Aber wie kann man ein Trauma diagnostizieren? Wir können doch nicht einfach den Kopf aufmachen und in die Seele schauen? Ein Trauma kann nicht wie ein Knochenbruch oder eine Infektion nachgewiesen werden. Es sind diese Bilder im Kopf, die in Form von Flashbacks immer wieder hochkommen.
Und genau hier â bei dem Begriff der hochkommenden Bilder â möchte ich dich mit einem Hilfsmittel bekannt machen, welches sich ganz mit der Wirkung von im Inneren hochkommender Bilder auseinandersetzt:
Der geniale Schweizer Psychiater Hermann Rorschach (1884 -1922) wurde 1917 durch die Dissertation des Polen Szymon Hens (dessen Dissertation lautete âPhantasieprĂŒfung mit formlosen Klecksen âŠâ) auf die Pojektionsneigung von uns Menschen aufmerksam.
Eigentlich wollte Rorschach zuerst Kunst studieren, wechselte dann jedoch zum GlĂŒck in die Medizin und die Psychiatrie. Genau wie Hens war er ein SchĂŒler von Eugen Bleuler, dem genialen BegrĂŒnder der âZĂŒricher Schuleâ.
Sein von ihm entwickelter und spĂ€ter auch nach ihm benannter Rotschach-Test besteht aus lediglich zehn Tafeln mit speziellen Tintenklecksmustern. Der Proband wird beim Betrachten einfach gefragt: âWas könnte das sein?â Wichtig: hierbei gibt es keine ârichtigenâ oder âfalschenâ Antworten! Der Therapeut achtet hierbei auf alles: die Bemerkungen, die möglichen Drehungen der Karte aber auch die Ăberlegungsdauer ist hierbei wichtig.
Solch eine Vorgehensweise â mit formlosen Bildern eine Intuition hervorzurufen – ist schon sehr auĂergewöhnlich und auch umstritten, sowohl in seiner Handhabung, aber auch in der Bewertung. Die BefĂŒrworter einerseits schwören darauf, da ihre Patienten völlig frei und ohne Regeln in ihrer Fantasie assoziieren können. Der Test bringt nĂ€mlich selbst kleinste Tendenzen an die OberflĂ€che, die bei einer âFrage-Antwort-Analyseâ oft untergehen wĂŒrden. Er ist ein sehr hilfreicher GesprĂ€chseinstieg gerade bei Kindern, bei Ăngstlichen und / oder sonst wie unzugĂ€nglichen Patienten.
Aber genau das, was als positiv betrachtet wird, gehört andererseits auch zu den Gegenargumenten: Kritiker sagen, dass dieser Test in sich nicht reliabel / nicht nachvollziehbar oder nicht verlĂ€sslich ist, weil man die menschliche Intuition / Fantasie nicht in ein Schema oder Kategorien pressen kannâŠ
Dabei kann ja alles Mögliche herauskommen und muss anschlieĂend noch einmal subjektiv vom Therapeuten interpretiert werden. Dabei muss dieser dann auch noch die Herkunft, die Kultur, die Bildung und weitere HintergrĂŒnde seines Patienten berĂŒcksichtigen. All das ist dermaĂen ausladend / ja fast schon spekulativ, dass eine einheitliche Diagnose durch solch einen Test wohl nie zustande kommen wird.
đ Lass uns aber mal ein wenig in die Praxis einsteigen. Warum ist das Thema Trauma in Kombination mit einem intuitiven Test wie dem Rorschach-Test ĂŒberhaupt so interessant? Weil sich die Psyche durch ein Trauma massiv in der Wahrnehmung verĂ€ndert⊠Und dieser Test zielt genau darauf ab: unsere ganz eigene Wahrnehmung.
Ein berĂŒhmter Satz von Sigmund Freud, den er 1895 ĂŒber Traumata Ă€uĂerte war: âIch glaube, dass diese traumatisierten Menschen unter Erinnerungen leiden.â
Ich selber befasse mich seit Jahren mit den Studien des niederlĂ€ndischen Psychiaters Bessel van der Kolk und des Psychotraumatologen Peter Levine. Van der Kolk z.B. war Professor fĂŒr Psychiatrie an der UniversitĂ€t Boston und hat seit 1978 mehrere Jahre in der Klinik der Veterans Administration (VA / das Kriegsveteranenministerium der USA) mit traumatisierten Kriegsveteranen gearbeitet. In seinen Studien lieĂ er seine Patienten u.a. immer wieder diesen erwĂ€hnten Rorschachtest durchfĂŒhren, um zu beobachten, wie stark jemand in seiner Wahrnehmung verĂ€ndert und traumatisiert ist. Im Gegensatz zu anderen Tests, bei denen analytisch direkte, konkrete Fragen gestellt werden (âwo waren sie / wie haben sie sich gefĂŒhltâ), ist es hier fast unmöglich, etwas vorzugaukeln. Es geht nĂ€mlich um die ganz persönliche, subjektive Wahrnehmung des Einzelnen.
Wenn ein Trauma unsere Wahrnehmung wirklich verĂ€ndert, kann man dies auch ohne teure Gehirnscans beobachten? Ja, denn dieser Rorschach-Test hilft uns simpel und einfach zu erkennen, wie jemand aus einem eigentlich sinnfreien Tintenklecks â ein inneres Bild konstruiert. Wir Menschen unterscheiden uns von anderen Lebewesen besonders in einer Eigenschaft: Wir möchten allem um uns herum irgendwie einen Grund, eine KausalitĂ€t oder eine Bedeutung zuschreiben. Das ist fast schon ein Automatismus, dass man aus Tintenklecksen oder irgendwelchen Fantasiebildern eine Geschichte zu entwickelt. Das machen wir ja auch bei einer Kunstausstellung, im Museum oder wenn wir in den Wolken bestimmte Formen zu erkennen meinen. Was wir in diese Flecken beim Betrachten dann hinein-interpretieren, sagt viel ĂŒber unsere inneren VorgĂ€nge und Wahrnehmungen aus.
đ Ich möchte hier einmal ein Beispiel aus dem Buch âverkörperter Schreckenâ von Bessel van der Kolk zitieren, welches sich aber auch mit meinen Erfahrungen deckt: Van der Kolk schreibt von einem ehemaligen Vietnam-Soldaten, der dort als SanitĂ€ter mehrere Jahre diente. Bei dem Betrachten der Karten rief der Soldat, keuchend mit SchweiĂperlen auf der Stirn und unter groĂem Entsetzen aus: âDas ist ein Kind, was von einer Bombe getroffen wurde. Ich habe es in Vietnam gesehen. Ich sehe dort verkohltes Fleisch und aus seinem ganzen Körper lĂ€uft das Blut raus.â Er fĂŒhlte die gleiche unverĂ€nderte Panik wie beim ersten Erleben der Situation. Solche Flashbacks sind typisch fĂŒr Traumatas ⊠Sie kommen plötzlich, ohne Vorwarnung und in derselben emotionalen IntensitĂ€t, mit den gleichen Bildern, EindrĂŒcken und GerĂŒchen wie zum Zeitpunkt des Ereignisses. Und da ist es völlig egal, ob sich dies gestern oder bereits vor Jahrzehnten ereignet hat.
Wegen der immer gröĂer werdenden Zahl an traumatisierten Menschen mĂŒssen wir nach Lösungen suchen, um solche Flashbacks zu reduzieren und evtl. auch aufzulösen.
Eine Umfrage des Robert-Koch-Instituts im Jahr 2017 ergab das ca. 16% der Befragten traumatische Erlebnisse hatten und wir mĂŒssen davon ausgehen, dass 3 bis 6% der Bevölkerung an einer PTBS leiden.
Ein traumatisches Erlebnis hat, so schlimm und brutal es auch war, immer einen gleichen Ablauf: Es hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Ein Flashback aber ist anders. Er kann wesentlich schlimmer sein als das Trauma selber.
Bessel van der Kolk berichtet von vielen Soldaten, die beim Anblick der Rorschach-Karten schreckliche Erinnerungen an zerfetzte Körper bekamen. Keiner der befragten traumatisierten Soldaten hat in diesen Tintenklecksen so etwas wie tanzende Liebespaare, umherschwirrende Insekten, Personen auf FahrrÀdern oder irgendetwas anderes Friedliches gesehen, wie andere die keine so dramatische Trauma-Vergangenheit haben.
Die Reaktionen von Traumatisierten auf solche âKleckseâ sind sehr unterschiedlich. Und tatsĂ€chlich gibt es sogar eine Steigerungsform, die einem selber Angst einjagen kann. WĂ€hrend die meisten Traumatisierten heftig auf das reagieren, was in ihrem Inneren als Erinnerungsbild hochkommt, gibt es immer eine gewisse Anzahl von Personen, die einfach gar nichts sehen. Ihr einziger Kommentar: âDas ist lediglich ein sinnfreier Farbklecks.â
Das ist zwar auch die RealitĂ€t, aber so reagieren ânormale Menschenâ in der Regel nicht auf diesen Test! Wie bereits beschrieben, versuchen wir automatisch in einem mehrdeutigen Reiz eine ErklĂ€rung durch eine Imagination / eine eigene Interpretation zu finden. Bessel van der Kolk hatte sich viele Jahre mit dieser Thematik befasst und kam dabei zu einem sehr interessanten Gedankengang:
WĂ€hrend nicht Traumatisierte in allem, was sie sehen, eine eigene Interpretation hineinlegen, neigen Traumatisierte dazu, in alles was sie sehen, ihr unverarbeitetes Trauma hinein zu interpretieren. Warum? Weil die Psyche in der permanenten Angst lebt, dass sie wieder in die gleiche ĂŒberwĂ€ltigende Situation gerĂ€t.
Und weil dem so ist, können Traumatisierte das, was um sie herum geschieht, auch nicht vernĂŒnftig interpretieren. Sie sind nicht mehr unbefangen neugierig, sondern aus Angst eher âaltgierigâ⊠Sie fragen sich nicht mehr bei unbekannten Situationen was sie daraus lernen können. FĂŒr sie stellt sich die Frage eher so: âBin ich wieder in der gleichen Situation wie damalsâ? Sie leben praktisch nicht mehr in der Gegenwart um sie mit der Zukunft zu verbinden, sondern sie in der Gegenwart um sie mit der traumatischen Vergangenheit abzugleichen.
Das Traumata hat sich klar auf ihre Imagination und damit ihre Wahrnehmung verĂ€ndert. Sie können nicht mehr spielerisch Dinge neu lernen, da ihre âgeistige Schallplatteâ wie mit einem Sprung (die Ălteren unter uns können sich bestimmt vorstellen, was ich damit meine) immer wieder auf das alte Trauma zurĂŒckspringt.
Fantasie, Vorstellungskraft, Neugierde ⊠all das ist fĂŒr unsere LebensqualitĂ€t von elementarer Bedeutung.
Sind wir mal wieder gefangen im normalen Alltagswahnsinn, dann kann die Fantasie ĂŒber den nĂ€chsten Urlaub, oder ein leckeres Essen, den Sex mit dem Partner uns helfen, der Alltagsroutine zu entkommen, weil uns diese letzte Bastion der Handlungsfreiheit geblieben ist: unsere Gedankenfreiheit. Dies ist ja auch das zentrale Thema der Stoiker â der philosophischen Lehre um das GlĂŒck des Lebens.
Unsere Vorstellungskraft ist der Anfang unserer KreativitĂ€t, schenkt uns das GefĂŒhl von Freiheit (zumindest in den Gedanken) was ja das Gegenteil eines Traumas (der Handlungsohnmacht) ist. Sie stoppt Langeweile und oft auch unseren Liebeskummer und lĂ€sst uns in unseren intimsten Beziehungen aufgehen.
Traumatisierte handeln oft wie Zombies (bitte entschuldige diesen Vergleich) weil sie – wie unter einem höheren Zwang – immer wieder in ihr Trauma aus der Vergangenheit zurĂŒckgezogen werden – in genau den Moment, wo sie in ihren Augen versagt hatten.
Wer aber keine kreative Neugier entwickeln kann, fĂŒr den gibt es einfach keine Hoffnung oder keine Chance mehr, sich eine bessere Zukunft vorzustellen. FĂŒr sie gibt es keine âExit-Strategieâ und schon gar keinen âSafe Roomâ zu dem sie hinlaufen könnten.
So simpel der Rorschach-Test auch sein mag, er zeigt etwas fundamental Wichtiges auf: Traumatisierte nehmen die Welt wirklich völlig anders auf als Nicht-Traumatisierte. Da braucht man keinen kostspieligen Gehirnscanner (siehe die Studien von Ruth Lanius) um dies zu beweisen. 10 simple Tintenkleckskarten reichen hierfĂŒr aus.
Und wie nehmen Traumatisierte Ihre Umgebung nun anders wahr?
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Trauma â diese Handlungsohnmacht gepaart mit Angst – ist ein Thema, mit dem wir uns noch sehr intensiv in unserer Gesellschaft auseinandersetzen mĂŒssen.
Wenn ich jemanden nur ein Buch zum Thema Trauma, Einfluss auf unser Gehirn und Therapievarianten empfehlen dĂŒrfte, dann wĂ€re es mit Sicherheit dieses herausragende Werk des Trauma-Forschers Bessel van der Kolk. In diesem ĂŒberragenden Werk werden die Entstehung von Traumatas und die verschiedensten Therapien wie EMDR, Yoga, Self-Leadership, Neurofeedback, Tiefenpsychologie und viele mehr angesprochen.Â
VerĂ€ndert ein Trauma unser Gehirn und kann man diese Spuren sichtbar machen? Was ist mit dem Irokesenschnitt im fMRT gemeint? Gibt es Unterschiede zwischen einer PTBS und einer kPTBS also einer Trauma-Entwicklungsstörung? Was können Psychopharmaka und was nicht?Â
Ein geballtes Wissen aus >40 Jahren komprimiert auf 400 Seiten. Dieses Buch macht Mut in die Zukunft der Trauma-Forschung. Mehr als Wert zu studieren!Â
Es sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang mit Borderline oder einer anderen belastenden Störung, aber auch ĂŒber Future Faking, Love Bombing und Gaslighting die immer hĂ€ufiger in unsere Gesellschaft zu beobachten sind.Â
Ich möchte aber nicht nur ĂŒber Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:
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