Schriftzug Marcsu Jähn

Borderline – Welche Rolle spielt ein Trauma aus der Kindheit?

Kurz auf den Punkt gebracht: Jede Menge! Vielleicht sind Traumen / Traumatas sogar der (!) Grund für Persönlichkeitsstörungen. 

Bei den Befragungen von Borderline-Patienten wurde von diesen schon immer deutlich auf körperliche, psychische oder sexuelle Traumatisierungen in ihrer Kindheit / Jugend hingewiesen. Bis vor einigen Jahren wurde solchen Aussagen jedoch nur wenig Beachtung geschenkt. Der Zusammenhang zwischen traumatischen Erfahrungen und einer Persönlichkeitsstörung waren in der Vergangenheit noch nicht so deutlich wie es heute ist.
Heute sind die Zahlen jedoch erdrückend deutlich: 

    • 50 bis 80% der interviewten Borderline-Patienten berichten über schwere kindliche Traumen (Hermann, Perry u. van der Kolk 1989) 
    • Bei keiner anderen Persönlichkeitsstörung berichten so viele von sexuellem Missbrauch in der Kindheit wie die Borderliner-Patienten. 

All dies ist Grund genug sich einmal intensiv mit dem Zusammenhang zwischen Borderline und einer kindlichen Traumatisierung auseinander zu setzen. 

Ein Trauma ist eine Handlungsohnmacht in Kombination mit Angst
I. Das kindliche Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt Der Informationsfluss im Gehirn
I. Das kindliche Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt Der Informationsfluss im Gehirn unter Stress

I. Das kindliche Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt

Wenn wir das Thema Trauma in der Kindheit besprechen und zeigen dass sich diese von einem Trauma im Erwachsenen-Alter unterscheiden, dann muss kurz gezeigt werden, WARUM dies so ist. Zum Zeitpunkt der Geburt ist das menschliche Gehirn – im Unterschied zu dem Gehirn fast aller anderen Lebewesen auf der Erde – bei weitem nicht ausgebildet.

Der sogenannte Präfrontale Cortex benötigt noch ca. 18 bis 24 Monate um zumindest größtenteils seinen Aufgaben nachkommen zu können. In diesen ersten beiden Lebensjahren bildet er sich noch und dies tut er auf der Grundlage einer dyadischen Beziehung zur Mutter. Wenn Du etwas tiefer in das Thema einsteigen möchtest so schaue hier meinen Blog an: Die Entwicklungsstufen des Kindes

👉 Wozu dient der präfrontale Cortex überhaupt?
Er ist der Sitz unserer Persönlichkeit und in diesem Bereich werden die unterschiedlichen Prozesse im Gehirn gesteuert. Knapp zusammengefasst: Er ist der “denkende Teil” unseres Gehirns. Der andere Teil ist der “impulsive Teil”. 

Tiere besitzen nur einen sehr kleinen präfrontalen Cortex. Darum können nur die intelligentesten Tierarten  2 bis 3 Handlungen im Voraus planen, z. B. um an eine Nahrung heranzukommen. Wir werden es also nie erleben, dass ein Hund etwas so Komplexes macht, wie einen Urlaub zu planen und anschließend seinen Koffer packt.Kommt jetzt eine Stresssituation  / oder eine traumatisierende Situation, dann stellt der präfrontale Cortex den Betrieb ein.  Im Bild sehen wir auch warum, denn es hat etwas mit dem Informationsfluss in unserem Gehirn zu tun:

Eine Information – z.B. von den Augen – geht normalerweise zum visuellen Cortex. Dann wird sie zum präfrontalen Cortex gesendet, welcher nun die Information bewertet und über die beste Reaktion entscheidet. Danach wird die Entscheidung an den motorischen Cortex gesendet, der unsere Muskeln kontrolliert.

👉 Wie funktioniert dies alles bei Stress? 
Dann wird dieser normale Fluss unterbrochen und stark verkürzt. Der präfrontale Cortex wird übergangen, die Information gelangt sofort vom Sinnessystem zum motorischen Cortex innerhalb des “impulsiven” Gehirns. Dies verkürzt die Reaktionszeit unheimlich! Fliegt uns eine Mücke in Richtung Auge reagiert unser Gehirn ohne den Präfrontalen Cortex in einem Bruchteil der Zeit. Eigentlich ganz toll! dies alles hat aber einen Haken: Dieser wunderbare Mechanismus wurde nicht für chronische Stresssituationen geschaffen, denen die meisten unter uns heutzutage allzu oft ausgesetzt sind. Wenn wir z.B. in einem stundenlagen Stau stehen und es für eine wichtige Besprechung schon zu spät geworden ist, bedarf es keiner Flucht- oder Kampfreaktion, aber trotzdem ist die Stressreaktion aktiviert.Je mehr das Gehirn diesem dauerhaften Stress ausgesetzt ist, desto mehr wird der präfrontale Cortex trainiert, sich dauerhaft abzuschalten. Dies wiederum schadet dem Gehirn.

Jetzt kommen wir wieder zurück zu unserem Kleinkind: Je mehr Stress das Kleinkind mit einem noch unausgebildeten Präfrontalen Cortex ausgebildet ist, um weniger wird der Präfrontale Cortex im Laufe der Jahre gebildet und trainiert. Wie wir im weiteren Verlauf sehen werden hat dies Folgen bis ins Erwachsenen-Alter.

II. Was ist ein Trauma?

Die WHO (die Weltgesundheitsorganisation) gibt seit vielen Jahren eine Klassifikation aller Krankheiten und Krankheitsbegriffe heraus, den sogenannten ICD (Internationale Klassifizierung von Krankheiten). Diesen gibt es seit dem Jahr 1900 und befindet sich aktuell in der 10. Auflage. In diesem finden wir auch die objektive Begriffserklärung eines Traumas.

👉 Ein Trauma ist eine Bedrohung der körperlichen Integrität (Unverletzlichkeit).

Was bedeutet diese Begriffserklärung in Verbindung mit Borderline?
Wenn wir diese als einzige Erklärung nehmen, dann müssen wir sagen: “eine Borderline-Persönlichkeitsstörung ist nur selten eine komplexe Traumafolgestörung.”
Warum? Weil eine Entwicklungstraumatisierung (also viele kleine sich wiederholende Formen von körperlicher, geistiger und sexueller Gewalt) welche besonders häufig an Kindern verübt werden, ausdrücklich NICHT in den Traumakriterien des ICD enthalten sind. 
Dies ist wichtig zu beachten, wenn wir über die Heilung von Traumen bei einer Persönlichkeitsstörung sprechen.  

III. Das kindliche Trauma / das Entwicklungstrauma

Leider erleben viele Kinder in der heutigen Zeit starke Traumen welche auch ein Trauma im Sinne des ICD-10 sind. 

Noch trauriger ist aber der Fakt, dass noch viel mehr Kinder heute Entwicklungstraumen in ihrer Kindheit ausgesetzt sind.

Ein Entwicklungstrauma ist Gewalt welche sich in psychicher, psychicher oder sexueller Form immer wieder wiederholt und sozusagen kumuliert. Darin eingeschlossen sind alle Formen von Gewalt – auch die kleineren – aber auch die Vernachlässigung des Kindes.

Diese Form von Gewalt sollten wir sehr ernst nehmen. Sie zu benennen ist jedoch nicht neu. Bereits in den 1960er Jahren wurde durch die sogenannten “Londoner Schule der Psychoanalyse” auf die Bindungsschädigungen von sich wiederholenden kumulativen Traumen hingewiesen. Besonders Professor Allan Schore möchte ich mit seinen Arbeiten über dieses Thema (Affect regulation and the repair of the selfISBN 0-393-70407-6.)

Was ist das Schlimme an einem Trauma in der Kindheit?

Wir wissen heute, dass das Gehirn eines neugeborenen Kindes zum Zeitpunkt der Geburt kognitiv / sprachlich nur in ganz geringem Umfang ausgebildet ist. Der Bereich des Präfrontalen Cortex muss sich in den ersten ca. 2 Jahren zuerst einmal ausbilden.  Wie reagiert das kleine Gehirn auf äußere Belastungssituationen in dieser ersten Phase des Lebens? Mit Panik und Hilflosigkeit und diese werden dann – wenn sich die Situation immer wieder wiederholt – als neurologische/psychosomatische Reaktion verinnerlicht. 

Es gibt neurophysiologische/-psychologische Erkenntnisse, dass diese “Verinnerlichungen” im Gehirn auf ganz spezielle Weise gespeichert werden. Aus diesem Grund können sie nicht einfach “wieder gut gemacht werden” / oder überschrieben werden durch positive Erfahrungen zu einem späteren Zeitpunkt. Hier muss die Psychotherapie helfend eingreifen. 

Weiter fatal ist: Dies alles – die Panikreaktionen und die Hilflosigkeit – sind  Reaktionsweisen, die es dem Betroffenen in der Kindheit ermöglicht haben, traumatische Lebensumstände auszuhalten.
Wir dürfen diese darum nicht einfach als  „Störungen“ oder „Krankheiten“ bezeichnen oder abtun. Sie 

belegen vielmehr ein besonders hohes Maß an Überlebensfähigkeit! Abseits der traumatisierenden Umstände – also im späteren “normalen” Leben – werden sie jedoch dysfunktional und bringen neues Leid.

IV. Vernachlässigung ist Kindesmisshandlung!

Allein in Deutschland zählten die Jugendämter im Jahr 2018 > 50.000 Fälle von Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung.

In den USA zeigen Studien (Breslau, Kessler et al. 1998) sogar, dass bis zu  5% aller Kinder von Vernachlässigung betroffen sind. Vernachlässigung zählt damit zu der häufigsten Form aller Kindesmisshandlungen. 

Was ist Vernachlässigung?

Unter anderem ist dies eine andauernde “Nicht-Verfügbarkeit” oder eine dauerhafte “emotionale Abwesenheit der wichtigsten Bezugspersonen”. Zum Beispiel tritt dies auf, wenn die Eltern alkohol-, drogenabhängig sind oder selber unter einer psychischen Krankheit leiden. 

Mittlerweile gibt es immer mehr Studien die belegen, dass eine Vernachlässigung in bestimmten vulnerablen (besonders empfindsamen) Entwicklungsphasen zu schweren Folgeschäden führen kann. Man spricht hier von “toxischem Stress” welcher später zu einem Dominoeffekt führt. 

Die Angst vor dem Verlassenwerden ist real bei Babys!

Der Versuch: Es wurden Verhaltensstudien mit gesunden Kleinkindern in einer für sie fremden Umgebung durchgeführt. Die Bezugsperson (Mutter) verließ den Raum und umgehend reagierten die Babys mit starker Angst.

Dies zeigt: Verlassenwerden erzeugt eine real existierende Angst!

Was bedeutet dies für die Entwicklung eines Kindes bei dauerhafter Vernachlässigung? Dies schafft für das Kind eine extrem belastende Situation. Das Kind kann nicht in ausreichendem Maße die dringend benötigte liebevolle Spiegelung des Gegenübers empfangen und ein starkes Ich-Bewusstsein aufbauen. Die fehlende Geborgenheit versetzt das Kleinkind in einen andauernden Spannungszustand.
Die Folge: Kinder die über einen längeren Zeitraum solch mangelhaften Entfaltungs- und Entwicklungsumständen ausgesetzt sind können ihre Affekte nur sehr schlecht regulieren und haben ein desorientiertes Bindungsmuster. 
Da sind wir wieder bei den 9 Kriterien eines Borderliners.  

V. Psychische Gewalt an Kindern

Vergleichbar starke Auswirkungen wie die Vernachlässigung haben 
– Anschreien / Beschimpfen / Demütigen / Entwerten 

Durch diese Handlungen wird dem Kind / dem Jugendlichen vermittelt er sei ungewollt, ungeliebt, wertlos und voller Fehler. Eine Therapieform welche bei Borderliner-Patienten seit Jahren effektiv eingesetzt wird ist die DBT – die dialektisch behaviorale Therapie. In dieser werden solche Behandlungsmuster als “Invalidierung des Kindes” bezeichnet. Solche Kinder sind später als Herangewachsene psychisch “invalide”. 
Vergleichbar mit der Vernachlässigung entsteht zwischen der Bezugsperson und dem Kind durch diese psychische Gewalt eine massive Störung der emotionalen Bindung. Die Auswirkungen der Störung zwischen dem Kleinkund und der “Primär-Bindung” hat Auswirkung auf alle folgenden Bindungen im Erwachsenenalter.!

Typisch sind hier dann eine starke, andauernde Verunsicherung bezüglich des Selbstwertes, der eigenen Meinung und die Unfähigkeit sich abzugrenzen. 
Die Selbstregulation und der Umgang mit äußeren Stressoren ist dauerhaft gestört. 
Wichtig ist: in dieser Zeit des Heranwachsens entstehen dann Störungen in der Persönlichkeit (die Persönlichkeitsstörungen) weil das Verhaltensmuster des kleinen Kindes – was eine Überlebensstrategie war – in das Verhaltensmuster des Erwachsenen übernommen wurde. Hier ist es aber fehl am Platze und führt zu Konflikten in der Umgebung. 

VI. Schwierigkeiten in der Traumatherapie

Die psychotherapeutische Behandlung der Traumen von Borderline-Patienten muss sich einer ganz spezifischen Problematik stellen: 
Wir kennen zwei zentrale Stressbewältigungssysteme beim Menschen:

  1. das Bindungs-Panik-System
  2. das Furcht-Kognitionssystem (Hüther u. Sachsse 2007)

Beide sind beim Borderliner massiv geschädigt – mit welchen Folgen?

  • Ist die Bindungsfähigkeit gestört, dann kann nur schwer eine “Arbeitsbeziehung” zwischen dem Patienten und dem Therapeuten für eine erfolgreiche Therapie hergestellt werden.
  • Ist das Furcht-Kognitionssystem belastet, kann der Patient in stressigen Momenten nicht mehr klar denken. In diesen Augenblicken kommt es bei dem Patienten zu Intrusionen (Trigger), Flashbacks, Überreaktion und Vermeidungsverhalten.

Mit anderen Worten: Einerseits ist es biologisch nicht möglich zu therapieren (also die posttraumatischen Belastungen zu verringern), wenn der Patient in einen regressiven Angstzustand zurückfällt und in seiner Angst wieder erstarrt. Andererseits ist es auch unmöglich diese posttraumatischen Belastungen aus der Kindheit ins Bewusstsein zurück zu bringen OHNE die Regression (das Zurückfallen in die Angststarre) angemessen zu behandeln. Jedoch gibt es neue Behandlungsansätze welche vielversprechend diese Verschränkung der Problematik aufgreifen und angehen. Beispielhaft möchte ich hier die EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing” Methode erwähnen. Die Wirksamkeit solcher Methoden wurde bereits mehrfach nachgewiesen (Sachsse, Vogel, Leichsenring 2006)

Epilog

Traumatisierungen, extreme Formen kindlicher Vernachlässigung und Gewalt sind eng mit der Borderline – Persönlichkeitsstörung verbunden. 

Wenn ein Patient mit einer Borderliner-Persönlichkeitsstörung zusätzlich noch eine komorbide (ein zusätzliches Krankheitsbild) Traumafolgestörung aufweißt, dann kann er von einer psychotherapeutischen Behandlung profitieren, welche gezielt an der Traumafolgesymptomatik ansetzt. 

Wenn Sie mit mir über weitere Themen sprechen möchten und ich Ihnen eine persönliche Hilfe anbieten kann, dann zögern Sie nicht, mich unter dem unten angeführten Kontakt anzusprechen. Ich freue mich auf Sie!

Schau dir hier meine weiteren Videos über Borderline an

Lassen Sie uns miteinander ins Gespräch kommen. 

Marcus Jähn Werde wieder stark durch CoachingEs sind viele Bereiche, die wir ansprechen können: Angefangen vom Umgang Borderline oder einer anderen belastenden Störung, aber auch über Future Faking, Love Bombing und Gaslighting die immer häufiger in unsere Gesellschaft zu beobachten sind. 

  • Was ist das eigentlich, eine Persönlichkeitsstörung, ein Perfektionismus, ein Spaltung oder eine Gegenübertragung?
  • Kann ich trotz Borderline oder Narzissmus eine stabile Partnerschaft aufbauen und damit über Jahre hinweg leben? 
  • Ist eine Kommunikation mit einem Borderliner möglich? Wie hilft hier die U.M.W.E.G.-Methode©? 
  • Kann ich meine Bindungsangst oder Verlustangst irgendwann einmal kontrollieren?
  • Was kann ich tun, wenn ich mich gerade in einer Trennung befinde, oder kurz davor bin?


Ich möchte aber nicht nur über Fragen sprechen, sondern auch praxisgerechte Lösungen anbieten:

  • Eine humorvoll und spielerisch – ja fast tänzerisch – eingesetzte Gewaltfreie Kommunikation in Kombination mit der von mir entwickelten 
  • U.M.W.E.G.-Methode© und nicht zuletzt die Transaktionsanalyse als Sprachkonzept können helfen, auch in schwierigen Situationen noch kühlen Kopf zu bewahren. 

Buchen Sie sich einfach auf meinem Online-Kalender ein Zeitfenster oder nutzen Sie mein klassisches Kontaktformular um mit mir in Verbindung zu treten. Ich freue mich auf Sie. Ihr Marcus

Marcus Jähn Meine Buchempfehlung zu diesem Thema

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Wenn ich jemanden nur ein Buch zum Thema Trauma, Einfluss auf unser Gehirn und Therapievarianten empfehlen dürfte, dann wäre es mit Sicherheit dieses herausragende Werk des Trauma-Forschers Bessel van der Kolk. In diesem überragenden Werk werden die Entstehung von Traumatas und die verschiedensten Therapien wie EMDR, Yoga, Self-Leadership, Neurofeedback, Tiefenpsychologie und viele mehr angesprochen. 

Verändert ein Trauma unser Gehirn und kann man diese Spuren sichtbar machen? Was ist mit dem Irokesenschnitt im fMRT gemeint? Gibt es Unterschiede zwischen einer PTBS und einer kPTBS also einer Trauma-Entwicklungsstörung? Was können Psychopharmaka und was nicht? 

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