Unsere Welt gerät immer mehr in eine Instabilität und das wirkt sich logischerweise auch auf uns Menschen aus. Angststörungen, Wut und Hoffnungslosigkeit nehmen in unserer Gesellschaft rapide an Fahrt auf.
Erinnert dies dich nicht an die Diagnose Borderline? Chronische Leere, Wut, instabile Affekte, zerbrechliche Beziehungen ect…
Meiner persönlichen Meinung nach versinkt unsere Gesamt-Gesellschaft in ein kollektives Borderline. Siehe hierzu meine Playlist: Playlist: Unsere Welt wird immer “Borderline”
Aber worin liegt der Grund? Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir für alles einen Grund / eine Ursache suchen, um dann nach einer Lösung zu suchen.
Dies ist meines Erachtens auch der richtige Weg. Und darum ist die Frage, ob all dies eventuell durch „schlechte Gene“ verursacht wird, auch nachvollziehbar.
Im April 2000 verkündete Craig Venter – ein US-amerikanischer Biochemiker – dass das menschliche Genom (also die Gesamtheit aller Gene eines vollständigen Chromosomensatzes) nun endlich entschlüsselt sei. Ein Meilensprung in der Forschung! Zehn Jahre lang wurde an der Sequenzierung der 3,2 Milliarden Basenpaare der menschlichen DNA gearbeitet. Endgültig standen dann 2022 alle Informationen zur Verfügung.
Angetrieben durch viele neue Techniken und Forschungsstudien, ging daraufhin dann auch die psychiatrische Forschung der Frage nach, ob genetische Faktoren nicht vielleicht auch die Ursache von psychischen Erkrankungen sein können.
Besonders beim Thema Schizophrenie wollte man endlich mal eine Antwort, da diese recht komplexe psychische Krankheit mit einem Prozent in der Gesamtbevölkerung zum einen extrem stark verbreitetet ist und in ganz bestimmten Familien sogar besonders häufig vorkommt.
Aber trotz der Millionen Dollar für die Forschung und einer über dreißigjährigen Sucharbeit ist es immer noch nicht gelungen, ein genetisches Muster für Schizophrenie oder andere psychische Krankheiten zu finden.
Auch wird immer noch von einem genetisch verursachten Resilienzfaktor für / gegen traumatischen Stress gesprochen. Aber Stand heute ist immer noch nicht erkennbar, dass es irgendwann mal belastbare Beweise für eine genetische Veranlagung von PTBS geben wird.
Aktuell können wir nur sagen, dass es nicht (!) DAS EINE Gen gibt, was hierfür verantwortlich ist. Das, was wir wissen ist, dass viele einzelne Gene – wie auch ein einzelner Musiker in einem Orchester eine bestimmte Melodie – ein bestimmtes Ergebnis erzeugen.
Fakt aber ist, dass unsere Gene gar nicht so unveränderlich sind, wie früher angenommen.
Anfänglich dachte man, dass die „Ureinstellung“ der Gene zum Zeitpunkt unserer Geburt weitestgehend abgeschlossen sei. Dem ist aber nicht so. Im Laufe unseres können durch verschiedene Ereignisse biochemische Botschaften aktiviert werden, die ganz bestimmte Gene ein- oder wieder auch ausschalten.
Dies geschieht, indem sich an der Außenseite des Gens – auf der sogenannten Promoter-Region der DNA – ein Gen-Cluster aus Kohlenstoff- und Sauerstoffatomen / eine Methylgruppe anheftet. Wir nennen diesen Prozess eine DNA-Methylierung.
Dadurch wird das betreffende Gen gewissermaßen wie durch einen Schalter an oder ausgeschaltet bzw. für Botschaften aus dem Körper mehr oder minder empfänglich gemacht. Die Grundstruktur des Gens wird dabei aber nicht verändert!
Interessant ist, dass solche Methylierungsmuster auch an spätere Generationen vererbt werden können – was wir dann als Epigenetik bezeichnen.
Seien wir uns dessen immer bewusst: ein Trauma dringt bis in die tiefsten Strukturen unseres Organismus vor. Es ist buchstäblich eine Verkörperung des Schreckens.
Einer der am häufigsten erwähnte Forscher auf diesem Gebiet der Epigenetik ist wohl Michael Meaney von der McGill University in Montreal /Kanada der viele Jahre an neugeborenen Ratten und ihren Müttern geforscht hatte.
Die Art, wie eine Rattenmutter ihre Jungen in den ersten Stunden nach deren Geburt pflegt, leckt und putzt beeinflusst das gesamte weitere Leben des Jungtieres.
Was für eine Aussage: Eine chemische Reaktion des Gehirns auf körperliche Reize und verändert die Standarteinstellung gegenüber Stress bei über tausend Genen.
Wie sieht der Unterschied in der Praxis aus? Rattenbabys, die intensiv von ihren Müttern behütet und gepflegt wurden, waren deutlich mutiger, erholten sich schneller von Belastungen und produzierten unter Stress wesentlich weniger Stresshormone als diejenigen mit weniger behutsamen Müttern.
Diese jeweilige Gelassenheit oder Furcht bewahrten die einzelnen Ratten dann in ihrem ganzen weiteren Leben.
Als man deren Gehirne später untersuchte, fand man noch ein weiteres wichtiges Detail: In dem Hippocampus der mutigen Ratten – ein Bereich, der wichtig ist fürs Gedächtnis und fürs Lernen – entstanden deutlich dickere Verbindungen. Sie fanden z.B. deutlich schneller aus Labyrinthen wieder heraus als ihre ängstlichen Artgenossen. Dadurch könnten sie sich auch in der Natur viel schneller aus einer schwierigen Lage wieder befreien…
👉 Aber kann man solche Ergebnisse auch auf den Menschen übertragen? Die Forschungen hierzu stecken noch ganz in ihren Anfängen. Aber angefangen hat man schon mal 😊
Moshe Szyf (Genetiker und James-McGill Professor für Pharmakologie) beschreibt in seinem Buch (Grundlagen der Epigenetik) eine Studie in der die epigenetischen Profile von mehreren Hundert Kinder aus Großbritannien verglichen wurden, die aus zwei völlig unterschiedlichen sozialen Schichten kamen: die einen sehr vermögend und die anderen sehr arm.
In dieser Studie ging es um die Folgen von Missbrauch und Misshandlungen bei Kindern. Was war das Ergebnis? Gab es vielleicht einen Unterschied zwischen Arm und Reich?
Die epigenetischen Profile waren tatsächlich sehr Unterschiedlich, je nachdem in welchem sozialen Umfeld ein Kind aufgewachsen ist …
Aber: KEINEN Unterschied gab es bei dem Thema Missbrauch oder Misshandlung! 73 ganz bestimmte Gene waren nämlich in beiden Gruppen gleichermaßen verändert, wenn Kinder traumatisiert waren.
Moshe Szyf sagte dazu: „Durch chemische Stoffe und Gifte kann es immer wieder zu tiefgreifenden Veränderungen in unserem Körper kommen, aber sie sind nicht immer die allein Schuldigen. Oft ist es auch die Art, wie zwischen der sozialen Umgebung und der „fest vernetzten“ eine Kommunikation stattfindet.“ Missbrauch und Misshandlung verändert die Gene (Epigenetik) aller Menschen gleichermaßen, egal ob arm oder reich.
„Bindung ist ein sich über Jahre entwickelndes dynamisches Persönlichkeitskonzept.“ Dieser Gedankenansatz wurde zuerst von John Bowlby (1907 – 1990) dem großen britischen Kinderarzt geäußert. Kann man dies aber auch beweisen? Schauen wir uns mal eine Studie an, die sich nicht nur durch ihre außerordentliche Länge auszeichnet und als wirklich einzigartig beschrieben werden kann:
Über dreißig Jahre lang hat Alan Sroufe – ein US-amerikanischer Entwicklungspsychologe – in den 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Minnesota Longitudinal Study of Risk and Adaptation das Leben von 180 Kindern und ihren Familien studiert.
Schon damals wurde oft darüber diskutiert, ob der Mensch eher durch Vererbung (Temperament) oder Erziehung (nature/nurture) beeinflusst wird. Die Studie sollte nun erstmals eine Antwort auf diese Fragen liefern.
Als die Studie von Alan Sroufe gestartet wurde, war Trauma noch ein Fachbegriff, welcher der breiten Öffentlichkeit noch nicht so geläufig war. Erst im Jahre 1980 wurde der Begriff „Trauma“ – nach langer Diskussion und Forschungen u.a. auch von Bessel van der Kolk – in den DSM-III aufgenommen. Darum lagen Missbrauch oder die körperliche bzw. geistige Vernachlässigung von Kindern anfänglich noch nicht im Fokus dieser Studie – wurden später aber einer der wichtigste Prädiktoren um Vorherzusagen, ob die Untersuchten Kinder im Erwachsenenalter mehr oder weniger Probleme hätten.
Ab ca. drei Monate vor der Geburt und bis ins 30. Lebensjahr wurden die Kinder nun beobachtet und ihre Entwicklung und ihr Leben dokumentiert. Allein bis zur Einschulung gab es 15 einzelne Untersuchungen.
Es ging dabei im Fragen wie:
Was John Bowlby in den 40er Jahren zwar vermutete, aber noch nicht beweisen konnte, wurde von Sroufe und seinen Forschungskollegen nun erstmalig klar dokumentiert: die enge Verbindung zwischen der Qualität der elterlichen Fürsorge und biologischen Faktoren.
Die Studie zeigte klar und deutlich, dass nichts fest vorgegeben ist: Weder die Gene der Mutter noch der IQ aber auch nicht das Temperament des Kindes können mit Gewissheit darüber Auskunft geben, ob ein Kind später – in der Pubertät – Verhaltensauffällig wird oder nicht.
👉 Was aber bewiesen wurde ist: Die Art und Weise der Eltern-Kind-Beziehung ist das zentrale Kriterium!!!
Es geht um das WIE: Dieses „wie Eltern sich selbst“ im Umgang mit ihren Kindern fühlten und wie sie mit ihnen kommunizieren, wie sie sich verständigen und wie sie auf sie einwirken. Letztendlich ist es eine Kombination von weniger resilienten Babys und unflexibler Eltern, was Kinder mit nahezu 100%iger Sicherheit zu verspannten und unsicheren Erwachsenen heranwachsen lässt. Besonders im ersten Lebensjahr, in der Zeit der Introjektion (die zweite der drei Internalisierungsphasen) führt ein unsensibles, aggressives oder aufdringliches Verhalten der Eltern praktisch mit einer traumwandlerischen Zielsicherheit zu Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsproblemen (heute mit ADHS bezeichnet – 6A05 im ICD11).
Ist eine ADHS-Diagnose in jungen Jahren aber immer ein KO-Kriterium für Probleme im Erwachsenenalter? Ist das Kind nun endgültig „in den Brunnen gefallen“? 👉 Ein klares Nein ist die Antwort!
Da Sroufe sich nicht nur auf einen einzelnen Aspekt konzentrierte, sondern immer auch die vielen unterschiedlichen Seiten einer kindlichen Entwicklung betrachtete – mit besonderem Blick auf die Beziehungen zu den Eltern (den i.d.R. Primär-Bezugspersonen), den Lehrern und zu der Peer-Gruppe / den Gleichaltrigen – konnte er feststellen, dass die Umgebung (z.B. Betreuer) nicht nur das Erregungsniveau in Grenzen halten konnten, sondern den Kindern auch helfen konnten, ihre eigene Fähigkeit zur Selbstregulation zu entwickeln.
Kinder, die eine solche Hilfe von außen nicht bekommen, sind permanent Getriebene ihrer eigenen starken Emotionen und bleiben darum auch sehr oft in ihrem Leben völlig unorganisiert. Sie schaffen es i.d.R. nicht, ihre hemmenden und stimulierenden Gehirnsysteme vernünftig aufeinander einzustimmen. Für sie ist jede Erregung eine Gefahr, ihre Kontrolle zu verlieren.
Wer so aufgewachsen ist, leidet in den späteren Jahren in mehr als der Hälfte der untersuchten Probanden unter diagnostizierbaren psychischen Problemen.
👉 Ein klares Muster wird sichtbar:
Die Minnesota Langzeitstudie war das erste Projekt seiner Art, mit dessen Hilfe selbst dem größten Zweifler bewiesen werden konnte, was bereits John Bowlby Jahrzehnte vorher vermutete:
Charakteristisch für sie ist ein lautstarkes „Auf sich Aufmerksam machen“ und eine frustrierte Instabilität selbst bei den kleinsten Außen-Reizen. Das ist das, was im Außen beobachtbar ist. Im Inneren geht der Kampf aber weiter: wegen der permanenten starken Anspannung sind sie dauerhaft in einer „flottierenden Angst“. Und wegen dieser Angst bemühen sie sich auch ständig um die Bestätigung Dritter – der Perfektionismus lässt grüßen. Wie die ACE-Studie in Amerika zeigte, wächst sich dies später auch nicht aus, sondern wird in Verhaltensproblemen in der Schule, Schwierigkeiten im Umgang mit Gleichaltrigen und in einem Mangel an Empathie für das Leid anderer sichtbar.
Spürst du diesen Teufelskreis?
Der Teufelskreis dreht sich aber weiter … Aggressive und laute Kinder sind in ihrer Umgebung nicht besonders beliebt, sie werden oft zurückgewiesen oder abgestraft. Das führt dann zu weiteren Aggressionen und voila … die „antisoziale Persönlichkeit(sstörung)“ tritt in den Vordergrund.
Was können wir nach Betrachtung der Epigenetik und der Minnesota Langzeitstudie mit Gewissheit sagen?
Ob ein Mensch mit dem Leben und seinen Herausforderungen gut oder weniger gut zurechtkommt, lasst sich an einem Kriterium als Prädiktor mit sehr hoher Treffsicherheit voraussagen: Es ist die Stärke der Sicherheit, die diese Kinder in den ersten beiden Lebensjahren im Kontakt mit ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen verspürt hatten.
Ich möchte mich Alan Sroufe anschließen der immer wieder die Ansicht vertrat, dass die Widerstandskraft / bzw. die Resilienz im Erwachsenenalter im gleichen Maße wächst, wie liebenswert Mütter ihre Kinder in diesen ersten beiden Lebensjahren einschätzten.
Wenn ich jemanden nur ein Buch zum Thema Trauma, Einfluss auf unser Gehirn und Therapievarianten empfehlen dürfte, dann wäre es mit Sicherheit dieses herausragende Werk des Trauma-Forschers Bessel van der Kolk. In diesem überragenden Werk werden die Entstehung von Traumatas und die verschiedensten Therapien wie EMDR, Yoga, Self-Leadership, Neurofeedback, Tiefenpsychologie und viele mehr angesprochen.
Verändert ein Trauma unser Gehirn und kann man diese Spuren sichtbar machen? Was ist mit dem Irokesenschnitt im fMRT gemeint? Gibt es Unterschiede zwischen einer PTBS und einer kPTBS also einer Trauma-Entwicklungsstörung? Was können Psychopharmaka und was nicht?
Ein geballtes Wissen aus >40 Jahren komprimiert auf 400 Seiten. Dieses Buch macht Mut in die Zukunft der Trauma-Forschung. Mehr als Wert zu studieren!
Es sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang mit Borderline oder einer anderen belastenden Störung, aber auch über Future Faking, Love Bombing und Gaslighting die immer häufiger in unsere Gesellschaft zu beobachten sind.
Ich möchte aber nicht nur über Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:
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