016). Und egal wie unsinnig sich das fĂŒr einen Erwachsenen anhören mag â ja, die Diagnostik des Kindeswillens muss unter Beachtung der rechtlichen Altersstandards (z.âB. §â1671 Abs. 2 BGB) und individueller Defizite erfolgen â aber trotzdem sind sie klarer Bestandteil in einem Familienpsychologischen Gutachten. Solch eine Diagnostik erfolgt i.âd.âR. in einer direkten Exploration / Befragung des Kindes oder indirekt – wenn es belastbare GrĂŒnde fĂŒr einen anderen Weg hierfĂŒr gibt / z.B. Alter, Krankheit, Behinderung – anhand der Befragung anderer Personen.
Diese Frage ist elementar wichtig, da sie ein Gutachten auch komplett in Frage stellen kann. Nach dem Gutachter und Rechtspsychologen Harry Dettenborn (Professor fĂŒr Psychologie an der Berliner Humboldt-UniversitĂ€t) (siehe sein Werk Dettenborn und Walter (2016)) ist es ab einem Alter von drei bis vier Jahren möglich, Kompetenzerweiterungen bei einem Kind zu bestimmen, die eine Willensbildung/-Ă€uĂerung ermöglichen.
Auf welche PrĂŒfkriterien wird dann geachtet? Dettenborn und Walter (2016) nennen folgende vier Mindestanforderungen:
Je klarer diese Merkmale sichtbar sind, desto mehr muss ein Kindeswille in einem Gutachten Beachtung finden.
Aber Vorsicht: Nicht jeder Kindeswille ist auch umsetzbar oder gut fĂŒrs Kind ⊠Ein Kind kann â aufgrund seiner noch geringen Erfahrung – die Folgen seiner WĂŒnsche nicht immer komplett ĂŒberblicken. Damit haben wir Erwachsene ja auch oft schon Schwierigkeiten. Ein Gutachter muss dies beim Thema Kindeswillen immer im Auge behalten. (Dettenborn & Walter, 2016). Die Grenze des Kindeswillens ist die Sicherung des Kindeswohls. Es mĂŒssen also immer zwei Dinge geprĂŒft werden:
Ja, das kann man. In einem explorativen empirischen Ansatz (oder auch Groundet-Theory-Ansatz genannt) fanden Professor Dr. Jelena Zumbach (Forensische Psychologie), Professor Michael Saini (Psychologische Hochschule Berlin) und Professor Dr. Ute Koglin (klinische Psychologie Uni Bremen) in einer Studie mit 113 fĂŒnfjĂ€hrigen Kindern (Quelle: https://doi.org/10.1111/fcre.12517) klare Hinweise darauf, dass auch Kinder in diesem Alter Strategien der WillensĂ€uĂerung haben.
Was heiĂt das nun genau? Das bedeutet, das bereits FĂŒnfjĂ€hrige eine erstaunlich breite Anzahl an Strategien benennen, den eigenen Willen durch Sprache oder Handlungen kundzutun. Dazu zĂ€hle ich das Verhandeln, Betteln, den Ausdruck von Emotionen aber auch das UnterdrĂŒcken von bestimmten Handlungen), was man als Anpassungsstrategien bezeichnen kann. Kinder mit einem höheren sozial-emotionalen Entwicklungsstand können dabei mehr Strategien benennen als Kinder mit einem Level. Kein Unterschied war zu sehen, wenn man lediglich den kognitiven Entwicklungsstand zugrunde legte. Kindeswille hat also weniger mit der kognitiven, aber deutlich mir mit der sozial-emotionalen Intelligenz zu tun đ
Wir stehen hier â trotz aller Forschung â aber immer noch am ganz am Anfang der Studien. So einfach lĂ€sst sich ein âKindeswilleâ nun doch nicht in der Praxis einordnen. Besonders bei noch sehr jungen Kindern, muss in der Befragung noch beachtet werden, wie der Prozesscharakter der WillensĂ€uĂerung diagnostisch erfasst werden kann. Der Prozesscharakter schaut zum Beispiel auch darauf, wie wandelbar der Wille eines Kindes ist. Das kann dann zwar möglicherweise dem StabilitĂ€ts-Kriterium widersprechen, zeigt aber andererseits auch eine notwendige / adaptive Anpassungsleistung an eine sich verĂ€ndernde Situation (z.âB. sich die Konflikte der Eltern verstĂ€rken oder abschwĂ€chen), was fĂŒr sich betrachtet ja gesund ist.
Ein exploratives GesprĂ€ch ist eine Kommunikation, die durch Fragen zu einem bestimmten Ergebnis fĂŒhren soll. Dies reicht aber bei weitem nicht fĂŒr ein Familienpsychologisches Gutachten aus.
Genauso wichtig und auch komplex ist die Verhaltensbeobachtung und -beurteilung des Kindes. Sie hat in einer familienrechtlichen Begutachtung einen sehr hohen Stellenwert â besonders wenn noch recht junge oder sehr belastete Kinder [noch] keine Angaben in einem ExplorationsgesprĂ€ch machen können oder auch nicht wollen).
Diese Frage ist berechtigt, denn Verhalten ist so einzigartig, wie jede einzelne Schneeflocke oder Fingerabdruck. Kein Verhalten ist wie das andere. Aber man kann es wirklich und das möchte ich nun ein wenig nĂ€her erklĂ€ren: FĂŒr die Verhaltensdiagnostik gibt es bereits seit Jahren ein Standartwerk: Die âPsychologische Diagnostikâ von Professor Lothar Schmidt-Atzert fĂŒr Psychologische Diagnostik und Manfred Amelang (bis 1998 PrĂ€sident der Deutschen Gesellschaft fĂŒr Psychologie). Die beiden Autoren beschreiben, dass ein âVerhaltenâ vor allem im Kopf des Beobachters existiert. Auf keinem Fall ist es ein reales Abbild der physikalischen Welt.
Wenn es aber nur im Kopf eines Betrachters existiert, was ist es denn dann genau? Kann man dies irgendwie greifbar machen? Ja, weil das Beobachten eines Verhaltens immer mit einer gewissen Selektion / einer Auswahl verbunden ist.
Wir sehen etwas indem wie es dabei
Dies wird Segmentierung genannt. Segmentierung ist eine Unterteilung in gemeinsame Merkmale. Dann folgen noch Aussagen ĂŒber die IntensitĂ€t, die Dauer oder die HĂ€ufigkeit. Das ist die Quantifizierung. Verhaltensbeobachtung ist also praktisch immer eine Kombination aus Segmentierung und Quantifizierung.
Und nicht nur seit Pablo Picasso und seiner kubistischen Malerei wissen wir, das die freie Verhaltensbeschreibungen von zwei Beobachter nie identisch ausfallen wird. Beide legen immer unterschiedliche Selektionen und Quantifizierungen zugrunde und kommen dadurch zu unterschiedlichen Beschreibungen. Trotzdem kann man durch eine systematische Selektion, Segmentierung und Quantifizierung die Verhaltensbeobachtung weitgehend standardisieren (Schmidt-Atzert & Amelang, 2018).
In GesprĂ€chen mit besorgten Eltern, die einem familienpsychologischen Gutachten entgegensehen, merke ich immer wieder die BefĂŒrchtung, dass sich beim Gutachter WillkĂŒr und Fehler in der Beobachtung ihrer Kinder einschleichen könnte. Diese Sorge ist – wenn man die Fallzahlen falscher Gutachten betrachtet (NDR Panorama 13.08.2014 âjedes 2. Gutachten mangelhaftâ) – auch berechtigt und man sollte sie deshalb auch nicht einfach so vom Tisch wischenâŠÂ Folgende sechs Fehlerquellen fallen mir spontan ein, wenn es um eine Verhaltens- und Interaktionsbeobachtung geht
Um diesen Fehlerquellen zu begegnen, ist zum einen der Einsatz von Strukturierungshilfen zur Auswertung (Kodierschemata) und zum anderen die Schulung in der vernĂŒnftigen, professionellen Anwendung der Kodierschemata zentral wichtig (Schmidt-Atzert & Amelang, 2018).
Bitte beachte hierbei immer, dass die zur Verhaltensbeobachtung eingesetzten Situationen im Begutachtungskontext frei oder (!) strukturiert gestaltet werden können. Sie erfolgen meist in Situationen, die von dem Gutachter bestimmt werden (z.âB. in seinen PraxisrĂ€umen), können aber auch in der natĂŒrlichen Umgebung wĂ€hrend eines Hausbesuchs erfolgen. In der Regel werden diese Fremdbeobachtungen vom Gutachter durchgefĂŒhrt, die durch Beobachtungen z.âB. der Elternteile, ergĂ€nzt werden können.
Diese Begutachtungen werden immer offen – mit dem Wissen aller – durchgefĂŒhrt, um das Transparenzkriterium zu erfĂŒllen. Auch Videoaufnahmen sind – nach vorliegendem EinverstĂ€ndnis der Beteiligten – möglich und helfen in der Auswertung des Materials sowohl auf Mikro- als auch auf der Makroebene.
Durch das aufmerksame Beobachten des Kindesverhaltens, kann ein Gutachter, viele weitere wichtige Informationen rund um eine eventuelle KindeswohlgefĂ€hrdung, oder Fragen fĂŒr das Sorgerecht bzw. das Umgangsrecht erhalten. Denn gerade sehr junge Kinder, mit noch geringem Wortschatz â können naturgemĂ€Ă ĂŒber ihre psychische Befindlichkeit, ihren Entwicklungsstand, Konvergenzen und Differenzen (Ăbereinstimmungen und Unterschiede) gegenĂŒber anderer Personen nicht so viele Informationen geben. Und gerade hier liegt dann auch oft die Angst vieler Eltern begrĂŒndet. Sie fragen sich: âWas, wenn der Gutachter zu viel hineininterpretiert?â Das ist doch KaffeesatzlesenâŠâ Diese Sorge kann ich nachvollziehen und möchte an dieser Stelle ein wenig beruhigenâŠ
Eine gute Verhaltensbeschreibung in einem Gutachten, muss zwingend immer strukturiert und nach bestimmten Kriterien / Merkmalen erfolgen. Dr. Andre Jacob (Interaktionsbeobachtung von Eltern und Kind. 2022) schlÀgt folgende 9 sichtbaren Merkmale / Indikatoren vor:
Lass uns mal ein Fallbeispiel zur Verhaltensbeobachtung konstruieren. Nehmen wir hierfĂŒr mal einen dreijĂ€hrigen Jungen in einem ExplorationsgesprĂ€ch:
Lass uns mal wieder wie vorhin ein fiktives Beispiel konstruieren:
Wir haben einen dreijĂ€hrigen Jungen / wir nennen ihn in diesem Beispiel mal Jonas. Jonas lebt aktuell in einer Pflegefamilie, und in dem Gutachten geht in darum, die gerichtliche Frage zu klĂ€ren, ob eine KindeswohlgefĂ€hrdung besteht, wenn er zurĂŒck in den Haushalt seiner leiblichen Mutter kĂ€me. Der Rahmen der Situation mit dem Gutachter ist folgender: Es ist eine Spielsituation mit Jonas wĂ€hrend eines Hausbesuchs bei den Pflegeeltern in seinem Kinderzimmer.
Verhaltensbeschreibung:
Auf die Frage, ob Jonas dem Gutachter sein Zimmer zeigen möchte, reagiert er direkt, indem ein – in Begleitung der Pflegemutter – in den Flur lief, der zu seinem Zimmer fĂŒhrt. Dabei nahm er ihre Hand. Dort, im Kinderzimmer angekommen, lief Jonas spontan auf sein Bett zu und holte sein Kuscheltier, um es dem Gutachter zu zeigen. Die Pflegemutter zog sich dann nach einer kurzen gemeinsamen Spiel-Sequenz zurĂŒck, wodurch eine einzelne Spielsituation zwischen dem Gutachter und Jonas entstand.  Auf die mĂŒndliche Verabschiedung der Pflegemutter, die dann das Kinderzimmer verlieĂ, reagierte Jonas weder mit Worten noch mimisch oder gestisch und zeigte dem Gutachter weiterhin seine BĂŒcher und Spielsachen.
Danach kam es zu einer Spielsituation, an der sich Jonas nach mehrfachem Anbieten von Spielsequenzen aktiv beteiligte. Jonas machte dann mehrere VorschlĂ€ge, was man miteinander spielen könne. Er zeigte dem Gutachter zuerst ein Buch und forderte ihn zum â… Vorlesen!â auf. Dann drehte er sich seinem Spieleladen zu und âverkaufteâ dem Gutachter etwas aus dem âSortimentâ. Immer wieder stand er spontan auf und lief durch sein Zimmer, um weitere Spielsachen zu holen. In seiner Aufmerksamkeit an den Spielinhalten blieb er stets nur ĂŒber kurze Zeitsequenzen aktiv.
Im jeweiligen Spiel zeigte sich Jonas kooperativ, konnte Aufforderungen durch den Gutachter gut umsetzen (z.âB. zeigte er nach Aufforderung auf bestimmte Tiere oder âmalteâ dann ein Bild). Er akzeptierte problemlos Grenzsetzungen durch den Gutachter (z.B. indem er ihn aufforderte, nicht in seiner Tasche zu stöbern, sondern dass sie weiter gemeinsam in dem Buch âlesenâ). Jonas beteiligte sich auch sprachlich aktiv am Spiel. Er kommentierte Spielhandlungen beschreibend und stellte dem Gutachter auch VerstĂ€ndnisfragen zum Spielinhalt (z.âB. â⊠wie geht das jetzt?â).
In seinen sprachlichen ĂuĂerungen verblieb er vorwiegend spielbezogen. Gelegentlich âerzĂ€hlteâ er jedoch aus eigenem Antrieb heraus von seinen Pflegeeltern und den gemeinsamen AktivitĂ€ten (z.âB. von einem Spielplatzbesuch dieser Tage).
Jonas suchte mehrfach Augenkontakt zum Gutachter im Spiel. WĂ€hrend des Ăbergebens von GegenstĂ€nden nahm Jonas Körperkontakt zum Gutachter auf (z.B. indem er dabei in seine HĂ€nde âklatschenâ wollte).
Als schlieĂlich die Pflegemutter das Kinderzimmer wieder betrat, schaute Jonas zu ihr auf und begrĂŒĂte sie sprachlich und auch durch Körperkontakt (Umarmung). âŠ
Zuordnung zu den kindbezogenen Verhaltensindikatoren nach Andre Jacob (2022):
Erinnerst du dich noch an die 9 Kriterien von AndrĂ© Jacob (Interaktionsbeobachtung von Eltern und Kind) um ein Verhalten zu beschreiben? Lass uns diese nochmals hervorholen und dies auf das Beschriebene anwendenâŠ
VorlÀufige) Verhaltensbeurteilung:
Jonas zeigte in allen Beurteilungskategorien Verhaltensweisen, die seinem Lebensalter entsprechen.
Klar und deutlich zeigte sich seine FÀhigkeit zum Beginnen und Aufrechterhalten zwischenmenschlicher Interaktionen mit einer ihm bisher unbekannten Person, wobei er verschiedene Verhaltensweisen flexibel einsetzen konnte (Ergreifen von Initiative, Aufnahme von Augenkontakt, Körpergestik, Folgeverhalten, Lautsignale).
Leicht sichtbar erschien eine gewisse ĂberaktivitĂ€t und eine eingeschrĂ€nkte Aufmerksamkeitsspanne im Spiel [Kleiner Einschub: Sollte der Gutachter solche Informationen benennen, dann mĂŒsste er zur weiteren ErklĂ€rung dieser beschriebenen Verhaltensweisen im weiteren Begutachtungsverlauf Verhaltensproben zu unterschiedlichen Bedingungen und mit unterschiedlichen Interaktionspartnern berĂŒcksichtigen].
Jonas zeigte eine Affektmodulation die seinem Lebensalter entspricht und unterschied hier in angebrachter Weise in seinem Verhalten zwischen ihm bekannten und ihm noch unbekannten Interaktionspartnern (Pflegemutter vs. Gutachter).
NĂ€chstes Video: Die Interaktion zwischen Eltern und Kind
Dieses ĂŒber 1000 seitige Nachschlagewerk fĂŒr Gutachter, Juristen (aber auch Betroffene), Psychologen und Gerichte befasst sich mit allen rechtlichen Vorgaben und Fragen rund um das sachverstĂ€ndige Vorgehen eines Gutachters.
Wie sieht das diagnostische Vorgehen aus? Welche Risiko- und Schutzbedingungen des Kindes sind zu berĂŒcksichtigen? Hier werden verschiedene diagnostische Verfahren vorgestellt und eine Unmenge an Rechtsfragen beantwortet wie z.B. was mit Aufzeichnungen im Gutachten geschieht? Können Emails oder digitale Chats dem Gutachter vorgelegt werden?Â
Was wir hier finden sind Leitlinien fĂŒr den SachverstĂ€ndigen, rund um die QualitĂ€tssicherung, Kosten und VergĂŒtung, das Thema Kindeswohl und wie ein schriftliches / mĂŒndliches Gutachten aufgebaut sein sollte.Â
Nicht von ungefĂ€hr wird dieses Lehrbuch als das Standartlehrbuch zur Familienrechtspsychologie bezeichnet. Psychologische Kompetenz ist ĂŒberall von Vorteil, besonders aber, wenn Familienkonflikte vor Gerichten ausgefochten werden. In diesem Buch werden sowohl rechtliche Grundlagen, besonders aber ihre psychologische Tragweite sichtbar gemacht. Es zeigt, wie die Themen rund um das Kindeswohl, das Sorgerecht, das Umgangsrecht in die Praxis eines Gutachters, des Jugendamtes, einer Verfahrenspflege und nicht zuletzt in der Beratung eingebracht werden können
Was tun, wenn der erste Schmerz der Trennung ĂŒberwunden ist und das Familienpsychologische Gutachten am Horizont aufkommt?
Wie kann man sich Vorbereiten? Was kann ich tun, um die letzten Reste meines Familienkonstrukts noch stabil zu halten? Was kann ich jetzt noch aktuell fĂŒr meine Kinder tun?
Es gibt so viele Bereiche, die wir in einer Psychotherapie ansprechen können: Angefangen vom Umgang mit Borderline oder einer anderen belastenden Störung, aber auch ĂŒber Future Faking, Love Bombing und Gaslighting die immer hĂ€ufiger in unsere Gesellschaft zu beobachten sind.Â
Ich möchte aber nicht nur ĂŒber Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:
Buchen Sie sich einfach auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus